Wieviel Mutter braucht ein Kind? (eBook)
336 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86646-2 (ISBN)
Prof. Dr. Lieselotte Ahnert ist eine international renommierte Bindungsforscherin. Seit fast 40 Jahren erforscht sie die intellektuelle und soziale Frühentwicklung von Kindern, und wie sich Betreuungsbedingungen darauf auswirken. In den frühen 1980er-Jahren führte sie bereits in DDR-Krippen Untersuchungen durch, die sie später in den USA und Österreich fortsetzte und die in der Folgezeit die Qualitätsstandards für öffentliche Betreuungsangebote nachhaltig geprägt haben. Lieselotte Ahnert lebt in Berlin.
Babyblues und schwierige Zweisamkeit
Auch wenn eine Geburt gut verlaufen, das Kind gesund, die Mutter glücklich und stressgeschützt ist, kann es nicht selten zu einem Absturz der Glücksgefühle in den sogenannten Babyblues kommen, der auch als »Heultage« bekannt ist. Heulattacken und Stimmungsschwankungen sind jedoch meist schon nach wenigen Tagen vorüber. Sollten die Beschwerden anhalten und sich auch noch verschlimmern, könnte es sich um eine schwerwiegende Depression handeln, die als postpartale Depression (Wochenbettdepression) bekannt ist. Während der Babyblues etwa bei 50 Prozent der Wöchnerinnen vorkommt, entwickelt immerhin noch etwa jede zehnte Wöchnerin eine Depression. Diese beginnt meist schleichend, langsam und unbemerkt und geht mit einer großen Müdigkeit einher. Manchmal sind die Mütter jedoch auch überdreht. Zwangsgedanken, das Kind nicht richtig versorgen oder nicht genug lieben zu können, Gefühle der Überforderung und der eigenen Wertlosigkeit, Reizbarkeit und Konzentrationsstörungen sind typische Symptome, die die Mütter durch den Tag begleiten. Ein auslösendes Moment ist die abrupte Hormonumstellung nach der Entbindung. Viele Frauen leben schon deshalb im psychischen Alarmzustand, wollen nur noch wachsam sein, stets ein Auge auf ihr Baby haben und seinen Bedürfnissen gerecht werden. Möglicherweise hat die Natur den Müttern aus diesem Grund eine erhöhte Sensibilität mitgegeben, die allerdings auch mit einer großen Verletzlichkeit verbunden ist.
Es ist jedoch schon verwunderlich, dass so viele Frauen nach einer Geburt einen Babyblues entwickeln oder gar eine Depression bekommen – egal ob sie ungewollt schwanger wurden oder es ein Wunschkind war; egal ob es sich um das erste oder ein weiteres Kind handelt. Nach Meinung des Ethnomediziners Wulf Schiefenhövel vom Max-Planck-Institut in Andechs, der die Geburtspraktiken der Eipo in Westguinea ausführlich studiert hat, kann es sich dabei nur um eine Fehlentwicklung in unserer Kultur handeln. Frauen, die ein Kind bekommen haben, können nirgendwo auf der Welt Tage in Irritation und Konfusion verbringen. Ihre dringendste Aufgabe sei die Sorge um den Nachwuchs. In der hiesigen Wöchnerinnenpraxis läge vieles im Argen, vor allem aber werde dem mütterlichen Körperkontakt zum Neugeborenen zu wenig Bedeutung beigemessen.
Tatsächlich hatten die ersten Geburtskliniken in den 1970er-Jahren damit begonnen, die Trennung von Mutter und Kind nach der Geburt abzuschaffen. Sie richteten das sogenannte Rooming-in ein, bei dem das Neugeborene im Zimmer der Mutter versorgt wird. Die Mütter konnten so das emotional bewegende Ereignis besser verarbeiten, einem Kind das Leben gegeben zu haben; sie konnten es nun sofort ausgiebig kennenlernen und eine Bindung aufbauen.
Schiefenhövel plädierte sogar für ein Bedding-in, bei dem das Neugeborene mit seiner Mutter für die erste Zeit in einem gemeinsamen Bett schläft. In seinem Münchener Postpartum-Projekt hatten damit nicht nur die Säuglinge eine bestens regulierte Nahrungsaufnahme, Schlaftiefe und körperliche Nähe zu ihren Müttern. Auch berichteten diese Wöchnerinnen über ein weitaus besseres Wohlbefinden. Wöchnerinnen hatten dagegen eine signifikant höhere Babybluesrate, wenn sie zwar im Rooming-in waren, sich jedoch viel mehr Körperkontakt zu ihren Neugeborenen wünschten.7
Leider halten Unsicherheiten in Rechts- und Haftungsfragen viele Kliniken auch noch heute davon ab, ein konsequentes 24-Stunden-Rooming-in anzubieten. Dabei liegt die Verantwortung für das Kind ganz eindeutig bei den Müttern. Dazu kommt, dass im Vergleich zu den regulären zehn Wochenbetttagen in den 1970er-Jahren die Wöchnerinnen heute im Durchschnitt schon nach dem dritten Kliniktag nach Hause entlassen werden. Dies trifft jedoch auf eine äußerst kritische Zeit hormoneller Umstellungen. In dieser Zeit kann eine Wöchnerin unschwer in eine Depression rutschen, wenn sie auf sich allein gestellt und noch nicht sicher ist, wie gut sie für das Neugeborene zu Hause wirklich sorgen kann. Die häusliche Nachbetreuung ist deshalb dringend notwendig, wobei vor allem den Hebammen eine wichtige Rolle zukommt.8
Babyblues und Wochenbettdepressionen können durch weitere Faktoren verstärkt, aber auch abgebaut werden. Probleme in der Schwangerschaft, Konflikte mit dem Partner, ein traumatisches Geburtserlebnis, Stillschwierigkeiten und vieles mehr erhöhen das Risiko, einen Babyblues oder eine Wochenbettdepression zu bekommen.
Die Geburt eines Kindes bringt einschneidende Veränderungen im Leben junger Paare mit sich, und die Unwiderrufbarkeit des Ereignisses ist bisweilen ein Grund für einen krisenhaften Verlauf dieser Umstellung. Auch kann die Verletzlichkeit, so wie sie die Wöchnerinnen nach der Geburt an sich selbst erleben, eine neue und fremde Erfahrung und die Auseinandersetzung damit schwierig sein. Wenn diese Frauen einerseits schnell wieder funktionieren, andererseits aber auch die perfekten Mütter sein möchten, ist es kein Wunder, wenn viele von ihnen erst einmal in ein Loch fallen. Dies scheint vor allem dann zu passieren, wenn die eigenen sozialen Unterstützungssysteme versagen oder schon von vornherein nicht zur Verfügung standen. Empathie und Unterstützung durch den Vater des Kindes und andere Personen haben damit nicht nur eine ausgesprochen positive Auswirkung auf das Zusammenspiel von Mutter und Kind, sie sind eine weitere notwendige Schutzmaßnahme gegen Babyblues und Depressionen.
Pierre Budin, Begründer der Neonatologie und Direktor der Klinik La Charité in Paris, bemerkte als einer der Ersten, dass die Mutter-Kind-Beziehung nach der Geburt auf noch ganz andere Schwierigkeiten stoßen kann, nämlich wenn das Baby zu früh auf die Welt kommt. Nachdem in seiner Klinik die Frühchen mit großen Anstrengungen gerettet und in gutem Zustand nach Hause geschickt wurden, wurden einige der Kleinen wenig später wieder eingeliefert. Die meisten der Babys hatten Gedeihstörungen. Zurückgekehrt zu der normalen Routinepflege in der Klinik nahmen sie wieder an Gewicht zu. Budin zog daraus den Schluss, dass die Mütter das Interesse an ihren Babys nicht entwickeln konnten, weil sie in die Pflege des Kindes nach der Geburt nicht einbezogen worden waren und folglich die Bedürfnisse der Kleinen nicht kannten. Um die Babys vor Ansteckungen zu schützen, wurden auf den Neugeborenenstationen rigide Isolations- und Quarantänepraktiken vor allem für die Frühchen durchgeführt. Noch bis vor nicht allzu langer Zeit wurden sie von ihren Eltern weitgehend abgeschirmt und die Besuchszeiten deutlich eingeschränkt. Paradoxerweise führte erst der Mangel an ausgebildetem Personal und geeigneter Ausstattung in manchen Krankenhäusern der 1950er-Jahre dazu, dass die Mütter nun selbst die Pflege und Versorgung ihrer Neugeborenen besorgen konnten, auch wenn das Kind zu früh geboren war. Die Infektionsraten erhöhten sich dennoch nicht und die Überlebensquote der Babys war ausgezeichnet.9
Wie wichtig der Mutter-Kind-Kontakt für das Gedeihen eines Neugeborenen von Anfang an ist, zeigen auch die Geschichten um die Propagierung des Inkubators (Brutkasten), der schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts für Frühgeborene entwickelt wurde. Dieses Gerät ging als »Kinderbrutanstalt« um die Welt und wurde auf unzähligen Ausstellungen in Europa und den USA gezeigt. Um es in den Ausstellungspavillons möglichst realitätsnah präsentieren zu können, wurden aus den benachbarten Kliniken Frühgeborene angefordert, denen man ohnehin keine Überlebenschancen mehr gab. Die Mütter dieser Babys erhielten zwar freien Eintritt, wurden aber an der Betreuung ihrer Kinder nicht beteiligt. Während der Ausstellungswochen hatten sich einige dieser Babys so gut entwickelt, dass sie den Brutkasten verlassen konnten. Ihre Mütter wollten sie jedoch nicht zu sich nehmen und mussten dazu buchstäblich überredet werden. Ähnliche Störungen des Mutter-Kind-Systems berichten die Kinderärzte Marshall Klaus und John Kennell von der Case Western Reserve University School of Medicine in Ohio/USA aus den 1950er-Jahren. Sie beobachteten auf ihrer Frühgeborenenstation, wie merkwürdig manche Mütter ihre Babys betasteten, nämlich »wie die Hausfrau einen Kuchen, um herauszufinden, ob er fertig sei«.10
Die Anthropologin Sarah Hrdy von der University of California in Davis/USA glaubt, dass in dieser...
Erscheint lt. Verlag | 19.8.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
ISBN-10 | 3-407-86646-1 / 3407866461 |
ISBN-13 | 978-3-407-86646-2 / 9783407866462 |
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