Der Mensch nach dem Menschen (eBook)
350 Seiten
Aquamarin Verlag
978-3-96861-082-5 (ISBN)
„Wir gehen aus von der Idee, dass sich die Menschheit auf einen großen Wandel ihres Lebens hinbewegt, der sogar zu einem neuen Leben der Spezies führen wird. In allen Ländern, wo denkende Menschen leben, besteht diese Idee und diese Hoffnung jetzt in verschiedenen Formen, und unser Ziel ist es gewesen, nach der spirituellen, religiösen und sonstigen Wahrheit zu suchen, welche die Spezies in dieser Bewegung und diesem Unterfangen aufklären und leiten kann.“… „So wie der Mensch aus dem Tier hervorgegangen ist, so wird aus dem Menschen das supramentale Wesen [superman] hervorgehen“, sagte Sri Aurobindo. Der Mensch hinter dem Menschen zeigt das Unterfangen Sri Aurobindos und Mutters, in Theorie und eigener Lebenspraxis die nötigen Vorbedingungen für das angekündigte Erscheinen dieses Wesens zu schaffen. Nach dem Übergang Sri Aurobindos im Jahr 1950 setzte Mirra Alfassa, Mutter genannt, seinen Weg fort. Am 29. Februar 1956 erfolgte als Resultat ihrer Bemühungen die Herabkunft des Supramentals, wodurch die spirituelle Evolution der Erde eine unerhörte Beschleunigung erhielt. Acht Jahre nach dem Abschied Sri Aurobindos zog sich Mutter im Alter von 72 Jahren zurück, um sich ganz ihrem „Yoga der Zellen“ zu widmen. Das Ziel war eine Transformation des Körpers, wodurch ein ganz neues Wesen entstehen sollte, nicht mehr unter der Herrschaft des rationalen Mentals, sondern geprägt und erfüllt von der Energie und dem Licht des Wahrheits-Bewusstseins. Auf ihrem Weg sah Mutter, dass der menschheitliche Weg zu diesem neuen Wesen hin viele Zwischenstufen mit sich bringen würde. In diesem Buch schält der Autor, Georges Van Vrekhem, die Bedeutung dieser Zwischenstufen heraus, die schließlich zum supramentalen Wesen führen werden.
1.
Eine Begegnung im schläfrigen Pondicherry
Und Deine Herrschaft soll tatsächlich auf Erden begründet werden 1
– Mutter
Am 29. März 1914, ungefähr um 3 Uhr nachmittags, ging eine französische Dame in Pondicherry vom Hôtel d’Europe in der Rue Suffren zur Rue François Martin 41. Es handelte sich um Madame Mirra Richard, und sie war mit ihrem Ehemann, Paul, eben an diesem Morgen im schläfrigen Kolonialhafen eingetroffen. Die Richards waren drei Wochen zuvor in Marseille an Bord des japanischen Schiffes Kagu Maru gestiegen, waren dann durch den Suezkanal hinauf nach Colombo geschifft, hatten die Palkstraße überquert, das Postschiff in Danushkodi bestiegen, um schließlich sicher an ihrem exotischen Bestimmungsort anzukommen.
Paul Richard war Philosoph und Politiker. Vor vier Jahren war er zum ersten Mal nach Pondicherry gekommen, um einen lokalen Kandidaten während der Wahlen für das Abgeordnetenhaus in Paris zu unterstützen. In seiner Eigenschaft als französisches Territorium hatte Pondicherry Anrecht auf zwei politische Vertreter. Richard interessierte sich jedoch auch sehr für Okkultismus und Religion, und sein Hauptgrund für die Reise zur südindischen Stadt mag wohl der gewesen sein, einem echten indischen Yogi zu begegnen. Darin hatte er außerordentliches Glück, denn Sri Aurobindo, der bekannte indische Freiheitskämpfer, der sich zum Yogi gewandelt hatte, war auf der Suche nach einem Zufluchtsort vor der britischen Behörde, die ihn, „den gefährlichsten Mann in Indien“, um jeden Preis verhaften wollte, eben in Pondicherry eingetroffen. Richard war von Aurobindo Ghose tief beeindruckt gewesen und hatte seiner Frau von ihm erzählt. Der Grund, warum sie Richard bei seinem zweiten Besuch nach Pondicherry begleitete, mag der gewesen sein, dass er ihr ermöglichen würde, Aurobindo Ghose zu treffen. Richards Ziel war es, sich als Vertreter von Pondicherry wählen zu lassen, aber dieses Vorhaben sollte nicht von Erfolg gekrönt sein.
Es wäre eine Übertreibung zu sagen, dass Mirra diese Reise mit Begeisterung angetreten hätte. Am 3. März 1914 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Wie der Tag der Abreise näherrückt, trete ich in eine Art von andächtiger Sammlung; ich wende mich mit zärtlichem Ernst all diesen tausend Kleinigkeiten zu, die uns umgeben und die so viele Jahre still ihre Rolle als treue Freunde gespielt haben; ich danke ihnen voll Erkenntlichkeit für all den Zauber, den sie im Äußeren unserem Leben zu schenken vermocht haben. … Dann wende ich mich der Zukunft zu, und mein Blick wird noch ernster. Was sie für uns bereithält, weiß ich nicht, und begehre ich nicht zu wissen.“ 2 Nach seinem ersten Besuch in Pondicherry hatte Paul Richard ein Foto von Aurobindo Ghose zurückgebracht, und sie hatte, ungeachtet ihrer fortgeschrittenen okkulten Fähigkeiten, nur den Politiker in ihm gesehen.
Aus diesem Grunde, während sie die Meile oder so vom Hotel zu dem Haus zurücklegte, wo Ghose mit einigen Gefährten – alles bengalische Revolutionäre – wohnte, hatte Madame Richard wahrscheinlich gemischte Erwartungen. Paul hatte sich am Morgen, unmittelbar nach ihrer Ankunft, bereits aufgemacht, um Aurobindo Ghose zu begrüßen; beim Anlass ihres ersten Treffens mit dem unbekannten Inder wollte Mirra ihn allein sehen. Obwohl sie nichts erwartete, hatte sie trotzdem alles vorbereitet – wie wir von ihren späteren Gesprächen wissen – und mag einige ihrer sorgfältig erwogenen Fragen hin und her gewälzt haben.
Und so stand sie dann dort, am Fuß der Treppe, die zur ersten Etage hinaufführte, wo Aurobindo Ghose wohnte – und dort stand er, oben an der Treppe: „Exakt meine Vision! Gleich gekleidet, in derselben Haltung, im Profil, hoch erhobenen Hauptes. Er wendete mir sein Antlitz zu … und ich sah in seinen Augen, dass Er es war.“ 3 Viele Jahre lang war Mirra in ihren Träumen von mehreren Meistern besucht und geführt worden – einen davon nannte sie Krishna. Dieser „Krishna“ erschien ihr immer in einem Kleid, das sie, die sie das indische Dhoti nicht kannte, nicht identifizieren konnte, und von welchem sie deshalb dachte, es sei „eine in Visionen getragene Kleidung“. Jetzt stand er vor ihr in Fleisch und Blut, auf Erden verkörpert: Aurobindo Ghose.
Der Bedeutung des Moments war sie sich unmittelbar gewahr, und am nächsten Tag lesen wir in ihrem Tagebuch: „Es bedeutet wenig, dass noch Tausende in dichtestem Unwissen versunken sind – Er, den wir gestern gesehen haben, ist auf Erden; seine Gegenwart ist Beweis genug, dass ein Tag kommt, wo das Dunkel in Licht verwandelt und Dein Reich auf Erden tatsächlich begründet wird.“ 4 [„Du“ und „Dein“ beziehen sich auf den Herrn, das Göttliche, an das die Tagebucheinträge gerichtet sind.] Eine Nacht war verstrichen zwischen dem Treffen und dem Eintrag in ihrem Tagebuch, und die Dinge wurden nun in einer bestimmten Perspektive gesehen: „In der Gegenwart jener, die vollumfänglich Deine Diener sind, jener, die das vollkommene Bewusstsein Deiner Gegenwart erreicht haben [in diesem Fall Sri Aurobindo], wird mir bewusst, dass ich immer noch weit, sehr weit von dem entfernt bin, was ich mich zu verwirklichen sehne; und ich weiß, dass das Höchste, das ich mir vorstellen kann, das Edelste und Reinste, immer noch dunkel und unwissend ist neben dem, was ich erfassen sollte. Aber diese Wahrnehmung, weit davon entfernt, mich niederzudrücken, stimuliert und stärkt die Aspiration, die Energie und den Willen, über die Schwierigkeiten zu triumphieren, um endlich mit Deinem Gesetz und Deinem Werk identifiziert zu sein.“ 5
Die Bedeutung der Begegnung wird auch deutlich aus den folgenden Einträgen in ihrem Tagebuch. 1. April 1914: „Es scheint mir, dass wir das Innerste Deines Heiligtums betreten haben und dass wir Deines eigensten Willens gewahr geworden sind. Eine große Freude, ein tiefer Frieden herrschen in mir, und doch haben sich all meine inneren [mentalen] Konstruktionen wie ein eitler Traum in Luft aufgelöst, und ich finde mich jetzt vor Deiner Unermesslichkeit, ohne Rahmen oder System, wie ein noch nicht individualisiertes Wesen. Die ganze Vergangenheit in ihren äußeren Formen erscheint mir lächerlich willkürlich, und doch weiß ich um ihre Nützlichkeit zu ihrer eigenen Zeit. Aber nun ist alles verändert: Ein neues Stadium hat begonnen.“ 6 3. April: Es scheint mir, dass ich in ein neues Leben geboren werde und alle Methoden, alle Gewohnheiten der Vergangenheit von keinem Nutzen mehr sein können. Es scheint mir, dass das, was ich für Resultate hielt, nichts mehr ist als eine Vorbereitung. Ich komme mir vor, als hätte ich noch nichts getan, als ob ich das spirituelle Leben noch nicht gelebt, sondern erst den Pfad betreten hätte, der zu ihm führt. Es scheint mir, dass ich nichts weiß, dass ich unfähig bin, irgendetwas zu formulieren, dass jegliche Erfahrung noch bevorsteht …“ 7
Und am 14. Juni schrieb Mirra: „Es ist ein wirkliches Schöpfungswerk, das wir zu tun haben: Neue Tätigkeiten, neue Seinsarten zu erschaffen, damit diese Kraft, die bis heute auf Erden unbekannt ist, sich in ihrer Fülle manifestieren möge. Diesem Werk habe ich mich vollauf geweiht, Herr, denn genau dies willst Du von mir. Aber da Du mich für dieses Werk bestimmt hast, musst Du mir auch die Mittel geben, das heißt, das notwendige Wissen für seine Verwirklichung … Du hast mir ein Versprechen gegeben, Du hast in diese Welt alle jene Personen und Dinge geschickt, die dieses Versprechen erfüllen können. Dies verlangt jetzt Deine integrale Hilfe, so dass das, was versprochen wurde, erfüllt werden mag. In uns muss die Vereinigung der beiden Willen und der beiden Ströme stattfinden, damit aus ihrer Verbindung der erleuchtende Funke entspringen mag. Und da dies getan werden muss, wird es auch getan.“ 8
Das sind geheimnisvolle Worte, die dieses Buch zu erklären hat. Welche neuen Seinsarten sollten erschaffen werden? Was für ein Versprechen wurde ihr vom „Herrn“ selbst gegeben? Was war dieses Neue, das verwirklicht werden sollte? Radikale Worte auch, mit einem Willen geladen, alle Schwierigkeiten zu überwinden, und des Beginns einer neuen Epoche in der Menschheit bewusst.
Wenn ihre Vergangenheit „nicht mehr als eine Vorbereitung“ gewesen war, so war sie doch bestimmt von gründlicher Art gewesen. Mirra Richard, geb. Alfassa, wurde 1878 in Paris als Tochter eines türkischen Vaters und einer ägyptischen Mutter geboren. Von ihren frühesten Jahren an hatte sie zahlreiche okkulte Erfahrungen, die sie aber im positivistischen Milieu ihrer Zeit des Aufwachsens weder ihrer Mutter noch sonst wem hätte mitteilen können. Ungefähr im Alter von fünfzehn Jahren begann sie, Zeichenunterricht zu nehmen. Es war dies die Zeit der Postimpressionisten und des Fauvismus, und sie sollte viele große Meister persönlich kennenlernen, unter ihnen Auguste Rodin und Henri Matisse. Sie heiratete auch einen Maler, Henri Morisset, wurde selber Künstlerin, und Bilder von ihr sollten drei Mal nacheinander im jährlich stattfindenden Pariser Salon ausgestellt werden.
Im Jahr 1904 entdeckte Mirra die Revue cosmique, eine okkulte, von Max Théon und seiner Frau geleitete Zeitschrift. Beide zählten zu den größten Okkultisten ihrer Zeit. In dieser Zeitschrift fand sie die Erklärung für ihre eigenen okkulten Erfahrungen. Sie wurde zu ihrer...
Erscheint lt. Verlag | 28.3.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität |
ISBN-10 | 3-96861-082-2 / 3968610822 |
ISBN-13 | 978-3-96861-082-5 / 9783968610825 |
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