Die Brücke über den Fluss (eBook)

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2020 | 1. Auflage
224 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1959-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Brücke über den Fluss - Leonid Zypkin
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Die bewegende Familiengeschichte eines Unbeugsamen Zypkins Familie floh 1941 vor den Nazis von Minsk bis zum Ural. Die zurückgebliebenen Verwandten kamen im Ghetto um. Jahre später erkundet er, assoziativ und in Zeitüberblendungen ähnlich wie W. G. Sebald, die verlorenen Territorien und sein früheres Ich. Seine Sätze verweben Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Wünsche, Ekel und Zartheit. Sie kommen der Wirklichkeit so schmerzlich nahe, wie es nur dem gelingen kann, der zum Chronisten einer unmöglichen Zeit wird und dem jahrzehntelang nichts anderes bleibt, als für die Schublade zu schreiben - und der doch nicht aufhören kann. Erstmals auf Deutsch - ein Buch gegen das Vergessen der großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts »Der Triumph eines Mannes aus dem Untergrund.« New York Review of Books. »Ein einzigartiger Klassiker, der gerade noch rechtzeitig aus dem Kerker der Zensur befreit wurde.« James Wood, The Guardian »Eine der schönsten Entdeckungen der jüngeren Literatur.« Christoph Keller, Die Zeit

Leonid Zypkin wurde 1926 als Sohn russisch-jüdischer Eltern in Minsk geboren. Nur knapp überlebte er den stalinistischen Terror der dreißiger Jahre und die deutschen Angriffe auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Er studierte Medizin und arbeitete als Pathologe in Moskau. Zuletzt war er starken Repressalien ausgesetzt, weil sein einziger Sohn die SU in Richtung Amerika verlassen hatte; seinem eigenen Ausreiseantrag wurde nie stattgegeben. Sein literarisches Werk, das durch die Zensur und die von ihr ausgehende Einschüchterung, bis zu seinem Tod unveröffentlicht blieb, umfasst neben seinem einzigen Roman 'Ein Sommer in Baden-Baden' Erzählungen, Novellen und Lyrik. Er starb 1982, als sein Roman, zwei Jahre nach Fertigstellung und außer Landes geschmuggelt, gerade in Fortsetzungen in einer russischsprachigen Exilzeitung in New York zu erscheinen begann.

2


Die bucklige Straße mit den glänzenden Pflastersteinen führt steil zum Fluss hinunter. Ganz am Rand, dicht am Trottoir, fährt ein dicker, kurzbeiniger Halbwüchsiger mit ungesunden Ringen unter den Augen auf einem Fahrrad. In seinen Ohren hämmert sein Herzschlag, er drückt mit dem Fuß auf die Rücktrittbremse, er wird von rumpelnden Fuhrwerken überholt, doch ihm scheint es, als jagte er in atemberaubendem Tempo dahin, überholte jeden und alles, und so wird es ihm sein Leben lang vorkommen, denn er wird immer zu stolz sein, sich mit dem Bewusstsein seiner Schwäche abzufinden. Glücklich unten angekommen, fährt er mit Siegermiene auf die Holzbrücke – dort fließt der Nerotsch, ein schmales Flüsschen, das auf keiner noch so detaillierten Landkarte verzeichnet ist, was den Jungen ein wenig kränkt, denn ragen am Ende des Sommers auch rostige Konservenbüchsen und mit Schlingpflanzen um

wundene kaputte Flaschen aus dem Wasser, tritt der Fluss doch im Frühjahr weit über die Ufer und überschwemmt den Stadtpark, ja selbst die kleinen Häuser dahinter, seine Strömung wird stark, das dunkle Hochwasser überspült beinahe die Brücke, große Eisschollen schlagen gegen die Pfeiler und bringen die Brücke zum Beben, auf dem Fluss schwimmen entwurzelte Bäume, Balken und Bretter – an solchen Tagen kommt dem Nerotsch nur die Wolga gleich, die der Junge noch nie gesehen hat – hinter der Brücke biegt er nach links ab, legt sich in die Pedale und strampelt die Straße bergauf zum absurden Gebäude des Opernhauses, das an ein altes Schloss erinnert –, einige Tage zuvor hat ihm Tussik, der Cousin seiner Mutter, auf dem Opernvorplatz, wo jetzt die lokalen Halbstarken herumradeln, viele von ihnen freihändig, das Fahrrad nur mit einer kaum merklichen Neigung des Oberkörpers steuernd – hier hat ihm Tussik vor einigen Tagen das Radfahren beigebracht. Er hielt mit einer Hand den Sattel fest, mit der anderen den Lenker und lief neben ihm her, ganz nass geschwitzt, denn es ist gar nicht leicht, ein Fahrrad mit einem dicken Jungen im Gleichgewicht zu halten – mal musste er es abfangen, mal wegstoßen, damit der Junge samt Fahrrad nicht auf ihn kippte, und dabei sagte er immer wieder: »Tritt zu, Gawrila« – der Junge heißt zwar keineswegs Gawrila, doch dieser Zuruf klang für

ihn verwegen, wie etwas, das ihn mit Tussik gleichstellte – zwei Männer, die einander ohne viele Worte verstehen –, er trat eifrig in die Pedale, und sein Rad machte sich immer öfter frei, so dass sein Lehrer das Gefährt nicht mehr steuern musste, sondern es nur noch leicht am Sattel hielt, was der Junge bisweilen sogar als störend empfand, er strampelte noch stärker und riss sich für einen Augenblick ganz von der Stütze los – sein Lehrer lief nur noch neben ihm, und der Junge konnte kaum glauben, dass er allein fuhr, ohne fremde Hilfe, als hätte er plötzlich die Arme geschwungen und sei losgeflogen – sie war beängstigend und zugleich süß, diese brennende, urplötzlich erlangte Selbstständigkeit, die mit einem Sturz zu enden drohte –, er blickte sich um: Tussik rannte nicht mehr, er ging nicht einmal, er stand nur da, seine Gestalt wurde mit jeder Sekunde kleiner, er machte eine Handbewegung, die bedeutete: »Schneller treten!« – der Junge verlor das Gleichgewicht, stürzte auf den Asphalt, schlug sich die Knie blutig, Tussik kam angelaufen, half ihm auf, und alles begann von vorn. Tussik war groß, jedenfalls war er der Größte in ihrer Familie, er hatte glattes dunkles Haar, das leicht in Unordnung geriet und ihm in die Stirn fiel, tiefliegende ruhige graue Augen, in denen bisweilen etwas Draufgängerisches aufblitzte – sein Großvater war Donkosak gewesen, ein Foto von ihm

steckte in dem goldenen Medaillon, das Tussik von seiner Mutter geerbt hatte, der Junge klappte es gern auf und betrachtete das Foto: Der Donkosak hatte breite Wangenknochen, einen langen hellen Schnauzbart wie Taras Bulba1 und helle Augen, die noch tiefer lagen als die von Tussik – der Junge war sehr stolz auf diese Verwandtschaft, obgleich niemand aus der Familie diesen Großvater je gesehen hatte – seine Tochter, Tussiks Mutter, hatte für die Heirat zum Judentum übertreten müssen, und der Donkosak, offenbar nicht erfreut darüber, hatte sich nie blicken lassen; Tussiks Eltern waren gestorben, als er zwei oder drei Jahre alt war, seitdem lebte er bei der Familie seiner Tante, der Großmutter des Jungen – sie liebte Tussik mehr als ihre eigenen Töchter – das sagte sie jedenfalls –, vielleicht wegen seiner ruhigen, fügsamen Art, vielleicht, weil sie sich durch ihn, das Waisenkind, als Wohltäterin fühlen konnte. Der Junge fährt auf den Platz vor der Oper und mischt sich unter die anderen, die um die kleine Grünanlage herumradeln – ein knappes Jahr später wird im Gebäude der Oper der deutsche Stab untergebracht sein, und die Familie des Jungen, die in der Evakuierung lebt, wird an einem ebensolchen klaren Frühherbsttag wie jetzt, der bereits den Winter 1941 ahnen lässt,

eine Postkarte von Tussik erhalten – die einzige Karte mit seiner akkuraten, nach links geneigten Handschrift –, Tussik bittet, sie sollten sich keine Sorgen machen, bei ihm sei alles in Ordnung, aber wie gehe es ihnen, wie gehe es Mama? – so nannte er die Großmutter des Jungen –, und auf der Rückseite der Karte stand in seiner Handschrift die Adresse des Absenders: »247 B. F.W« – Erkundigungen bei Bekannten ergaben, dass »B. F.W« Bataillon des Flugplatzwartungsdienstes bedeutete, und der Junge versuchte sich vorzustellen, was Tussik da tat – er glaubte, Tussik transportiere Munitionskisten oder fege das Flugfeld, dabei war Tussik ein Kommandeur, wenn auch ein niederer – er war während des Polenfeldzuges beim Militär gewesen und hatte sich zum Unterleutnant mit einem Rhombus hochgedient – der Junge erinnerte sich genau an das kleine Foto von Tussik mit diesem Rhombus am Kragen und dem keck schräg aufgesetzten Käppi auf dem Kopf – diese Aufnahme fanden sie später bei entfernten Verwandten wieder und ließen sie vergrößern, es wurde fast ein Porträtfoto – jetzt liegt es bei meiner Mutter auf dem Schreibtisch, unter Glas, neben anderen Fotos und einer Gruppenaufnahme unserer Familie – darauf ist der Junge noch ganz klein und dünn, im Matrosenanzug und mit abstehenden Ohren. Als der knietiefe Schlamm auf den Straßen der Stadt im Ural allmäh

lich gefror, sich an den Wänden des Zimmers, in dem die Familie des Jungen lebte, Raureif bildete und die Ahnung des nahenden Winters zu einem unglaublich frühen Winter wurde – aber vielleicht war das im Ural immer so –, als auf den Straßen und Dächern der eingeschossigen Holzhäuser mit den geschnitzten Fensterrahmen Schnee lag, das auf dem Markt gekaufte Reisig sich mühelos mit einem Kinderschlitten transportieren ließ und die Milch in Form von durchscheinenden gefrorenen Scheiben verkauft wurde, da kam ein ganzes Bündel Briefe und Postkarten mit dem Stempel: »Adressat verzogen«, doch der Gedanke an Tussiks Tod behauptete sich in der Familie nicht gleich, selbst als der Krieg zu Ende war, hofften wir noch immer und fragten nach, bis wir schließlich erfuhren, dass die Unterkünfte von Tussiks Einheit eines Nachts von deutschen Panzern überrollt worden waren. Tussik und seine Kameraden waren in Scheunen am Rande eines Dorfes untergebracht gewesen, und der Junge versuchte, sich Tussiks Gesicht im letzten Augenblick seines Lebens vorzustellen, als ein Panzer in die Scheune fuhr, sich nach rechts und links drehte und mit seinen Ketten alle zermalmte, die sich darin befanden, oder wie er zur Erschießung geführt wurde, denn er war ja Kommandeur, Kommunist und Jude, sie konnten ihn also nicht in Gefangenschaft behalten haben – doch Tus

siks Todesmoment entzog sich der Vorstellung des Jungen, denn Tussik hatte ihn mit einem Finger aufs Kreuz legen können, er war der Größte gewesen, nicht nur in der Familie des Jungen, sondern im ganzen Haus, und wenn Klassenkameraden den Jungen besuchten, hatte er immer die Zimmertür offen gelassen, damit sie Tussik sahen, wenn er im Flur vorbeiging. Tussik konnte nicht von fremder Hand gestorben sein – er war stärker als alle anderen! Der Junge lachte traurig über diese Gedanken, denn als er die Umstände von Tussiks Tod erfuhr, war er kein Junge mehr. Ich träume noch heute oft von ihm, und es ist fast immer der gleiche Traum: Ich weiß, dass Tussik tot ist, und zugleich ist er bei uns – er lebt in unserer Vorkriegswohnung, nein, er lebt nicht dort, er ist anwesend – er erscheint nur nachts, fremd und unnahbar, ich kann nie mit ihm sprechen oder ihn auch nur sehen –, er schläft an seinem gewohnten Platz, auf der durchgelegenen Couch mit den kaputten Sprungfedern – in dem riesigen Zimmer, größer als unsere jetzige Dreizimmerwohnung, das durch einen Wandschirm geteilt ist, hinter dem Großmutter und Großvater leben –, genau auf dieser Couch hat er dem Jungen Kampfsportgriffe gezeigt, ihn mit einer Hand aufs Kreuz gelegt, ihn dann gepufft und geknetet und dabei furchterregende Laute ausgestoßen – ich betrete das Zimmer, doch die Couch ist leer,

nur zerknüllte Laken und kaputte Sprungfedern, und ich ahne, nein, ich weiß genau, dass Tussik bei seiner Freundin ist, dass er dort lebt, dort spricht er auch und ist wieder wie früher – Großmutter war sehr stolz darauf, dass Tussik Gehorsam gezeigt und diese Frau nie geheiratet hat, obwohl er mehrere Jahre mit ihr zusammen war – Großmutter mochte sie nicht, sie glaubte, diese Frau liebe Tussik nicht, sie habe andere, eigennützige Motive –, sie trug einen Bubikopf und eine Brille,...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2020
Nachwort Michail Zypkin
Übersetzer Ganna-Maria Braungardt
Sprache deutsch
Original-Titel Мост через Нерочь
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber
Schlagworte 1930er Jahre • 1970er Jahre • 20. Jahrhundert • Leonid Zypkin • Minsk • Russland • Sebald • Stalin • Stalinismus • W. G. Sebald • Zweiter Weltkrieg • Zypkin
ISBN-10 3-8412-1959-4 / 3841219594
ISBN-13 978-3-8412-1959-6 / 9783841219596
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