Vögel im Kopf -  Bernd Gomeringer,  Jessica Sänger,  Ulrike Sünkel

Vögel im Kopf (eBook)

Geschichten aus dem Leben seelisch erkrankter Jugendlicher
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
280 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-2899-8 (ISBN)
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Wie lebt es sich mit einer Depression, mit Angst- und Panikattacken, mit Ess-, Brech- oder Magersucht? Mit Suizidgedanken? Mit Zwangshandlungen? Und wie erleben das Eltern, Geschwister, Freunde, Lehrer und Betreuer? Ein anrührend-bewegendes Buch über das Leben mit einer seelischen Erkrankung, über den Alltag in der Kinder- und Jugendpsychiatrie - und über die Kraft der Hoffnung und Zuversicht. Ein Aufklärungsbuch. Ein Buch, das Mut macht.

Bernd Gomeringer ist ehemaliger Banker, arbeitet seit 30 Jahren mit Kindern und Jugendlichen und schafft es immer wieder, beide Bereiche miteinander zu verbinden.

Magersucht im Kinderzimmer


Die Zeit, in der meine Schwester ganz langsam begann, stiller und dünner zu werden, fiel in unsere Sommerferien in Griechenland. Diese jährliche Reise zum Haus meiner Tante auf der Halbinsel Peloponnes ist ein wichtiger Teil unserer Kindheit und Jugend, geprägt von Traditionen wie einem täglichen Schoko-Shake in der Strandbar und einer Zitronenlimonade zu jedem Abendessen. Es war das Jahr, in dem wir zum letzten Mal in unseren gemeinsamen Sommerurlaub fuhren. Das Jahr, in dem eine Tradition, die seit unserer Geburt angehalten hatte, durch die Krankheit meiner Schwester jäh unterbrochen wurde.

Statt Schoko-Eis vom Kiosk zu essen wurden Kalorien gezählt, das stundenlange Faulenzen auf der Luftmatratze durch Bahnenschwimmen ersetzt. Jede Wanderung zu antiken Tempeln glich plötzlich einem Fitnesscamp. Ich war die Erste, die Gretas Veränderung bemerkte, denn ich kannte meine Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie sehr mit sich selbst und ihrem Körper haderte. Bereits einige Wochen vor der Reise stellte ich fest, dass sie ihr Pausenbrot nicht mehr aß und bei den Süßigkeiten nach dem Mittagessen keine mehr nahm. Später sagte Greta, sie hätte sich auf Griechenland gefreut, da sie die Hoffnung gehabt hätte, dass dort alles wieder normal werden könnte. Dass ihre Gedanken aufhören könnten, ums Essen zu kreisen, und sie sich nicht länger zu dick und zu schlecht fühlen würde. Ihre Hoffnungen blieben unerfüllt. Eines Abends, schon im Bett liegend, vertraute sich Greta beim Gute-Nacht-Sagen unserer Mutter an. Von da an, meint meine Mutter heute, sei sie nicht mehr dieselbe gewesen. Schlaflos lag sie seit jener Nacht wach, unfähig, die Angst um ihre jüngere Tochter zu verdrängen.

Wir stritten viel während dieser Ferien, und fortan jeden Tag: über Essen und wie viel davon, über dünne Arme, über exzessiven Sport. Am liebsten hätte ich meine Schwester geschüttelt. Sie daran erinnert, wie verächtlich wir immer über das Bestreben gelächelt hatten, einem albernen Schönheitsideal zu entsprechen. Ich nannte sie mädchenhaft, damals die schlimmste Beleidigung zwischen uns. Sie ignorierte es und aß wieder keinen Nachtisch. Ich schlug vor, sie könne nun bei Germany’s Next Topmodel mitmachen, und sie hörte gänzlich auf mit mir zu sprechen. Greta war nicht zu erreichen. Lediglich unserer Mutter gegenüber öffnete sie sich. Das tat sie flüsternd und hinter verschlossenen Türen, was zu neuen Konflikten führte. Die Familie spaltete sich langsam. Es gab Mama, Gretas Verbündete, die sie vor den verständnislosen Kommentaren der restlichen Familie schützte und sie in Watte packte, um nicht auch noch den Zugang zu ihr zu verlieren. Ich stand auf der anderen Seite, ausgeschlossen von ihren Tuscheleien in der Küche, und kompensierte dieses Gefühl der Ausgrenzung mit Provokation und Sticheleien gegenüber meiner Schwester. Der Freund meiner Mutter, der sonst viel Zeit mit uns verbracht hatte, blieb nun lieber in seiner eigenen Wohnung, da er die endlosen Streitereien nicht ertrug. Mein Vater und seine neue Frau waren zunächst durch die separate Wohnsituation weniger involviert. Doch unsere Besuche bei ihnen wurden unregelmäßiger. Wenn wir dann doch mal zum Abendessen kamen, versuchten sie, die Situation so normal wie möglich aussehen zu lassen. Irgendwie schienen sie nicht ganz verstehen zu wollen, was Magersucht genau bedeutet. Dass es nicht möglich ist, einfach wieder anzufangen zu essen; dass damit auch nicht alle Probleme verschwinden. »Aber die hast du doch früher immer am liebsten gegessen?«, staunte mein Vater auch als Greta schon strichdünn war noch immer, wenn sie nicht mit der für sie gekauften Fleischwurst ihr Brot belegte.

Vor Gretas Erkrankung war mir nie aufgefallen, wie viele unserer familiären Traditionen und Gewohnheiten sich um Essen drehten. Die gemeinsamen Abendessen waren nicht mehr möglich, es gab keinen Toast Hawaii mehr am Freitagabend und keinen Schoko-Adventskalender am ersten Dezember. Zu Anfang versuchten wir noch, an den gemeinsamen Familienessen festzuhalten. Doch immer öfter versuchte meine Schwester darauf Einfluss zu nehmen, welche Gerichte gekocht und wie viel Öl, Salz und Sahne verwendet werden durften. Greta wurde gestattet, lediglich Beilagen zu essen. Hauptsache, man saß zusammen am Tisch und konnte überprüfen, ob sie überhaupt etwas aß. Danach begann sie für sich zu kochen. Trotzdem nahmen wir die Mahlzeiten gemeinsam ein. Ich ließ keinen ihrer Bissen unkommentiert. Mein Adlerblick ruhte auf ihrem Teller; ich lachte und provozierte, stichelte und brachte meine Schwester zum Weinen. Mama akzeptierte Gretas komische Macken einfach stillschweigend und verdammte mich dafür, dass ich nicht dasselbe tat. Heute verstehe ich selbst auch nicht mehr genau, warum ich das nicht konnte. Unser eigenes Essen war eigentlich gar nicht betroffen, wie Greta jahrelang argumentiert hatte. Aber so einfach war es nicht. Das krankhafte Verhalten meiner Schwester löste bei uns zu Hause eine aggressive, hoch sensible Anspannung aus, die niemand ignorieren, der niemand entkommen konnte. Irgendwann aßen wir getrennt. Greta kochte für sich und ging zum Essen in ihr Zimmer. Mama und ich löffelten wortlos unser Mittagessen; keiner konnte normal von der Schule erzählen oder lachen. Immer schwebte der Gedanke im Raum, dass ein Teil unserer Familie alleine nebenan saß.

Ich kann mich nicht mehr an jeden einzelnen Tag erinnern. Es kann nicht jeder gleich schlecht gewesen sein, es muss auch fröhliche Tage gegeben haben. Aber was allgegenwärtig blieb, war ein latentes Gefühl der Verzweiflung. Greta schottete sich mehr und mehr ab; sie verschwieg ihr Gewicht oder was sie in ihrer Therapie besprach. Als keiner mehr Rat wusste, wurde die Frage der Schuld in den Raum geworfen. Wir fielen mit Vorwürfen übereinander her: »Hättest du Greta nicht ständig provoziert, dann wäre heute nicht alles so schlimm …«, beschuldigte mich meine Mutter am Mittagstisch, wenn Greta nach einem Streit mal wieder aufstand und mit Teller und Topf hinter ihrer Tür verschwand. Gleichzeitig ließ jedoch meine Eltern die heimliche Angst nicht los, dass Gretas Magersucht eine Reaktion auf ihre Trennung sein könnte und damit sie selbst die Schuld am Zustand ihrer Tochter hatten. Ich warf meiner Schwester vor, unsere Familie zerstört zu haben. Doch in Wirklichkeit, das weiß ich heute, sprach aus uns allen einfach die Hilflosigkeit. Das macht kein hasserfülltes Wort unausgesprochen, aber immerhin verständlich.

Greta entwickelte fortlaufend neue Störungen. Sie aß nur noch, wenn sie unbeobachtet war, zerkleinerte die Mahlzeiten mit den Händen, bis jede Brotscheibe nur noch aus Fetzen bestand, lehnte den ganzen Tag an der Heizung, anstatt sich zum Fernsehen zu uns auf das Sofa zu setzen, und rannte täglich stundenlang durch den Wald, um genügend Bewegung zu bekommen. Oft schämte ich mich, Freundinnen zu mir nach Hause einzuladen, weil meine Schwester sich so seltsam verhielt. Der Weg durchs Dorf wurde zum Spießrutenlauf. Es hagelte neugierige Fragen, gestellt von Hausfrauen, die beim Frauenfrühstück über das Schicksal meiner Familie tratschten. Meine Mutter ging kaum mehr aus; sie traute sich nicht zum wöchentlichen Stammtisch der Lehrerschaft, aus Angst vor mitleidigen Blicken und weil sie befürchtete, Greta und ich könnten uns in den drei Stunden ihrer Abwesenheit die Köpfe einschlagen.

Ein Jahr verging, und es wurde wieder Sommer. Wir verbrachten die Ferien zum ersten Mal nicht mehr gemeinsam. Ich flog mit Freunden auf eine Freizeit nach Marokko. Greta sollte ebenfalls mitkommen, konnte jedoch nicht mehr. Braungebrannt, aber nun ebenfalls mit dünnen Beinchen als erste Anzeichen einer eigenen Magersucht, kehrte ich nach dem Urlaub zurück, um bei meiner Ankunft zu erfahren, dass Greta einen Platz in einer Klinik erhalten hatte. Bereits ab der folgenden Woche. Wie lange, war unklar. Bei ihrer Verabschiedung am ersten Schultag weinte ich hysterisch. Wir standen gemeinsam im Flur und ich umarmte Greta ein letztes und gleichzeitig erstes Mal seit langem. Meine Mutter nannte mich heuchlerisch; nie hätte ich mich um den Zustand meiner Schwester geschert, und nun diese Tränen. Doch ich war tatsächlich verzweifelt. Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Krankheit wurde mir der Ernst von Gretas Lage tatsächlich bewusst und erfüllte mich mit Angst und Selbstvorwürfen. So verschwand meine starke Schwester, die immer auf die höchsten Bäume geklettert war und Jungs bei Mutproben die Stirn geboten hatte, am ersten Schultag nach den Sommerferien als blasser Schatten ihrer selbst für ein Jahr in dem Gebäude mit den gelben Fenstern in Tübingen.

Nun waren meine Mutter und ich nur noch zu zweit. Besser wurde dadurch nichts. Der ständige Streit ums Essen wurde fortgesetzt. Der ganze Kreislauf begann von Neuem, diesmal mit mir: Kalorienzählen, Therapiebesuche, wöchentliche Antritte zum Wiegen beim Hausarzt und Speisepläne von der Ernährungsberaterin.

An einem sonnigen Wintersonntag endete Gretas anfängliche Besuchssperre. Die Besuchszeiten waren kurz und penibel geplant, bereits morgens am Frühstückstisch mahnte meine Mutter hektisch zur pünktlichen Abfahrt. Wenn Greta »Ausgang« hatte, wollte sie laufen. Wir verabredeten uns zu einem Spaziergang durch das verschneite Tübingen. Die Kälte ließ meine Schwester und mich zittern in unseren viel zu weiten Hosen. Mit blauen Lippen tauschten wir kurz angebunden Nebensächlichkeiten aus und verglichen dabei aus den Augenwinkeln, bei wem die Ellenbogenkochen deutlicher hervorstachen. Später fragte Greta unsere Mutter, was mit mir los sei. Ob es mir schlecht gehe? Ob ich nun auch nicht mehr essen würde? Mama beunruhigte ihre Reaktion.

Am darauffolgenden Sonntag zwang sie mich, eine dicke Wollstrumpfhose unter...

Erscheint lt. Verlag 7.10.2020
Zusatzinfo 2 schw.-w. Zeichn.
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Schlagworte Psychiatrie • Psychische Krankheit • Psychologie
ISBN-10 3-7776-2899-9 / 3777628999
ISBN-13 978-3-7776-2899-8 / 9783777628998
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