Mutter Schiff (eBook)

Wenn das Elternsein anders beginnt als geplant - und noch mehr Wunder bereithält
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
288 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9428-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mutter Schiff -  Francesca Segal
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Nachdem ihre Zwillinge zehn Wochen zu früh geboren wurden, findet sich Francesca Segal auf dem 'Mutterschiff ' der neonatalen Intensivstation wieder. Plötzlich sind alle romantischen Vorstellungen von Elternschaft wie wegradiert, und jeder neue Tag bringt eine existenzielle Herausforderung mit sich. Auf der ungewissen Mission, sich bestmöglich um ihre Töchter zu kümmern, lernt sie: Je weiter eine Reise ist, desto wichtiger sind treue Wegbegleiter - ihr Mann, die Ärzte und vor allem die lebendigen, furchtlosen und inspirierenden Mütter auf der Station. Ein bewegendes Zeugnis darüber, wie in der tiefen Kluft zwischen Erwartung und Realität das Schöne heranwachsen kann.

Francesca Segal, 1980 in London geboren, studierte in Oxford und Harvard und ist Journalistin und Kritikerin. Sie veröffentlicht unter anderem im Granta Magazine, Guardian und Daily Telegraph, ist Kolumnistin für den Observer und Feuilletonistin für das Tatler Magazine. Ihr Debütroman Die Arglosen erschien 2013 und gewann zahlreiche Preise, u. a. den Costa First Novel Award und den National Jewish Book Award for Fiction. Bei Kein & Aber erschienen neben ihrem Debüt Die Arglosen (2013) auch Ein sonderbares Alter (2017) und Mutter Schiff (2019). Willkommen auf Tuga (2024) ist der Auftakt zur Tuga-Trilogie. Francesca Segal lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in London.

TAG MINUS 1

DONNERSTAG, I. OKTOBER

Zwei identische kleine Mädchen fühlten sich an wie ein Lottogewinn.

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich Teil einer Clique, ich bildete sozusagen ganz allein eine Mädchen-Gang. Dass ich mich während der Schwangerschaft in der stummen Gesellschaft meiner Töchter durch die Welt bewegte, erschien mir wie Magie, wie ein nicht enden wollender Zaubertrick. Zwei winzige Assistentinnen, die immer bei mir waren, die sich direkt unterhalb meiner heißen, straff gespannten Haut bewegten.

Ich war gerade dabei, einen Roman zu schreiben. Zusammen suchten meine Mädchen und ich die Sonnenterrasse der Bibliothek auf und verbrachten dort lange Nachmittage, eine von uns lesend, die anderen schlafend. Wir teilten eine neue, gierige Vorliebe für Anchovis und Hüttenkäse. Dienstags und donnerstags machten wir zu dritt Pilates. Nachts träumte ich von ihnen, tagsüber musste ich das nicht, weil ich sie spürte – sie waren da, waren bei mir, waren verrückt nach Zucker, wurden zu protestierenden kleinen Faustkämpferinnen, wenn ich die Frechheit besaß, Eiswasser zu trinken. Bei meinen alle zwei Wochen stattfindenden Ultraschalluntersuchungen in der Mehrlingsambulanz meiner Geburtsklinik nörgelten die Ärzte bisweilen ein wenig, weil sie beide Babys zu klein fanden, doch ich sah mit eigenen Augen, wie sie mit viel Energie durch meinen Bauch kugelten und turnten, und sie wirkten bei jedem Termin größer und kräftiger. Alles war, wie es sein sollte. Die Hebamme schwärmte bei unseren Zusammenkünften regelmäßig von meinem Blutdruck, meinem Blutzuckerwert, meiner deutlichen Gewichtszunahme, meiner häufig vorkommenden Blutgruppe. Obwohl ich bereits fünfunddreißig war und Zwillinge erwartete, verlief meine Schwangerschaft völlig reibungslos. Ich fühlte mich großartig. Auch wenn ich meine Freunde nicht näher dazu befragt habe, gehe ich davon aus, dass ich in meiner Selbstzufriedenheit ziemlich unausstehlich war.

Umso erschrockener war ich, als ich mich eines Morgens kurz vor Ende der dreißigsten Schwangerschaftswoche im Bett aufsetzte und feststellte, dass ich mich eingenässt hatte. Ich überlegte, ob es irgendeine Möglichkeit gab, das Bettlaken unter Gabe hervorzuziehen, ohne dass er aufwachte – wie ein Zirkusclown, der schwungvoll eine Tischdecke unter einem Porzellanservice hervorreißt. Auf diese Weise müsste er vielleicht gar nichts davon erfahren. Aber als ich nach meinem Handy griff, um »plötzliche Schwangerschaftsinkontinenz« zu googeln, sah ich im weißen Licht des Displays, dass die Flüssigkeit, die ich verlor, Blut war.

Der Großteil der nächsten sechsunddreißig Stunden bestand aus Langeweile und Warten. Im Central Hospital wies man mir auf der Geburtsstation ein Mehrbettzimmer zu und erklärte, ich müsse vierundzwanzig Stunden zur Beobachtung dableiben. Jeder neue »Vorfall« setzte die Zeit wieder auf null zurück. Es vergingen sechs bis acht Stunden, ich bekam die Erlaubnis, mich anzuziehen und ein wenig frische Luft schnappen zu gehen, blutete erneut und wurde eilig in den Kreißsaal gebracht, wo nichts passierte, woraufhin ich wieder auf der Geburtsstation landete, in einem Zimmer voller Frauen, die teilweise weinten und schrien. Ich weinte nicht, weil ich im Gegensatz zu ihnen keine Wehen hatte. Bis zur Geburt meiner Kinder waren es noch volle zehn Wochen, ein ganzes Viertel meiner Schwangerschaft. Bei der letzten Untersuchung hatte Baby A knapp ein Kilo gewogen, Baby B war ein wenig kleiner. Ein Kilo – vier Päckchen Butter, oder eine Handvoll Äpfel. Weniger als eine Tüte Zucker. Ich weiß noch, wie ich dachte: Die beiden können jetzt nicht kommen, es ist viel zu früh. Also würden sie auch nicht kommen. Ich war vollkommen ruhig.

Gegen Mitternacht watschelte ich zur Toilette und schloss mich, erleichtert über das kurze Alleinsein und die relative Stille, in der Kabine ein. Und dann ging es plötzlich wieder los. Diesmal war der Boden innerhalb von Sekunden glitschig vor Blut. Ich hinterließ leuchtend rote Fußspuren, als ich Richtung Waschbecken zurückwich. Noch immer schien ich nicht begreifen zu wollen, dass das nicht gut sein konnte – mir tat hauptsächlich das Reinigungspersonal leid. Nachdem ich den Eindruck hatte, die Blutung habe aufgehört, ließ ich mich mithilfe der praktischen Handläufe neben der Toilette auf die Knie nieder und begann, mit einer Handvoll erstaunlich saugschwacher blauer Papiertücher den Boden zu wischen. In dieser Körperhaltung, auf Händen und Knien, keuchend vor Anstrengung, erregte plötzlich die von der Decke baumelnde Notrufschnur meine Aufmerksamkeit. Ihr knallroter Griff schien aus irgendeinem Grund im Rhythmus meiner Atemzüge zu pulsieren. Wie clever, dass man diese Schnur sogar von hier unten erreicht, dachte ich in meiner kauernden Haltung auf den blutverschmierten Bodenfliesen. Mein Gesicht blickte mir unerwartet vom unteren Teil eines Ganzkörperspiegels entgegen, es war kreidebleich. Dann kam mir beinahe beiläufig der Gedanke: Du solltest vielleicht darüber nachdenken, an der Schnur zu ziehen.

Als die Krankenschwester kam, murmelte ich reflexartig Entschuldigungen vor mich hin, weil ich sie stören musste und eine solche Sauerei angerichtet hatte. Ich kniete immer noch auf dem Boden, und mein herabhängendes Krankenhaushemd hatte sich mit Blut vollgesogen. Die Schwester schien es nicht lustig zu finden, als ich ihr erklärte, ich hätte den Boden wischen wollen. »Lassen Sie das«, blaffte sie. »Los, kommen Sie mit.«

Was ich dachte, als ich gehorsam hinter ihr hertrottend das letzte Mal zum Kreißsaal aufbrach? Ich erinnere mich nur ungenau, glaube jedoch, dass es die letzten Minuten einer viel zu lang andauernden Peter-Pan-Kindheit waren. Ich war fünfunddreißig Jahre alt. Aus heutiger Sicht erscheint es mir unverständlich, aber damals war ich selbst nach dem Blutsturz auf der Toilette noch überzeugt, dass alles gut werden würde. Es war ein langer Tag gewesen, und Gabe war erst vor einer Stunde nach Hause aufgebrochen, um ein wenig zu schlafen. Einerseits wünschte ich ihn mir an meiner Seite, andererseits wollte ich nicht, dass er müde war. Ich rief ihn nicht an.

Unten im Kreißsaal bekam ich einen Gurt umgeschnallt, der aussah, als wäre er für das Schleppen schwerer Möbel gedacht. Er hielt zwei Doppler-Ultraschallsensoren an Ort und Stelle, einen, der mit Monitor Zwilling 1 und Monitor Zwilling 2 verbunden war, und einen für einen dritten Monitor, der die Wehen aufzeichnete, die ich noch nicht hatte. Winzige galoppierende Hufschläge, eine Herde kleiner Wildpferde, die über eine Ebene donnerte. In meinem Bauch ging es noch allen gut. Es schien also, als wäre ich diejenige, die beharrlich vor sich hin blutete.

Ich rief Gabe gegen sechs Uhr morgens an und erwischte ihn bereits auf den Beinen und angezogen, bereit, zurück ins Krankenhaus zu kommen. Für was genau ich ihn nachts gestört hätte, wenn nicht für so etwas, wollte er von mir wissen. Stinksauer, aber mit Frühstück im Gepäck traf er bei mir ein. Sehnsüchtig betrachtete ich das heiße Porridge, das er mir mitgebracht hatte. Während er es mir in der Cafeteria gekauft hatte, war beschlossen worden, dass ich für den Fall der Fälle nüchtern bleiben sollte. »Für den Fall, dass ein Kaiserschnitt nötig wird«, erzählte ich fassungslos und schüttelte den Kopf, als wäre ich von Stümpern umgeben, von Wahnsinnigen, die ich irgendwie ertragen und bei Laune halten musste. »Ist das nicht verrückt?«

Ich blieb den Rest des Tages hungrig, bis mir meine angehäuften Stunden ohne Zwischenfälle gegen drei Uhr nachmittags eine Gnadenfrist einbrachten. Gabe ging auf Nahrungssuche und kehrte mit zwei Sandwiches zurück. Ich aß sie beide. Erst Hühnchen und Avocado mit hervorquellender Mayonnaise, und als zweiten Gang Cheddar und Tomatenscheiben auf großzügig gebuttertem Graubrot. Dann verschlang ich noch eine Zimtschnecke und die Hälfte von Gabes Blaubeermuffin. Beim Essen unterhielten wir uns darüber, dass unsere Töchter um Mitternacht, als ich den Krankenhausboden gewischt hatte, eine magische Schwelle überschritten hatten, ohne dass ich mir dessen bewusst gewesen war: von der neunundzwanzigsten zur dreißigsten Schwangerschaftswoche. Ab der dreißigsten Woche gelten andere Statistiken, die Überlebensrate steigt. Babys, die nur ein Kilo wiegen, haben eine ungewisse Zukunft vor sich: Atemnotsyndrom aufgrund von Unreife der Lunge; irreversible Lungenschäden durch Langzeitbeatmung; Lungenentzündung; Gehirnblutungen; Zerebralparese; Anämie; Frühgeborenen-Retinopathie, die zur teilweisen oder völligen Blindheit führen kann; Blutvergiftung; nekrotisierende Enterokolitis – lebensbedrohliches Darmversagen. Damals kannte ich keinen dieser Fachausdrücke, aber auch mir war klar, dass die Prognose für meine Töchter vollkommen anders aussah, wenn wir es schafften, ihnen noch eine weitere, zwei weitere, fünf weitere Wochen zu erkämpfen. Immerhin: Jetzt waren sie nicht mehr neunundzwanzig Gestationswochen alt, sondern dreißig. Ich würde mich in den nächsten beiden Monaten schonen, würde im Bett liegen und weiter schreiben. Was für eine Erleichterung.

Ich aß und aß. Dazu trank ich einen Liter Wasser. Dann stand ich auf, satt und erleichtert, und ein Blutklumpen von der Größe einer Kalbsleber schlitterte aus mir heraus auf den Boden. Der Arzt wurde gerufen und kam, um mir mitzuteilen, dass es keine Chance mehr gebe, die Entbindung weiter hinauszuzögern.

»Der Anästhesist wird gleich hier sein, und ich werde auch jemanden von der Neo-Intensiv bitten, heraufzukommen und mit Ihnen zu sprechen.« Sein Blick schweifte über die Sandwichkartons, die Muffinverpackung, die Krümel auf meinem Krankenhaushemd....

Erscheint lt. Verlag 12.11.2019
Übersetzer Verena Kilchling
Sprache deutsch
Original-Titel Mother Ship
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Schwangerschaft / Geburt
Schlagworte Elternsein • Erfahrung • Frühgeburt • Krankenhaus • Solidarität • Zwillinge
ISBN-10 3-0369-9428-9 / 3036994289
ISBN-13 978-3-0369-9428-4 / 9783036994284
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