Leben in allen Himmelsrichtungen (eBook)

Reportagen
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2019 | 1. Auflage
384 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99464-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Leben in allen Himmelsrichtungen -  Andreas Altmann
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Wer in fremde Länder und ferne Gegenden reist, wird dreifach belohnt: Er lernt die Welt, die Weltbewohner und sich selbst kennen. Nur wenige können davon besser erzählen als Andreas Altmann, der begnadete Reporter, der uns in diesem Buch auf seine Reisen mitnimmt und an seinen wundersamen, zuweilen heiteren, bisweilen erschütternden oder aberwitzigen Begegnungen teilhaben lässt. Jeder Erdteil kommt vor. Mit Gütigen und Bösen, mit Waghalsigen und Verzweifelten, mit Frauen und Männern, die um ihr Leben bangen, und anderen, die vor Übermut schäumen - und mit Landschaften, die ein Herz aus Stein rühren. Der Band versammelt die besten von Altmanns gefeierten Reportagen, ein literarisches Reisebuch voller Leben in allen Himmelsrichtungen.

Andreas Altmann zählt zu den bekanntesten deutschen Reiseautoren und wurde u. a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, dem Seume-Literaturpreis und dem Reisebuch-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm »Bloßes Leben« sowie die Bestseller »Verdammtes Land. Eine Reise durch Palästina«, »Gebrauchsanweisung für die Welt« und »Gebrauchsanweisung für das Leben«, »In Mexiko«, »Gebrauchsanweisung für Heimat« und »Leben in allen Himmelsrichtungen«. Andreas Altmann lebt in Paris.

Andreas Altmann zählt zu den bekanntesten deutschen Reiseautoren und wurde u. a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, dem Seume-Literaturpreis und dem Reisebuch-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm "Leben in allen Himmelsrichtungen" sowie die Bestseller "Verdammtes Land. Eine Reise durch Palästina", "Gebrauchsanweisung für die Welt" und "Gebrauchsanweisung für das Leben" und "In Mexiko". Andreas Altmann lebt in Paris.

BAGDAD – Flüstern und überleben


»Liza«, sagt sie. Aber das sei nicht ihr richtiger Name. Den würde sie nicht verraten, zu riskant. Liza ist 19 und Palästinenserin. Seit wir miteinander reden, überdenkt sie jedes Wort. Als die Maschine kurz vor Mitternacht in Bagdad landet, der Stadt, in der sie jetzt lebt, meint sie: »Wenn Araber Krieg führen, dann wissen sie genau: ›Vertrau keinem, auch nicht deinem Bruder!‹ Du musst aufpassen, hier wimmelt es von Spitzeln.«

An der Passkontrolle steht Mister Salam, um mich abzuholen. Salam – im grünen Kampfanzug – ist klein, korpulent und zuständig für den Weitertransport ausländischer Reporter.

Die Fahrt dauert, knapp 30 Kilometer über eine hell erleuchtete, menschenleere Autobahn. Salam ist der erste irakische Krieger, dem ich begegne. Er kämpft gegen den Iran und gegen – sich selbst. Wie von Sinnen kratzt er sich zwischen den Schulterblättern. Erschöpft sich der eine, mühsam nach hinten gestreckte Arm, so kommt der andere zum Einsatz. Mit unbeugsamer Energie.

Vorbei an Postern, auf denen stets nur Saddam Hussein zu sehen ist. Der Präsident als Genosse, als Feldmarschall, als Führer. Ein bisschen feist, immer satt, immer entspannt. Wie anders Salam, dem jetzt der Schweiß ausbricht, rastlos verstrickt in seinen blutigen Kampf mit dem eigenen Körper.

1:30 Uhr, Ankunft im Palestine Meridien Hotel, direkt am Tigris gelegen. 24 Mal Saddam und eine halbe Stunde lang Salam, kein Wunder, dass ich von ihnen träume.

Am nächsten Abend beginnt das Pflichtprogramm: 21 Uhr, Hauptbahnhof, Abfahrt zur Halbinsel Al-Faw, im äußersten Süden. Seit einiger Zeit wird die Weltpresse auf Staatskosten dorthin verfrachtet. Um vom Sieg der Iraker über die Iraner zu berichten.

Die Züge verkehren nur nachts, aus Sicherheitsgründen. Im Erste-Klasse-Abteil logieren ein tunesisches Fernsehteam, Medienleute aus Jordanien und Italien, eine Kollegin aus Portugal. Sie trägt ein weißes Seidenhemd, schwarze Stöckelschuhe und eine rote, schweinslederne Aktentasche. Elegant will sie Zeuge des Gemetzels sein.

Die Wagons sind voller Soldaten, die zurück an die Front müssen. Manche mit Kopfverbänden und bandagierten Ellbogen. Auch viele uniformierte Sudanesen, Ägypter und Somalier. Söldner. Sie rauchen, lachen, teilen ihren Kebab. Unüberhörbar, woran sie leiden. »We need a girl«, jammern sie. »Nie eine Frau haben«, meint Saeed, »das ist das Schlimmste im Krieg.«

Die Fenster lassen sich nicht öffnen, an den Türgriffen hängen Eisenketten. Deserteure bekommen keine Chance.

Sechs Uhr morgens erreichen wir den Shoaiba Stützpunkt, nicht weit von unserem Ziel entfernt. Ende der Zugfahrt. 12-Jährige (!) stehen Spalier. Mit dem Jeep über die platte Wüste, vorbei an leergeschossenen (russischen) T-55 und T-62 Panzern, an französischen Panzerhaubitzen, ausgebrannten Lastwagen, streunenden Hunden, abgebrochenen Telefonmasten, zerschossenen Stahlhelmen und verbeulten Öltanks, die im Sand versinken. Auf einem Verhau aus Brettern steht: »We’ll continue hammering on the heads of the despots.« Klar, iranische Despoten.

Al-Faw existiert nur noch als Trümmerfeld. Etwa 170 000 Tote gab es hier in den letzten zwei Jahren, jetzt gehören die Halbinsel und die Stadt wieder den Irakern.

Durch die Restbestände einer Moschee, in der die Iraner ihre Feldküche eingerichtet hatten. Fliegenhorden auf verschimmeltem Pudding, zerbrochene Eier, stinkend, der Haufen Gummistiefel: Indiz für die Anzahl weggeschaffter Leichen. Vom beschädigten Minarett ein Blick auf den Grenzfluss Schatt al-Arab, Schiffswracks, gesprengte Brücken, keine Bewegung auf der feindlichen Seite.

Auf den Weg achten, Tretminen liegen versteckt. Wochen zuvor riss es einem deutschen Journalisten den linken Fuß weg.

Außerhalb Al-Faws befinden sich die vordersten Stellungen. Schwieriges Gelände, Sumpf, Moskitos, verkohlte Baumstumpen, die in Erdlöchern verschanzten Infanteristen. An ihrem Hintern der halbmondförmige (!) Reißverschluss (für den unkomplizierten Stuhlgang), Sandsäcke, eine betäubende Innentemperatur, Ungeziefer. Die peinliche Journaille, die neben den armen Teufeln zum Erinnerungsfoto posiert.

Mit dem Geländewagen weiter über das farblos flimmernde Land. Der bleierne, milchige Himmel. Um Punkt 12 Uhr im »Museum«, mitten in der Wüste. Tausende Quadratmeter, vollgestellt mit Kriegsbeute. In Reih und Glied, penibel beschriftet: Panzer, Artillerie, Kampfboote, Motorräder, Munitionskisten, Gasmasken, Funkgeräte. Aus den Lautsprechern plärrt eine frenetische Frauenstimme, die zum Sieg über den Iran aufruft. Rasender Applaus.

Mittagessen in einer Kaserne. General Maher Abd al-Rashid, der gefeierte Held der Befreiung, begrüßt uns. Zwei Busse pflichtjubelnder Studenten sind ebenfalls eingetroffen. Al-Rashid im Blitzlicht, in seiner Nähe stehen sechs Frauen. Ruhm macht attraktiv.

Mächtige Schüsseln mit Reis, Bohnen, Geflügel und Schafsfleisch werden aufgetischt. Dazu Sauermilch und Fladenbrot. Al-Raschid greift mit bloßen Händen hinein und verteilt. Das erste Mal, dass ein General mir serviert.

Als ich bei seinem Adjutanten um ein Interview nachfrage, bekomme ich eine Absage. Der Mann gebe keine Interviews, grundsätzlich nicht. Dabei – jetzt wird es unglaublich komisch – sieht mir der junge Offizier streng ins Gesicht, sagt:

 

  • Sie hatten Spaß mit einer Frau!
  • Wie meinen Sie das?
  • Gestern Abend im Zug haben Sie sich mit der Journalistin vom tunesischen Fernsehen unterhalten. Und häufig gelacht. Achten Sie auf das, was Sie reden!

 

Er hat den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da fällt mir Lizas Bemerkung ein: Du musst aufpassen, hier wimmelt es von Spitzeln!

Mit dem Bus zurück in die 600 Kilometer entfernte Hauptstadt. Ödes Land. Vorbei an Lastwagen mit Särgen und verpackten Zelten, in denen drei Tage lang die Gefallenen betrauert wurden, vorbei an Lehmhäusern, Panzerstellungen und Fußball spielenden Kindern. Fahrt in die feuerrote Abendsonne.

Schon klar: Der »Revolutionäre Kommandorat« unter Saddam Hussein ist an einem Tatsachenbericht nicht interessiert. Dürfen ausländische Reporter einfliegen, so sollen sie vom Great Victory in Al-Faw schreiben. Der Rest geht sie nichts an. Wie weit Bagdad Mitschuld am sogenannten Krieg der Städte trägt, braucht niemanden zu interessieren. Es handelt sich in jedem Fall – auch wenn in Teheran noch höhere Leichenberge herumliegen – um Niederlagen. Mit vielen Opfern.

Beim Iraqi Intelligence Service, dem Geheimdienst, stehen Tausende Namen auf der Gehaltsliste. Drei Abteilungen gibt es, eine für die Armee, eine für die Partei und die dritte, die gefürchtetste, arbeitet ausschließlich für den Präsidenten. In der DDR wurden die Spitzenkader ausgebildet. Ein gewaltiges Heer von Informanten, Zuträgern, Agents provocateurs, V-Männern, V-Frauen, Lauschern und Aufpassern überzieht das Land. Sogar die Klageweiber sind gekauft.

Konkret: Gespräche im Hotelzimmer nur bei laufendem Radio. Oder im Badezimmer bei fließendem Wasser. Grundsätzlich keine wichtigen Informationen über das Telefon mitteilen. Keine Vertraulichkeiten mit Leuten, die man nicht lange Zeit und persönlich kennt. Und auch dann nur im Notfall. Niemals einen kritischen politischen Kommentar in der Öffentlichkeit verlautbaren.

Die Konsequenzen wären barbarisch: Todesstrafe (!) – laut Gesetz – bei Beleidigung der Führungsclique. Wer sein Leben behält, verschwindet zum Zwecke einer Spezialbehandlung im »Fingernagelpalast«, Pseudonym für den Folterkeller.

Hier drei Beispiele, die zeigen, wie massiv durchsetzt von »Staatsdienern« dieses Regime ist: Ich will zu Fuß über die »Brücke des 14. Juli«. Das geht nicht, weil mir jemand von der anderen Straßenseite entgegenrennt, die Unterarme kreuzweise verschränkt und »Kalabush, Kalabush« schreit. Verstanden, Handschellen, sprich, Gefängnis, wenn ich weitergehe. Der Mensch hat ein Allerweltsgesicht, ohne besondere Kennzeichen, also bestens geeignet für den Beruf eines Spitzels. Diskussion sinnlos, entweder umkehren oder ein Taxi nehmen.

Ein Grund für das Verbot wird nicht geliefert. Einzig denkbare Erklärung: Am andern Ufer liegt – weit hinter Bäumen, Gebüsch und schwer bewachten Mauern – der Präsidentschaftspalast.

Zweites Beispiel: Tatort ist diesmal das al-Rashid Shopping Center, mitten in der Altstadt. Bodycheck am Eingang, Öffnen der Taschen, Suche nach Waffen. Ein eher bescheidener Supermarkt. Plötzlich fangen zwei zu streiten an. Scharfe Worte, blitzschnell die ersten Hiebe. Einer von ihnen trägt einen Kopfverband mit einem hellroten (trockenen) Blutfleck. Sich öffentlich so herzuzeigen, obwohl die Wunde ja längst verheilt sei: das untergrabe die Moral der Bevölkerung. Als sich die beiden wutschnaubend zu prügeln beginnen, lösen sich fast gleichzeitig drei Männer aus der Menge und gehen zügig auf die Streithähne zu. Ein einziger, schneidender Warnruf und sofort und ohne Widerrede erhebt sich das zänkische Duo. Abgang, zu fünft.

Dritter Fall. Ich befinde mich im Innenhof der al-Kazimiyya Moschee, dem bekanntesten Schiitenheiligtum der Stadt. Schon meine Anwesenheit ist verboten. Ich platziere vier Soldaten vor die Kamera, um so auf Umwegen zu einem Foto der Moschee zu kommen. Während ich den Auslöser drücke, sehe ich im rechten Augenwinkel, wie sich zwei Männer von ihrem Gebetsteppich erheben und im Eilschritt auf mich zugehen. »Polizei, Film her.« Zwei biedere Wallfahrer als Polizisten, in Zivilkleidung. Ich stimme einen langen Lobgesang auf Saddam Hussein an, den »neuen Nebukadnezar« und »König von...

Erscheint lt. Verlag 1.10.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
Reisen Reiseberichte
Schlagworte Abenteuer • Afrika • Amerika • Asien • Reise • Reisebericht • Reisebuch • Reiseerzählungen • Reisen • Reisen Geschichten • Reisereportagen • Reisereporter • Reisetipps • Scheißleben • Südamerika • USA • Weltreise • weltreise buch • weltreise geschenk • weltreisende
ISBN-10 3-492-99464-4 / 3492994644
ISBN-13 978-3-492-99464-4 / 9783492994644
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