Kapitel Zwei: Wer sind wir und warum sind wir hier?

Ich sehe euch alle als ein vernetztes Geflecht aus Einzelnen, welche die Einheit bilden.

Die Begegnung mit meiner Mutter an jenem Abend in Catherines Wohnung markierte ein tiefgreifendes spirituelles Erwachen, und die ersten Auswirkungen spürte ich sofort. Als ich am nächsten Morgen auf die Thompson Street trat, waren die Farben der Welt intensiver geworden, und obwohl ich von den unterschiedlichsten Gefühlen geradezu überflutet worden war, war mir sehr viel leichter zumute. Lange ging ich durch die vollen Straßen von Manhattan, obwohl ich ja in einem kleinen Dorf aufgewachsen und es nicht gewohnt war, so viele Menschen gleichzeitig um mich zu haben. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Massen, und dabei wurde mir bewusst, dass mein Weltbild auf den Kopf gestellt worden war. Ich hatte in meinem Leben so oft an Priestern gezweifelt, Lehrer hinterfragt, Lehrbücher abgelehnt und meine eigenen ungewöhnlichen Erlebnisse abgetan – doch der Kern des Geschehens war unwiderlegbar. Allmählich spürte ich die Mühlen einer umfassenden Gerechtigkeit im Universum, eine Bewegung, die sehr viel größer war als alles, was ich mir vorstellen konnte; es war nahezu unbegreiflich.

Auf meinem Weg durch die geschäftigen Straßen, in denen es vor Menschen nur so wimmelte, erfüllte mich die Gewissheit, dass jeder ein geistiges Wesen in Menschengestalt ist. Ich war auf vielen Ebenen tief bewegt und staunte, dass ich bisher noch nie gesehen hatte, was nun so offensichtlich schien. Außerdem wurde mir klar, dass die meisten Menschen nicht mehr wissen, wer sie sind oder warum sie hier sind. Es gehört irgendwie zu meiner Lebensaufgabe, ihnen wieder zur Erinnerung daran zu verhelfen – auch wenn ich damals noch nicht wusste, wie ich dies anstellen sollte.

Als ich acht Jahre später hellsichtig beobachtete, wie mein Sohn sich inkarnierte, bestätigte sich für mich die Überzeugung, dass wir alle geistige Wesen sind, die sich vorübergehend auf der Erde manifestieren, endgültig. Mit dem Einsetzen der Wehen hatte ich eine lebhafte äußere Vision von drei Männern, die in ätherischer Gestalt am Fußende meines Bettes standen: Ein großer, dünner junger Mann in Hose und Jacke stand zwischen zwei älteren Männern, die Gewänder trugen. Alle drei waren von einem goldenen Lichtglanz umgeben. Irgendwie wusste ich, dass der junge Mann mein ungeborener Sohn war. In Gedanken hörte ich ihn sagen: „Ich bin nur gekommen, um nachzusehen, ob es dir gutgeht.“ Ich sagte ihm, es ginge mir gut, und ich weiß noch, dass ich dachte: „Oh wie schön, ich bekomme einen umsichtigen Sohn und eine schnelle Geburt.“ Daraufhin verschwanden die drei.

Tatsächlich lag ich mit meiner Deutung jedoch in einer Hinsicht falsch: Die Geburt dauerte sehr lange, und ich ging zweimal ins Krankenhaus. Beim ersten Mal blieb ich einige Stunden dort, bis ich schließlich nach Hause geschickt wurde, um mich einen halben Tag auszuruhen. Beim zweiten Mal erschien mein Sohn auf dem Weg ins Krankenhaus noch einmal in ätherischer Gestalt. Dieses Mal war er allein, und sein Ätherkörper wirkte so klein, dass er im Auto aufrecht stehen konnte. Plötzlich löste sich seine Gestalt vom Kopf und zugleich von den Füßen her auf, bis nur noch ein weißer Lichtstrahl übrigblieb, der in die physische Gestalt des Kindes eintrat, mit dem ich schwanger war. Zwei Stunden später wurde mein Sohn geboren. Da wurde mir klar, dass ich zwar das Gefäß bereitstellte, der Wesenskern meines Sohnes jedoch schon vor der Erschaffung seines Körpers existierte. Er war ein Individuum auf seinem eigenen Lebensweg.

Während ich zusah, wie der Arzt, die Krankenschwestern und mein Mann unseren Sohn auf der Welt willkommen hießen, war ich voller Mitgefühl für alle Menschen, denn wir haben alle die geistige Welt durchschritten, um auf die Erde zu kommen. Es erfordert sehr viel Mut, geboren zu werden, sich aus einer unbegrenzten Welt in einen beschränkten Körper zu begeben. Als Baby sind wir vollkommen davon abhängig, dass andere uns versorgen. Wir müssen lernen, selbst zu essen, eigenständig zu gehen, durch Sprache zu kommunizieren und noch vieles mehr. Der Entwicklungsprozess zum Erwachsenen ist für uns alle eine lange und demütigende Erfahrung, und beim Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenleben werden wir einer Vielzahl verwirrender und widersprüchlicher kultureller Botschaften ausgesetzt, die häufig verschleiern, wie es um unsere Identität und unseren Daseinszweck wirklich bestellt ist.

Geist ist unser Wesenskern

Das Bildungssystem vieler moderner Kulturen leistet der Überzeugung Vorschub, die Identität des Einzelnen werde hauptsächlich durch genetische und umgebungsbedingte Einflüsse geprägt – durch Anlage und Umwelt. Von meinen Geistführern habe ich jedoch gelernt – und aus eigener Erfahrung bestätigt gefunden – dass Identität in Wirklichkeit aus drei Aspekten besteht: Aus dem Geist, der Seele und der Persönlichkeit. Kern unseres Wesens ist der Geist, die Essenz des Lebens, die bewusste und kommunikative Kraft in allen Dingen, selbst in jenen, die wir normalerweise als unbelebt wahrnehmen. Dieser Aspekt unseres Wesens ist unser erleuchtetes Selbst: Immer mitfühlend, immer liebevoll, immer weise und immer schöpferisch. Es ist die einzige Konstante und besteht von einem Leben zum anderen sowie von einer Dimension zur anderen fort. Es ist die unendliche, vernetzte Lebenskraft, die Einheit, die alles durchdringt und sich doch zugleich als Wesenskern jedes einzelnen Wesens manifestiert und die meine Geistführer als den „Geist im Inneren“ bezeichnen.

Der Geist im Inneren ist jeweils der Wesenskern des Einzelnen. Wie bei Schneeflocken gibt es auch bei den Ausdrucksformen des Geistes keine zwei, die miteinander identisch wären. In meinen Kursen verwende ich oft die Analogie zu Licht und Farbe, um den Teilnehmenden die Beziehung zwischen der Einheit und dem Geist im Inneren verständlich zu machen. Weißes Licht besteht aus allen Farben des Spektrums. Sobald das Licht durch ein Prisma gebrochen wird, treten sie einzeln in Erscheinung. Die Einheit, die alles durchdringt und allem seine Kraft gibt, kann man sich als weißes Licht denken. Wenn sich der geistige Wesenskern eines Menschen als individueller Geist ausdrückt, entspricht er einer Schattierung oder Nuance einer bestimmten Farbe dieses unendlichen Spektrums.

Meine Geistführer betonen immer wieder, wie wichtig es ist, dass wir lernen, uns sowohl mit der Einheit als auch mit unserem inneren Geist zu verbinden. Die bewusste Verbindung mit der Einheit ist ein bemerkenswertes Erlebnis, das einen erfüllt mit Ekstase, Glückseligkeit und tiefer Ehrfurcht vor der Macht und der Ordnung des Universums. Meine Geistführer haben mir in den ersten Jahren ihres Unterrichts zwar oft gesagt, dass alles bewusst und vernetzt ist und miteinander kommuniziert, doch was dies wirklich bedeutet, habe ich erst bei einem Wochenend-Workshop begriffen, den ich in den Catskill Mountains gab. Der Workshop lief sehr gut; im Konferenzraum herrschte eine Atmosphäre der Zufriedenheit und Freude, und unsere Gruppenmeditationen waren tief und befriedigend. In der Mittagspause ging ich ins Freie, hinein in einen schönen Oktobertag, und entdeckte zu meiner Verblüffung strahlendes Licht um jeden Stein und jedes Blatt. Rings um mich herum hörte ich symphonische Chor-Musik. Alles in der Natur sang: „Ich bin lebendig! Ich bin lebendig!“

Schließlich fand ich zur Cafeteria und ging dort auf die Toilette. Beim Blick in den Spiegel erkannte ich tiefer denn je, dass ich Geist bin. Im Spiegel umgab mich Licht, und beim Blick auf mein Abbild wusste ich, dass ich viel mehr bin als Gehirn und Körper. In diesem Moment spürte ich durch und durch, dass ich Teil der Einheit bin, und die Unermesslichkeit dieses Empfindens drang mir auf eine Art und Weise zu Bewusstsein, die alles intellektuelle Begreifen bei Weitem überstieg.

Versunken in dieser Einheitserfahrung, war mir zugleich klar, dass ich bloß Ellen bin. Dies war eine weitere Offenbarung: Ich konnte spüren, welche Kraft und Reinheit darin liegt, in einem unendlichen vernetzten Ganzen mitzufließen und mich doch zugleich als kleines Individuum zu erkennen. Plötzlich kam es mir ganz leicht vor, mich selbst zu lieben. Und mir wurde klar: Wenn wir uns erst einmal wirklich als Geist wahrzunehmen vermögen, dann können wir auch sehen, dass wir mehr sind als unsere Fehler oder Erfolge. Auf dieser innersten Ebene sind wir alle großartig.

Der Geist umfasst eine große Bandbreite an Eigenschaften – darunter Liebe, Weisheit, Hingabe, Ordnung, Kreativität und Neugier. Ganz wie es mir beigebracht wurde, bezeichne ich sie als geistige Prinzipien. Laut meinen Geistführern sind geistige Prinzipien jederzeit anwendbar und immer angemessen. Wir können nicht zu sehr im Gleichgewicht sein, zu viel Klarheit oder Mitgefühl haben.

Zugleich bildet unser Geist im Inneren eigene Schwerpunkte aus, die ich mir oft als unser jeweiliges Instrument im Orchester des Lebens vorstelle. Ein solcher Schwerpunkt kann Güte oder Kreativität sein; Weisheit oder Liebe. Manchmal ist er ziemlich differenziert, wie die verschiedenen Geschmacksnoten bei Speiseeis. Deshalb verwende ich häufig folgende Analogie: Manche Menschen sind Vanille pur, andere hingegen Vanille mit Schokoladen- oder Erdbeerstreifen. Den Kombinationsmöglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt.

So arbeite ich zum Beispiel mit vielen Menschen, deren Schwerpunkt auf der Kreativität liegt; doch in Gestalt welcher Interessen und Begabungen sich ihre Kreativität ausdrückt, darin zeigen sich feine Unterschiede. Neigt der eine Mensch schwerpunktmäßig in Richtung Klang und drückt sich dies vielleicht als Begabung zum Spielen oder...