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Riss (eBook)

Mein Leben zwischen Hymne und Hölle
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45350-6 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
17,99 inkl. MwSt
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Christian Schenk: Ein Mann im Wahn, dessen schwere bipolare Störung in der depressiven Phase in Verfolgungswahn ausgeartet ist. Ein Mann, der an seinen euphorischen Tagen glaubt, die Erde aus den Angeln heben zu können, glaubt, der König der Welt zu sein. Und tatsächlich ist Christian Schenk ein König. Denn er hat sich mit dem Olympiasieg im Zehnkampf in einem phantastischen Wettbewerb selbst zum König der Athleten gekrönt. Mit Hilfe von Fred Sellin gewährt er einen so intimen, so existenziellen Blick in seine kranke Seele, wie wir es nur sehr selten lesen dürfen. Ein Buch, das die tiefe Schwärze im Leben eines Menschen erzählt, der eins im gleißenden Licht stand. 'Ich öffne nicht die Tür, wenn es klingelt. Das Telefonkabel habe ich ausgestöpselt, das Handy lautlos gestellt. Ich dusche nicht, weder morgens noch abends. Ich esse auch nicht. Der Kühlschrank ist leer, die Vorräte sind aufgebraucht. Bis auf einige Flaschen Wasser. Manchmal trinke ich einen Schluck davon. Ich muss trinken. Ich sollte auch etwas essen. Aber ich schaffe es nicht, vor die Tür zu gehen.'

Fred Sellin, Jahrgang 1964, studierte Journalistik, arbeitete als Redakteur bei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen. Als freier Autor hat er unter anderem die Autobiografien von Maria Höfl-Riesch, den Klitschko-Brüdern, Dagur Sigurdsson und Ben Becker sowie Biografien über Heinz Rühmann und Boris Becker verfasst.  Zuletzt erschien bei Droemer 'Der Riss'.

Fred Sellin, Jahrgang 1964, studierte Journalistik, arbeitete als Redakteur bei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen. Als freier Autor hat er unter anderem die Autobiografien von Maria Höfl-Riesch, den Klitschko-Brüdern, Dagur Sigurdsson und Ben Becker sowie Biografien über Heinz Rühmann und Boris Becker verfasst.  Zuletzt erschien bei Droemer "Der Riss". Christian Schenk, geboren 1965 in Rostock, gewann bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul die Goldmedaille im Zehnkampf. Nach der Wende startete er für die Bundesrepublik, holte bei der WM 1991 in Tokio Bronze. Nach seiner Sportkarriere arbeitete er erfolgreich als selbständiger Unternehmer. Er erkrankte an Depression, leidet an bipolarer Störung. Nach zwei gescheiterten Ehen (zwei Söhne) lebt er mit seiner schwerkranken Mutter in seinem Elternhaus auf der Insel Rügen.

Wurzeln


Als ich vier Jahre alt war, geriet meine kleine Welt aus den Fugen. Ohne dass ich es bemerkte. Oder ich verdrängte es, was ich für wahrscheinlicher halte. Als Kind ist man gut darin.

Wir wohnten in Kühlungsborn an der Ostsee. In einem Mehrfamilienhaus – genauer gesagt waren es vier Familien –, nicht weit vom Strand entfernt. Man ging bis zum Ende der Straße, folgte dort einem kleinen Schleichweg, schon spürte man den weichen Sand unter seinen Füßen. Und links davon sah man die Seebrücke. Zu der Zeit war sie nicht viel mehr als ein verlängerter Steg. Manchmal spielte ich darauf, aber noch lieber tobte ich über den Strand. Hauptsache, ich musste nicht stillsitzen. Mein Bewegungsdrang war unerschöpflich, selbst abends noch, dass meine Eltern manches Mal stöhnten.

Kühlungsborn, der Name übrigens eine Schöpfung der Nazis, galt als das Ostseebad der DDR. In den Sommermonaten überfluteten Tausende Urlauber den Ort. Natürlich nicht einfach so, der Arbeiter-und-Bauern-Staat organisierte und reglementierte die Erholung des werktätigen Volks. Zum Beispiel brauchte man einen sogenannten Ferienscheck, um an eine Unterkunft zu kommen. Solche Ferienschecks bekam nicht jeder, sie wurden zugeteilt.

Die Hotels hießen nicht Hotel, sondern Ferienheim, zumindest die meisten, und gehörten dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund. Campingplätze existierten auch, sie wurden Zeltplätze genannt und standen ebenfalls unter staatlicher Kontrolle. In der Ferienzeit waren sie notorisch überbucht, oder anders gesagt: brechend voll. Jede Schlafgelegenheit war heiß begehrt – und bei den Behörden genau registriert. Denn Kühlungsborn war auch Grenzgebiet, schwer bewacht. Vierzig Kilometer geradeaus, und man wäre im Westen gelandet, beim Klassenfeind. Deswegen war es nie eine gute Idee, mit einem Schlauchboot oder einem anderen Wassergefährt anzureisen. Das machte einen sofort verdächtig. Unnötiger Aufwand war es obendrein, auf die Ostsee durfte man damit nämlich nicht.

Das nur, um meine Kindertage ein wenig in den gesellschaftspolitischen Umständen, die damals herrschten, zu verorten. Als Vierjähriger beschäftigte mich nichts davon, außer dass mir natürlich auffiel, wenn sich im Sommer am Strand die Leute stapelten. Und dass meine Mutter sich beklagte, wenn die Regale im Konsum mal wieder leer waren, weil die Urlauber alles weggekauft hatten.

Was mich viel mehr interessierte, war das, was sich in der Sporthalle abspielte. Angesichts meines enormen Bewegungsdrangs meinte mein Vater, ich sei hyperaktiv. Und da er glaubte, dass ich später einmal relativ groß werden würde, meldete er mich beim Turnen an. Wasserspringen hätte er auch gut gefunden, aber Wasserspringer gab es in Kühlungsborn nicht. Turnen sei ideal für eine gute körperliche Koordinationsfähigkeit, überhaupt als Basisausbildung für andere Sportarten, für die Beweglichkeit und was er sonst noch aufzählte. Damit wollte er mich nicht überzeugen oder mir etwa das Training schmackhaft machen. So lief das in unserer Familie nicht. Vater sagte, was wir machen sollten, und wir machten es. Und Punkt.

Das soll keineswegs heißen, dass ich vom Turnen nicht begeistert gewesen wäre. Anders ließe sich schwer erklären, warum ich sechs Jahre dabeiblieb, mir all die Schmerzen antat. Dreimal die Woche fuhr ich von Kühlungsborn Ost nach Kühlungsborn West, dort stand unsere Trainingshalle. Ich schaffte es in die Leistungsgruppe, durfte bei Wettkämpfen starten, errang Urkunden und Medaillen.

Woran ich mich jedoch vor allem erinnere, sind Schmerzen. Und Tränen. Und in Verbindung damit an eine spezielle Art des Querspagats, den wir, gestützt auf zwei Hockern, vollführen mussten. Die Hocker deshalb, weil wir mit unseren Beinen über die Hundertachtzig-Grad-Streckung hinauskommen sollten, die beim normalen Spagat auf dem Boden möglich sind. Negativ dehnen, nannte unser Trainer das.

Sooft ich diese Übung wiederholte, jedes Mal trieb sie mir Tränen in die Augen. Aber das schafften andere Übungen auch. Oder kleinere Trainingsunfälle. Einmal stürzte ich vom Barren. Mein Schädel brummte, war bestimmt eine leichte Gehirnerschütterung. Trotzdem radelte ich zum nächsten Training wieder hin. Sport und Schmerz waren für mich so etwas wie siamesische Zwillinge. Ich glaubte, dass man leiden muss, um richtig gut zu werden.

Und ich wollte meinem Vater ein guter Sohn sein. Das wollte ich bestimmt. Und bestimmt wollte ich das umso mehr, je seltener ich ihn zu sehen bekam.

Vater arbeitete im Krankenhaus. Ich glaube, es war seine erste Stelle als Arzt. Wobei die Medizin nicht sein erster Beruf war. Ursprünglich hatte er Bäcker gelernt, unmittelbar nach dem Krieg. In einer kleinen Stadt, die Gnoien heißt und an dem Flüsschen Warbel liegt. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, hätte er dort nicht meine Mutter Ingrid kennengelernt. Sie war die jüngste von drei Töchtern der Bäckerin, die das kleine Familienunternehmen allein führte, seit ihr Mann auf mysteriöse Weise im Gefängnis umgekommen war. Nicht unter den Nazis, das geschah nach der Kapitulation, angeblich hatte ihn jemand denunziert. Es war auch kein normales Gefängnis, in das sie ihn gesteckt hatten, sondern eines der geheimen Straflager der sowjetischen Besatzer. Speziallager Nr. 9 Fünfeichen am südlichen Stadtrand von Neubrandenburg. 1946 waren dort über zehntausend Häftlinge zusammengepfercht. Die Existenz solcher Lager wurde totgeschwiegen, zur damaligen Zeit und bis zum Ende der DDR. Erst danach kam heraus, dass in den Lagern Tausende wie Vieh dahinvegetierten und starben. Wer weiß, was sie Mutters Familie damals erzählten, die Wahrheit wird es nicht gewesen sein.

In einer Bäckerei zu arbeiten, in den Trümmerjahren, als es kaum Lebensmittel gab, war nicht das Schlechteste. Überhaupt in diesen Zeiten eine Lehrstelle zu kriegen. Vater war auch nicht unzufrieden, aber er wollte mehr. Und er wollte zu seinen Eltern. Von den beiden hatte er in seinem Leben bisher nicht viel gehabt. Sein Vater, also mein Großvater, Arnold Schenk, war früher Stummfilmmusiker gewesen, Pianist. Und anscheinend ein ziemlich unruhiger Geselle. Nach der Geburt seines Sohnes, 1929, hielt es ihn nicht lange zu Hause. Er tingelte über die Dörfer, spielte in Kinos und Wirtshäusern Klavier. Damit verdiente er seinen Lebensunterhalt. Und den seiner Frau, denn die zog mit ihm durchs Land. Das Kind, meinen Vater, ließen sie bei seiner Großmutter.

Ich sollte noch erwähnen, dass die Familie in Schneidemühl lebte, zunächst Hauptstadt der Provinz Posen-Westpreußen, dann von Pommern. Erst als Opa Arnold zur Wehrmacht eingezogen wurde, kam die Mutter zu ihrem Sohn zurück. Dafür diktierte jetzt der Krieg den Alltag. Schneidemühl blieb lange einigermaßen verschont. Und als in den letzten Kriegswochen drei Viertel der Stadt in Schutt und Asche fielen, im Zentrum blieb kaum ein Gebäude stehen, hielten sie sich zum Glück nicht mehr dort auf.

Großmutter war rechtzeitig mit Verwandten nach Stralsund geflüchtet. Und meinen Vater hatten sie zum Volkssturm geholt, Panzergräben ausheben, Hitlers letztes Aufgebot für den Endsieg. Zu der Zeit war er fünfzehn, ideologisch längst auf Kurs gebracht, wie das in den braunen Jahren üblich war: Mit zehn Pimpf beim Deutschen Jungvolk, mit vierzehn zur Hitlerjugend und da gleich Gefolgschaftsführer, dreißig Jungen unter sich. Vergessen die Zeit als katholischer Messdiener. Kurz vor Kriegsende meldete er sich sogar freiwillig für ein Spezialkommando, das er wohl kaum überlebt hätte. Als Pilot einsitziger und mit Bomben bestückter Flugzeuge sollte er feindliche Ziele anvisieren und sie dann im Sturzflug vernichten. Der Marschbefehl erreichte ihn noch. Doch bevor er sich zur Fliegerstaffel in Nürnberg durchschlagen konnte, zogen dort die Amerikaner ein, und das Schlachten hatte ein Ende.

Das Nachkriegswirrwarr begann. Mein Vater als Jugendlicher mittendrin. Zuerst Stralsund. In der Stadt überall Schilder: »Wer plündert, wird erschossen!« Dann wieder Polen, Schneidemühl, weil die Sowjets das so wollten. Von den Besatzungssoldaten dort lernte er, wie Angeln auf Russisch ging: Handgranate in den Teich, ein kräftiger Rums, und dann musste die Mahlzeit nur noch von der Wasseroberfläche gekeschert und gekocht werden.

Als der erste friedliche Sommer begann, rafften er, seine Mutter und zwei Tanten schon wieder ihre Habseligkeiten zusammen. Andernfalls hätten sie polnische Staatsbürger werden müssen, was sie nicht wollten. Also noch einmal Stralsund, aber nur für kurze Zeit. Von dort aufs Land zu einem Bauern. Bis mein Vater in Gnoien landete: Bäckerei Schoknecht, Teterower Straße.

Drei Jahre blieb er dort, dann fand die ersehnte Familienvereinigung statt, und zwar in Rostock. Opa Arnold war inzwischen aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und hatte am hiesigen Theater eine Stelle als Korrepetitor zugewiesen bekommen. Oma arbeitete beim Rat der Stadt, heute würde man Stadtverwaltung sagen. Und mein Vater kam als Bäcker und Konditor in einem Café unter. Alle drei wohnten, anfangs zusammen mit zwei Tanten, in der Kirchenstraße 1, Kröpeliner-Tor-Vorstadt. Eine Adresse, die fünfunddreißig Jahre später auch für mich eine Rolle spielen sollte.

Zu Gnoien ist noch zu sagen, dass mein Vater dort seine Liebe zum Sport entdeckte, speziell zum Laufen. Ob Kurz-, Mittel- oder Langstrecke, bei den Kreismeisterschaften lief er allen davon. Er probierte es auch mit Fußball und Handball, sah sein größtes Potenzial jedoch in der Leichtathletik. Was sich – beziehungsweise: was er – später bestätigte, dann als Hürdenläufer. Er startete sogar für die Nationalmannschaft und...

Erscheint lt. Verlag 29.8.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Schlagworte Alleinsein • Angststörung • Babak Rafati • Bipolare Störung • Boderline • Burnout • DDR-Sport • Depression • Doping • Einsamkeit • Erschöpfung • IRRE • Leistungssport • manisch-depressiv • Männer weinen nicht • Männliche Depression • Nicolas Müller • Olympia • Olympische Spiele • Panikattacken • Paranoia • Psychiatrie • Psychische Belastung • Robert Enke • Ronald Reng • Scheitern • Sebastian Deissler • Stimmen hören • Stress • Suizid • Trauma • Vater-Sohn-Beziehung • Victor Staudt • Wahn • Zehnkampf
ISBN-10 3-426-45350-9 / 3426453509
ISBN-13 978-3-426-45350-6 / 9783426453506
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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