1870/71: Der Mythos von der deutschen Einheit (eBook)
400 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-25709-5 (ISBN)
Zentrales Gründungsdatum des immer noch wirkmächtigen Mythos von der deutschen Einheit ist der Krieg gegen Frankreich und die anschließende Reichsgründung im Jahr 1870/71. Anhand der eingehenden Schilderung von neun symbolträchtigen Tagen vergegenwärtigt Tillmann Bendikowski entscheidende Wegmarken zur deutschen Einigung unter Preußens Führung: von der Flucht des Welfenkönigs aus Hannover ins österreichische Exil im Juni 1866 bis - nach der Proklamation des deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles - zur Siegesparade fünf Jahre später.
Das Buch erhält einen 16-seitigen Farbbildteil, der die für die Thesen des Buches wesentlichen Ereignisse der Zeit illustriert.
Dr. Tillmann Bendikowski, geb. 1965, ist Journalist und promovierter Historiker. Als Gründer und Leiter der Medienagentur Geschichte in Hamburg schreibt er Beiträge für Printmedien und Hörfunk und betreut die wissenschaftliche Realisierung von Forschungsprojekten und historischen Ausstellungen. Seit 2020 ist er als Kommentator im NDR Fernsehen zu sehen, wo er in der Reihe »DAS! historisch« Geschichte zum Sprechen bringt, und zudem regelmäßiger Gesprächspartner bei Spiegel TV. Bei C.Bertelsmann erschienen »Ein Jahr im Mittelalter« (2019), »1870/71: Der Mythos von der deutschen Einheit« (2020), der Bestseller »Hitlerwetter. Das ganz normale Leben in der Diktatur: Die Deutschen und das Dritte Reich 1938/39« (2022) und zuletzt »Himmel Hilf. Warum wir Halt in übernatürlichen Kräften suchen: Aberglaube und magisches Denken vom Mittelalter bis heute« (2023).
1
30. Juni 1866
Ein deutscher König auf der Flucht
Endlich kommt König Georg V. von Hannover dazu, es sich auf dem Bett bequem zu machen und für seine Frau einige Zeilen zu diktieren, um sie über sein Schicksal zu unterrichten. Dass er unverletzt geblieben und nicht in Gefangenschaft geraten ist und dass er hier in diesem »wundervollen Jagdschloss« in Sicherheit ist. Es liegt auf einer Insel mitten in einem kleinen See nahe des kleinen thüringischen Stadtroda, weit genug entfernt von all dem Unglück der zurückliegenden Tage. Als der König den Brief diktiert, ist es Sonntagabend, doch schon am Tag zuvor, am 30. Juni 1866, hat er mit seinen Begleitern diesen Ort erreicht. Das kleine, aber feine Schloss gehört seinem Schwiegervater, dem ehemaligen Herzog von Sachsen-Altenburg, und trägt seit Jahrhunderten einen Namen, der gerade jetzt für den König vielversprechender denn je klingt: »Schloss Fröhliche Wiederkunft«. Das muss doch ein gutes Omen sein, oder? Der königliche Brief endet jedenfalls genau mit dieser Hoffnung:3
»Gott gebe, daß es eine frohe Vorbedeutung für uns ist, daß ich nach allen wichtigen Ereignissen, die ich seit vierzehn Tagen erlebt, zuerst meine Füße in Fröhlich Wiederkunft setze, dieses geschichtlich interessante Schloß, dessen Name auch für uns jetzt so bezeichnend ist.«
Glaubt Georg V. tatsächlich, dass es für ihn einst eine »fröhliche Wiederkunft« geben kann? Das ist in diesem Moment nur eine bloße Hoffnung, denn er befindet sich jetzt auf der Flucht, im Ausland, er kann nicht mehr nach Hause. Der Monarch hat alles gewagt, und er hat alles verloren. Er ist jetzt ein König ohne Land, womöglich nicht einmal mehr ein König …
Nur auf den ersten Blick ist dieser Mann ein König in den besten Jahren: Erst vor einem Monat hat er seinen 47. Geburtstag begangen, und im November steht eigentlich sein 15. Thronjubiläum an. Aber dass es in ein paar Monaten in seinem Königreich noch etwas zu feiern gibt, glaubt in seinem Umfeld längst niemand mehr. Schon das ganze Jahr hindurch haben sich in politischer Hinsicht dunkle Wolken über seinem Königreich Hannover zusammengezogen. Und jetzt, nach dem großen »Gewitter«, scheint dieser König als der große Verlierer dazustehen. Ist das seine Schuld? Fraglos hat Georg V. in den zurückliegenden Wochen oft genug die politische Lage falsch eingeschätzt, er hat gravierende Fehler gemacht im diplomatischen und militärischen Spiel der deutschen Dynastien und Staaten. Jetzt steht sein Königreich Hannover ebenso vor dem Aus wie er selbst: Er hat einen Krieg gegen das mächtige Preußen verloren, und dies obendrein ziemlich schmählich nach nur wenigen Tagen Kampf. Er selbst, der sich stets als stolzer und standesbewusster Regent gegeben hat, wird wohl auf die Gnade des Siegers angewiesen sein. Der ist wenigstens so nett, ihm freien Abzug zuzusichern. Immerhin.
Georg V. hat es nie leicht gehabt, auch weil er seit seiner Kindheit erblindet ist. Einige Zeit war sogar darüber gestritten worden, ob er damit überhaupt König werden konnte, bis sein Vater diese Diskussion beendete und an ihm als Thronfolger festhielt. Es ist eine traditionsbewusste Familie, in die der Junge am 27. Mai 1819 hineingeboren wird: Die Welfen gelten als ein stolzes Adelsgeschlecht, das seit dem frühen Mittelalter das Geschehen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation mitbestimmt hat, das mächtige Herrscher wie im 12. Jahrhundert Heinrich den Löwen hervorgebracht hat und das damals zum Konkurrenten der Staufer um die Kaiserkrone wurde. Der norddeutschen Linie gelang im Jahr 1692 der Aufstieg zum Kurfürstentum, damit zählte die Familie fortan zum erlauchten Kreis der deutschen Königswähler. Europäische Bedeutung erlangten die Welfen nach 1714, als das Haus Hannover für 123 Jahre in Personalunion zugleich den König von Großbritannien stellte. Erst der Vater des blinden Georg V. war dann »nur« noch König von Hannover, während über Großbritannien fortan Königin Victoria herrschte, eine Cousine von Georg. Auch wenn die frühere britische Herrschaft vergangen ist: Die guten Verbindungen der Hannoveraner in den europäischen Hochadel und vor allem nach London sind intakt. Der König von Hannover ist in dynastischer Hinsicht nicht irgendwer.
Freundlich formuliert ist Georg V. ein Mann von Grundsätzen und Tradition. Das kann zuweilen seine Vorteile haben, für seine Untertanen heißt das im konkreten Fall aber auch, dass er sich den politischen Entwicklungen der Zeit samt ihren Forderungen nach Reformen und Neuerungen jeglicher Art geradezu halsstarrig widersetzt. Der Monarch tut fast so, als habe es den politischen Aufbruch im Vormärz und während der Revolution von 1848/49 gar nicht gegeben. Stattdessen träumt Georg V. unverdrossen weiter von einem absolutistischen Königtum. Innenpolitische Zugeständnisse seines Vaters lässt er nach seiner Thronbesteigung sogar wieder kassieren, und er umgibt sich lieber mit traditionsbewussten adeligen Beratern als mit klugen, »modernen« Reformern, die es auch in seinem Königreich gibt. Darüber hinaus vertraut der Regent in seiner tiefen protestantischen Frömmigkeit stets auf den lieben Gott und seine lutherische Landeskirche, als deren oberster Bischof er als König zugleich fungiert. So findet der König noch wenige Monate vorher eigentlich alles gut bestellt in seinem Leben, aber eben nur bis zu diesem Sommer 1866. In diesem kann ihm auch sein Gott nicht mehr helfen, erst recht keine Soldaten und Verbündeten, und nicht einmal seine mächtige Cousine Victoria auf dem britischen Thron. Wie konnte das geschehen?
Es ist Preußen, das Hannover in den Abgrund treibt. Der Nachbar, der im Osten und im Süden an das Königreich grenzt, ist auf Expansionskurs. Wieder einmal, sagen die Kritiker Preußens. Tatsächlich lässt sich behaupten, dass die Hohenzollern-Dynastie seit den Tagen Friedrichs des Großen versucht, durch Eroberungen permanent und rücksichtslos die eigene Macht zu erweitern. Was mehr als 100 Jahre zuvor im Ersten Schlesischen Krieg (1740–1742) mit der Einverleibung der österreichischen Provinz Schlesien begann, scheint sich bis jetzt fortzusetzen. Die Gefahr durch den immer mächtiger werdenden preußischen Nachbarn wurde auch im Königreich Hannover schon im 17. und 18. Jahrhundert gesehen: 1850 prophezeite ein führender Minister geradezu resigniert, eines Tages »werden wir preußisch werden«. Und 14 Jahre später, 1864, hat Preußen an der Seite Österreichs die seit Langem schwelende Krise um die Herzogtümer Schleswig und Holstein geschickt für einen Krieg gegen Dänemark und eine weitere Eroberung genutzt: Schleswig wird preußisches Hoheitsgebiet, während Österreich zunächst Holstein verwaltet. Doch bald kommt es zwischen den eben noch Verbündeten zum erbitterten Streit, und in ganz Deutschland fürchten die Menschen, dass dieser in einen Krieg münden könnte. Es ist der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck, der geschickt die alten liberalen Träume von einem deutschen Nationalstaat bedient: Er schwenkt die politische Fahne der Einheit und erntet dafür reichlich Zuspruch sogar über die Grenzen Preußens hinaus, obwohl er tatsächlich nur das Ziel preußischer Vorherrschaft verfolgt.
Was sich zwei Jahre zuvor im Krieg gegen Dänemark gezeigt hat, scheint sich 1866 gegen andere Staaten zu wiederholen: Preußen schreckt erkennbar vor einem Krieg nicht zurück, wenn es um die Erweiterung der eigenen Macht geht. In Hannover nimmt auch Georg V. die zunehmende Bedrohung wahr, denkt aber nicht daran, dem preußischen Streben nach deutschlandweiter Vorherrschaft nachzugeben. Beharrlich setzt er auf die Sicherung des Status quo in Form des Deutschen Bundes, der nach dem Wiener Kongress 1815 gegründet worden war und dem die deutschen Einzelstaaten angehören. Der Zusammenschluss befriedigt zwar weder den liberalen Wunsch nach einer deutschen Einheit noch die Etablierung demokratischer Strukturen, denn die an diesem Bund beteiligten Staaten können Teile ihrer Souveränität abgeben, bleiben jedoch in erster Linie autonome Staaten. Aber immerhin soll der Deutsche Bund die innere und äußere Sicherheit seiner Mitglieder garantieren, und das ist nach den Erfahrungen der Kriege gegen Napoleon zu Beginn des Jahrhunderts auch weiterhin ein wichtiges gemeinsames Anliegen. Als zentrales Gremium dieses Staatenbundes fungiert die Bundesversammlung mit Sitz in Frankfurt am Main. Hier laufen bis zu diesem Zeitpunkt alle wichtigen Fäden einer deutschen Einheit zusammen. Wenn diese konkreter ausgestaltet werden soll, muss das auch hier entschieden werden.
Doch Preußen unter Führung von Otto von Bismarck ist dieser Bund ein Hindernis. Eine preußische Vorherrschaft in einem deutschen Reich wird so nicht gelingen, weiß der machtbewusste und diplomatisch überdurchschnittlich versierte Ministerpräsident. Er fordert wiederholt Reformen an dem Zusammenschluss, aber die anderen Staaten fürchten, dass mit Veränderungen am Bund der zunehmende Verlust eigener Souveränität im Zuge preußischen Machtgewinns drohe.4 Auch Hannovers König Georg V. wittert die Absicht, die deutschen Mittel- und Kleinstaaten zu schwächen. Er schätzt weiterhin den Deutschen Bund als das einzig legitime und brauchbare Mittel einer deutschen »Einheit«, wie er 1861 in einer Notiz festhalten lässt:5
»Die Bundesverfassung und der Bundestag sind meiner innigen Überzeugung nach die einzig wünschenswerten und einzig möglichen Bindemittel und das einzig wünschenswerte und einzig mögliche Centralorgan für Deutschland.«
Das ist weit mehr als eine strategische Äußerung: Georg V. kann der Einheitspropaganda dieser Zeit...
Erscheint lt. Verlag | 11.5.2020 |
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Zusatzinfo | 16-seitiger farbiger Bildteil |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | 1870/71 • Deutsche Einheit • Deutsches Kaiserreich • eBooks • Frankreich • Geschichte • Österreich • Preußen • Reichsgründung • Wiedervereinigung |
ISBN-10 | 3-641-25709-3 / 3641257093 |
ISBN-13 | 978-3-641-25709-5 / 9783641257095 |
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