Das entflammte Herz - Auf dem tantrischen Weg die Kraft des Herzens entfalten -  Daniel Odier

Das entflammte Herz - Auf dem tantrischen Weg die Kraft des Herzens entfalten (eBook)

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
180 Seiten
Aquamarin Verlag
978-3-96861-156-3 (ISBN)
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Daniel Odier gilt als der beste Kenner der tantrischen Spiritualität im Westen!
Mit diesem Buch führt er noch tiefer in die innerste Essenz des tantrischen Weges ein und offenbart Geheimnisse der östlichen Weisheitslehre, die viele Jahrhunderte lang nur den Eingeweihten vorbehalten waren.
Die einzigartige Kunst Odiers liegt darin, alles Zeit- und Kulturgeschichtliche zur Seite zu räumen und den wesentlichen, innersten Kern einer Tradition freizulegen. So gelingt es ihm stets, seine Leser mit bestechender Klarheit, aber zugleich auch mit radikaler Offenheit, auf das Herz des WEGES aufmerksam zu machen.
Dem tantrischen Weg des „entflammten Herzens“ zu folgen, ist keine oberflächliche Angelegenheit. Dieser Pfad führt in die Konfrontation mit allen Halbwahrheiten und Abhängigkeiten; doch wer ihn mutig beschreitet, wird eine wundervolle Freiheit und wahre Herzensreinheit finden!

Erste Folge (1-16): Die Anweisungen, die die unabhängige Existenz des Selbst betreffen


Die verehrungswürdige Shankari (Shakti), Quelle der Energie, öffnet ihre Augen, und das Universum löst sich in reinem Bewusstsein auf; sie schließt sie, und das Universum zeigt sich in ihr.

Shakti ist eins mit Shiva; die Lehre besteht im freudigen Ausströmen ihrer Einheit. Ob sie sich zeigt oder sich zurückzieht, Shakti entspringt der Abfolge der Zeit. In ihrem Innersten, in der Gestalt von Kali, beseitigt sie den Zeitraum. Das Verhältnis von leidenschaftlicher Verehrung gegenüber der Gottheit oder dem Guru nährt unsere eigene Göttlichkeit und bewirkt, dass wir quer durch den Spiegel dieser Leidenschaft die fundamentale Freiheit entdecken.

Die Augen öffnen sich im Bhairavimudra – zum Inneren hin gewendet und ohne mit der Wimper zu zucken – und die Welt geht wieder in reinem Bewusstsein auf. Sobald sich die Augen schließen, offenbart sich die Welt in uns. Und wenn die Beherrschung dieser Mudra erreicht ist, sind wir die Gottheit, es gibt von jetzt an kein Innen und Außen mehr, nur noch Ganzheit, durchflutet von allgegenwärtigem Bewusstsein. Das nämlich ist das Geheimnis, welches vom Großen Siegel bewahrt wird – dieser Großen Kosmischen Bewegung, der Großen Konfiguration des Kosmos – einer der tausend Namen von Kali lautet: Maha­mudra. Diese Lehre entströmt dem Ozean des Bewusstseins: Das ist das Herz der Yogini. Die physische und mentale Verdichtung verdunkelt die Wahrnehmung unserer angeborenen Natur und lässt Dualität entstehen. Yogi und Yogini erfahren die Nicht-Aufspaltung der Seinszustände, das reine Bewusstsein des „Ich“. Das Bewusstsein funkelt. Man kann einfach nur sagen: Shankari atmet ein oder atmet aus. Die Sinne sind das Rad der Energien, die Freiheit ihrer Ausdrucksformen, die Kreativität des Bewusstseins.

Shiva/Shakti drücken sich durch das Spiel und die Kreativität hindurch im absoluten Bewusstsein aus. Sie haben keine Konzepte für die Schöpfung, die aus ihnen hervorgeht, nicht mehr jedenfalls als ein Musiker eine feste Vorstellung von den Tönen hat, die zunächst seinem Bewusstsein entspringen und dann seinem Instrument wie eine unendliche Welle entströmen. Wenn die menschlichen Wesen in Resonanz gehen, gibt es nur das eine göttliche Bewusstsein: Das Bewusstsein des Musikers und das des Hörers sind unteilbar. Shakti ist die oberste Künstlerin, Yogini und Yogi die höchsten Hörer. Sie ist die Quelle dessen, der lehrt, und der Ort, zu dem die sensorische Wahrnehmung des Hörers zurückkehrt. Das Bewusstsein ist in totaler Ausdehnung, wenn sie ihre Sinne vibrieren lassen – im Erschauern, dem Spanda. So setzt der innere Dialog aus, das Empfinden des Ego stürzt zusammen, die Dualität verschwindet wie die Nebel in den Tälern, sobald die Sonne aufgeht. Und Stille tritt ein.

Das Universum ist ununterbrochene Dichte von Bewusstsein, ausgefüllt vom Selbst.

Dieser erste Vers enthält in seinem Kern die Gesamtheit der Lehre.

 

Savari sang:

Das fließt nirgends, es ist nicht unbeweglich,

es ist weder statisch noch dynamisch,

weder substanzhaft noch abstrakt,

weder greifbar noch leer.

Die Natur eines jeden Dings ist – wie der Raum –

ohne Bewegung.

Man kann es „Raum“ nennen.

Aber es ist ohne jede Essenz,

und ebenso übersteigt es die Definitionen

ob real oder irreal,

existierend oder nicht existierend

oder jede andere Definition.

Es existiert nicht der winzigste Unterschied

zwischen dem Raum, dem Geist und der inneren Realität.

Allein die Bezeichnungen unterscheiden sich

Und alle diese sind künstlich.“9

Eine große Eingebung des kaschmirischen Tantrismus ist es gewesen, die lineare Logik durch die sphärische oder nicht-duale Logik zu ersetzen. In diesem ersten Vers geht es um die Frage der Expansion und der Resorption des Universums, oder mehr noch um die Entfaltung und Rücknahme jedweden Gefühls. Die tantrischen Meister haben die Sphäre in ihr Denksystem eingeführt. Damit kann keine Sache jemals auf eine bestimmte Art definiert werden, genauso wenig wie sie einen Punkt von räumlicher Beständigkeit repräsentieren kann; jeder Punkt bleibt so in Verbindung mit der ganzen Sphäre, innerhalb derer er sich bewegt und ausläuft, um so im Einen aufzugehen. Für einen Tantrika ist ein Gefühl, wie beispielsweise Traurigkeit, ein Vorspiel zur Freude. Der Gedanke, dass die Welt geschaffen worden ist und eines Tages wieder zerstört wird, ist unvorstellbar, denn wir sehen den Prozess Schöpfung/Zerstörung wie einen andauernden Zyklus. Geburt und Tod sind in diesem Zyklus enthalten, und alles kehrt zum absoluten Bewusstsein zurück.

Dieser Text spricht vom Erschauern. Das besondere Kennzeichen dieses Erschauerns ist, dass wir dank seiner in diese sphärenhafte bzw. nicht-duale Logik eindringen. Das erscheint auf den ersten Blick unlogisch, weil es allem widerspricht, was wir lernen. Dennoch, die nicht-duale Sicht ist die einzige Art und Weise, um die Gegensätze, unter denen wir derartig leiden, aufzulösen und zu integrieren. Sobald wir in diese Art von sphärenhaftem Denken eindringen, sind wir in Bewegung – und fortan gibt es kein Halten mehr. Es gibt lediglich Augenblicke, die mehr oder weniger intensiv sind. Wir machen die physische Erfahrung, dass der Körper/Geist die Erfahrung ist. Sobald es uns gelingt, das zyklische Denken zu berühren, lassen wir die für einen Menschen schwierigste Problematik hinter uns, diejenige, zwischen Anfang und Ende einer Sache eingesperrt zu sein. Was uns leiden lässt, ist die Tatsache, dass es bei jedem Prozess immer einen Anfang gibt, gefolgt von einem Augenblick, von dem an dieser Prozess sich seinem Ende zuneigt, um danach von einem anderen abgelöst zu werden. Unserer Auffassung nach ist die von uns wahrgenommene Dualität lediglich ein Zustand der Kontraktion. Sobald die Shakti bzw. die Energie nicht mehr kontrahiert ist, gelangen wir zur Entspannung, und im gleichen Augenblick machen wir die Erfahrung der Nicht-Dualität, denn unser Körper/Denken ist nun nicht mehr begrenzt. Es ist Raum. Unser Körper/Denken wird sphärenhaft, denn in unserem Inneren ist alles enthalten, was auch im Äußeren vorhanden ist. Rein gar nichts mehr wird dann als außerhalb von uns wahrgenommen. Die tantrischen Dichter – Lalla, Utpaladeva oder Abhinavagupta – sprechen vom Einbezogensein des gesamten Universums im Selbst.

Das ganze Spandakarika spricht davon, dass das Erschauern der Zugang zu dieser neuen Weise ist, die Dinge zu sehen und zu empfinden. Das ist kein mentaler Prozess, sondern eine Dynamik, die Körper und Geist direkt beeinflusst. Sobald wir diese Erfahrung von Nicht-Dualität machen, sei es auch nur für wenige Minuten, lösen sich gewisse Blockaden auf. Und selbst wenn sich die Kontraktion von neuem bemerkbar macht, wird die Erfahrung von allem befreit sein, was wir zuvor erlebt haben. Die Vorstellung, dass die Eintrübung eine Kontraktion der Shakti bedeutet, gilt für den Körper, den Geist und für alle seine mentalen Schöpfungen. In den tantrischen Texten wird vermerkt, dass die Dualität ein mentales Produkt darstellt und der Körper bereit wäre, die Nicht-Dualität zu erfassen, wenn die Diktatur des Mentalen uns nicht in dieser Teilung, in dieser Dualität festhalten würde.

Besteht ein derartiger Nachdruck, Körper und Geist miteinander zu verbinden, dann nur deshalb, damit das ganze Sein diese Erfahrung der Nicht-Dualität machen kann. Wenn wir von Nicht-Dualität im tantrischen System sprechen, geht das sicherlich sehr weit, denn wir machen daraus Gegensätzliches zur Dualität. Ziehen wir uns in die Nicht-Dualität zurück wie in etwas Absolutes, liegen wir immer noch falsch, denn die nicht-duale Idee bedeutet, jede Vorstellung zu überschreiten. Man befindet sich dann wieder vor einem sphärischen Universum und nicht mehr in einem Paar gegensätzlicher Konzepte. Wir sind dann weder in der Nicht-Dualität noch in der Dualität, sondern in einem globalen Empfinden, das beides einschließt. Berühren wir diesen Zustand, dann nehmen wir wahr, dass alle Gegensätze mentale Produkte sind und die Vorstellungen von Schöpfung/Zerstörung, Anfang/Ende, Aufstieg/Abstieg sich verflüchtigen, sobald wir in diese Logik eintreten, nicht aufgrund eines mentalen Auffassungsvermögens, sondern durch unmittelbare Erfahrung.

Wenn die Shakti ihre Augen öffnet, wird das Universum zu reinem Bewusstsein; das ist ein wenig konträr zu dem, was man sich vorstellt. Wenn sie sie schließt, ist das Universum in ihr. Für uns ist es dasselbe, denn das Universum befindet sich in jedem Augenblick in uns. Sobald die Kontraktion aufhört, machen wir die Erfahrung, alles zu enthalten. Das ist die einzige Wahrnehmung, die uns zu einer triumphierenden Heiterkeit führen kann. Die mystische Strömung des Mahamudra wird uns zu dieser Integration der Gegensätze hin drängen, ebenso gut durch die subtilsten mentalen Strategien wie durch die Yoga-Übungen. Die Verse des Vijnanabhairava-Tantra sind dazu da, in uns diesen sphärischen Raum zu öffnen und uns in die Erfahrung der vollständigen Ausdehnung hineinzuführen, die zur Präsenz der Shakti wird. Wenn wir von Erwachen sprechen, so ist das nichts anderes als das: Auf mehr oder weniger dauerhafte Weise entdecken wir diese Globalität des Universums, das vollständig im Bewusstsein enthalten ist. Das ist nicht etwa, wie man annehmen könnte, ein unbeweglicher Zustand, sondern ein unendliches Fließen. Es gibt weder Anfang noch Ende. Wenn wir uns vorstellen, ins Innere einer Kugel zu gehen, können wir nicht sagen, wir seien von einem Punkt aus losgegangen und...

Erscheint lt. Verlag 18.8.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Buddhismus
ISBN-10 3-96861-156-X / 396861156X
ISBN-13 978-3-96861-156-3 / 9783968611563
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