Letzte Reisen (eBook)

Wie Sterbende mich lehrten, was es heißt zu leben
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44086-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Letzte Reisen -  Ilka Piepgras
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Sterben ist heute ein Tabuthema. Dabei suchen alle, die damit konfrontiert sind, nach einem Umgang mit dem Tod. Ilka Piepgras, herausragende Autorin des Zeit Magazins, hat deswegen beschlossen, ehrenamtlich als Sterbebegleiterin zu arbeiten. Bei den Sterbenden und im Hospiz lernt sie dabei nicht nur viel über den Tod, sondern auch über das Leben. Als Ilka Piepgras von dem plötzlichen Tod ihres gerade fünfzigjährigen Nachbarn überrumpelt wird, fühlt sie sich hilf- und sprachlos. Und schlagartig wird ihr bewusst: Ein zweites Mal will sie dem Tod nicht unvorbereitet begegnen. Ein Wunsch, der umso drängender wird, als ihre Eltern schon alt sind. Ilka Piepgras fasst schließlich den Entschluss, eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin zu machen. Wie gelingt ein gutes Sterben - das ist die Frage, die sie sich angesichts der Menschen, sie sie auf ihrem letzten Weg begleitet, immer wieder stellt. Die Begegnungen mit Sterbenden verändern ihre Sicht auf die Welt und machen sie letztlich fokussierter und gelassener. Und sie führen zu überraschenden Gesprächen mit Freunden, Kindern - und ihren Eltern. Ihr Vater, dem sie von ihrer Arbeit erzählt, ist erfreut: 'Wie schön. Dann können wir ja endlich übers Sterben reden.' Und auch davon erzählt Ilka Piepgras in ihrem Buch.

Ilka Piepgras, Jahrgang 1964, ist Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie studierte in München Politische Wissenschaften und begann 1991 als Reporterin bei der 'Berliner Zeitung' zu arbeiten. Nach einem Studienjahr in Harvard wechselte sie 1999 zur deutschen Ausgabe der 'Financial Times Deutschland', wo sie die Buchseiten in der Weekend-Beilage betreute. Heute ist sie Redakteurin im Magazin der ZEIT.

Ilka Piepgras, Jahrgang 1964, ist Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie studierte in München Politische Wissenschaften und begann 1991 als Reporterin bei der "Berliner Zeitung" zu arbeiten. Nach einem Studienjahr in Harvard wechselte sie 1999 zur deutschen Ausgabe der "Financial Times Deutschland", wo sie die Buchseiten in der Weekend-Beilage betreute. Heute ist sie Redakteurin im Magazin der ZEIT.

Wie es begann


Der 16. Mai 2012, der Tag vor Christi Himmelfahrt, ist ein prächtiger Frühlingstag in Berlin. Ich bin zu Hause, als es plötzlich an der Tür klingelt, einmal, zweimal, Sturm. Normalerweise passiert nicht viel in unserer ruhigen Wohngegend im Südwesten der Stadt. Jetzt hält jemand die Klingel gedrückt, ein schriller Dauerton, der nichts Gutes verheißt.

Am Gartentor steht Lea, die Sechzehnjährige von nebenan. Das Handy am Ohr, springt sie auf der Straße herum wie ein verwundetes Tier. Während sie zusammenhangslose Sätze ins Telefon schreit, winkt sie mich hinüber in ihr Haus und ins Wohnzimmer hinein. Dort liegt ihr Vater merkwürdig verzerrt auf der Couch, Holger, halb verhüllt von einer verrutschten Wolldecke. Sein Gesicht hat eine blaugraue Farbe, wie von einem enormen Bluterguss. »Kümmere dich um den Kleinen!«, ruft Lea, und meine Aufgabe für die nächsten Stunden ist klar: Leas vierjährigen Bruder abschirmen. Er soll nicht sehen, wie Rettungssanitäter seinem Vater das Hemd aufreißen und den Brustkorb massieren, wie sie über einen Schlauch Sauerstoff in seine Lunge pressen und schließlich versuchen, ihn mit Stromstößen zurückzuholen. Alles wird gut, beschwichtige ich den Jungen, bald ist der Papi wieder gesund. Das Gerede fällt mir leicht, ich glaube zu diesem Zeitpunkt selbst daran.

Wir haben Zirkus gespielt, als der Ambulanzwagen vorfuhr, und auf dem Trampolin gehüpft, als die Rettungssanitäter Sauerstoffflaschen ins Haus schleppten. Jetzt kommt ein Sanitäter aus dem Haus und raucht, an den Wagen gelehnt, eine Zigarette. Er wirkt müde und bedrückt. Jemand zieht mich beiseite, Holger habe es leider nicht geschafft. Wie, nicht geschafft? Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dann werden mir die Knie weich. Holger, ein Mann von Anfang fünfzig, so alt wie mein eigener Mann, lebt nicht mehr? Holger, der mir eben noch – das Basecap auf dem Kopf und eine Zigarette im Mundwinkel – nachbarschaftlich über die Hecke zugewinkt hat: Hey, alles cool bei dir? Aus heiterem Himmel weg?

Herzversagen, heißt es später. Als abends der Leichenwagen vor dem Nachbarhaus hält und ein Aluminiumsarg reingetragen wird, sickert die Erkenntnis langsam in mein Bewusstsein.

 

Am nächsten Tag fliege ich nach Athen, die Reise war lange geplant. Ich laufe im Regen über die Akropolis, und von überall kommt mir Holgers blaugraues Gesicht entgegen: Aus den Ruinen und den Vitrinen des Museums scheint es plötzlich heraus, auf den Straßen und im Restaurant blickt es mich an. Ich werde es nicht mehr los, auch später in Berlin nicht. Noch heute, fünf Jahre danach, holt es mich gelegentlich ein.

Als unser Nachbar starb, war ich 47 und hielt mich für unverwundbar. Ich hatte zwei Kinder zur Welt gebracht und als Reporterin in einem venezolanischen Gefängnis recherchiert, ich beherrschte die Krieger-III-Position beim Yoga, ohne zu wackeln. Wie man einen Kondolenzbrief verfasst, wusste ich nicht. Bis unser Nachbar starb, stellte ich mir unter Sterben nicht viel vor, es war ein abstrakter Begriff. Eines dieser unangenehmen Themen für später, wenn man alt ist. Etwas, das weit weg in Syrien geschah oder abgeschirmt von der Öffentlichkeit auf der Intensivstation eines Krankenhauses. Auch meine Großeltern hatte ich nicht tot gesehen. »Tu dir das nicht an«, hieß es in der Familie, als es um den letzten Besuch bei der sterbenden Großmutter im Pflegeheim ging, »bewahr dir das Bild von ihr aus besseren Tagen.« Ich habe mich vor ihrem letzten Anblick gedrückt.

Früher, als die Kirchen den Prozess des Sterbens gestalteten und dem Tod einen Sinn gaben, wurden Menschen von ihren Familien auf dem Sterbebett begleitet. Es gehörte zu den Pflichten eines Christen, sich der Sterbenden anzunehmen. Man kannte tröstende Gebete und forschte nach ungebeichteten Vergehen. Die mittelalterliche Ars Moriendi – die Kunst, zu sterben – hatte einen pädagogischen Ansatz: Sie verstand sich als erlernbares Handwerk, um mit Hilfe von Bibeltexten und dem Glauben an Jesus Christus die Angst vor dem Tod zu überwinden.

Heute ist das Sterben hochspezialisierten Gruppen überantwortet. Die Dienste, die dem Toten erwiesen werden, sind käuflich. Die Fortschritte der Intensivmedizin haben die Dauer des Sterbens dramatisch verlängert und den Tod als Ereignis beinahe abgeschafft – und damit auch das Wissen um die Tradition. Der Tod als natürlicher Endpunkt menschlichen Lebens ist aus dem Blick geraten. Fachkräfte beschäftigen sich mit dem Sterben, und weil die Menschen immer älter werden und weit entfernt von ihren Kindern leben, geschieht es gewöhnlich in Pflegeheimen oder Kliniken. Dabei wollen die meisten zu Hause sterben. Aber in den Familien weiß kaum noch einer, wie das geht.

 

»Der erste Tote bedeutet für jeden Menschen einen gewaltigen Einschnitt«, sagt die Therapeutin, zu der ich ein halbes Jahr nach Holgers Herzversagen gehe. Ich bin dünnhäutig geworden, überreizt und empfindlich. Schlafe schlecht und werde scheinbar grundlos von Angst überfallen. Längst geht es nicht mehr um den Schock der Sterblichkeit – sondern um die Furcht vor dem Verlust. Vielleicht wird morgen mein eigener Mann blau angelaufen auf dem Sofa liegen. Vielleicht geht alles noch vierzig Jahre gut – aber irgendwann ist es so weit. Unausweichlich. Doch wie soll ich weiterleben mit diesem Wissen, dass jede Sekunde alles zu Ende sein kann?

»Stellen Sie sich vor, es klingelt. In der Tür steht ein Polizist. Er eröffnet Ihnen, Ihr Mann sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Was tun Sie?« Schritt für Schritt lotst mich die Therapeutin durch die quälende Szenerie. Mit geschlossenen Augen spiele ich das, was ich am meisten fürchte, gedanklich durch – von der Reaktion auf die Todesnachricht über den ersten Anruf bis zu jenem Musikstück, das mir Trost bringt. Ich reflektiere die Art, wie ich Abschied nehmen und die Trauerfeier gestalten würde. Nachdem ich mir das Unvorstellbare vorgestellt habe, weiß ich, es ist zu überstehen. Es gibt ein Leben nach dem Tod eines geliebten Menschen, so schmerzvoll es auch sein wird. Am Ende der Sitzung bin ich verheult und erschöpft – und sehr befreit.

 

Ich bin Jahrgang 1964, geboren auf dem Höhepunkt des Babybooms, der nach dem Krieg einsetzte und mit dem Pillenknick endete. Babyboomer sind in Frieden und Wohlstand hineingeboren worden, sie streben nach Vervollkommnung, ihr Lebensstil ist materialistisch und auf Fortschritt ausgerichtet. Wir sind unablässig mit uns selbst beschäftigt und lehnen körperlichen Verfall ab. Wir erleben Sinnkrisen und sehen uns wechselweise als Gewinner oder Versager, aber an den Tod denken wir nicht. Wir haben Aerobic erfunden und die Bedeutung atmungsaktiver Sportbekleidung erkannt. Hunger, Angst, Leiden nehmen wir nicht als reale Bestandteile des Lebens wahr, sondern als unvorstellbaren Bruch. Wir sind existentiell verzärtelt, was uns grundlegend von Eltern und Großeltern unterscheidet.

Babyboomer glauben, der Tod gehöre irgendwie zum Leben, aber auf keinen Fall zum eigenen. Sie leben unbehelligt vom Tod, obwohl er allgegenwärtig ist: Man liest und hört von ihm in Filmen und Romanen, begegnet ihm beim Fernsehen und in Computerspielen. Aber die Konfrontation ist nicht unmittelbar, sondern fiktiv. In der Babyboomer-Welt, einer komplett materialistischen Welt, ist der Tod schockierend abstrakt. Babyboomer sind so fest verankert in ihrer Welt, dass sie allein die Vorstellung, sie irgendwann verlassen zu müssen, als Beleidigung empfinden. Der Tod ist die ultimative narzisstische Kränkung, er ist unverzeihlich.

Statistisch gesehen haben Babyboomer zum jetzigen Zeitpunkt eine Lebenserwartung von über achtzig Jahren. Und sie steigt sogar um zwei bis fünf Jahre pro Dekade – und damit auch der Eindruck, die Lebensspanne verlängere sich immer weiter. In einer Zeit, in der Rockbands noch mit siebzig Fußball-Arenen füllen und über sechzigjährige Frauen ihr erstes Kind gebären, einer Zeit, in der Jugendliche sich wie Erwachsene verhalten und Erwachsene wie Jugendliche, ist Alter ein schwammiger Begriff geworden und mehr denn je eine Frage der Haltung. »Amortality« nennt die britische Autorin Catherine Mayer dieses Phänomen, was man frei mit »Verweigerung der Sterblichkeit« übersetzen kann. Sterblichkeitsverweigerer leben durchgängig im selben Takt, egal ob als Teenager oder Greis. Sie wehren sich dagegen, Altern und Tod als Größe in ihrer Lebensgestaltung anzuerkennen.

Sterblichkeitsverweigerer vertrauen darauf, dass die Wissenschaft ihnen dabei helfen wird, lange gut zu leben. Sie schauen hoffnungsfroh nach Kalifornien, wo Biowissenschaftler und Tech-Milliardäre eine Allianz gegen den Tod gebildet haben. In den Zukunftslaboren des Silicon Valleys wirkt der Tod noch überholter und unzeitgemäßer als anderswo. Viel Geld fließt in Stiftungen mit programmatischen Namen wie »Forever healthy« oder »Life Extension Foundation«. Dort geht man davon aus, dass Altern eine Krankheit ist, die man bald heilen kann. J. Craig Venter beispielsweise, bekannt durch die Entschlüsselung des Genoms, hat sich mit »Human Longevity, Inc.« zum Ziel gesetzt, mit Hilfe der DNA-Sequenzierung den Tod zu überlisten. Wenn es gelingt, die Funktion einzelner Gene systematisch zu bestimmen, könnten ein paar Jahrzehnte mehr Lebenszeit herausspringen, oder auch mehr. Und bei Calico, einem von Google gegründeten Biotech-Unternehmen, arbeiten Computerspezialisten und Gentechniker Hand in Hand an Langlebigkeitsstrategien. Unsterblichkeit, so scheint es, ist irgendwann nur noch eine Frage des Geldes.

Am anderen Ende des Spektrums tüfteln...

Erscheint lt. Verlag 25.8.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 5 Dinge • 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen • alte Eltern • Älter werden • Angstbewältigung Sterben • Angst vor dem Sterben • Angst vor dem Tod • Bronnie Ware • Christiane zu Salm • die letzten Dinge • Dieser Mensch war ich • die Sterbende am meisten bereuen • Eltern sterben • Freund stirbt • Geschichten vom Sterben • Hospiz • Hospizbewegung • Ilka Piepgras • in Würde sterben • kurz vor dem Tod • letzte Dinge • Mutter stirbt • Palliativmedizin • Selbstbestimmtes Sterben • Sinnsuche • Sterbebegleiterin • Sterbebegleitung • Sterbebegleitung Bücher • Sterben • Sterbevorbereitung • Tabu-Thema • Tod • Tod & Trauer • Trauerbewältigung • Trost • Trost bei Tod • Trost finden • Umgang mit dem Sterben • Umgang mit dem Tod • unheilbar krank • Vater stirbt • Vergänglichkeit • Wenn Eltern älter werden • Würde • Zeit Magazin
ISBN-10 3-426-44086-5 / 3426440865
ISBN-13 978-3-426-44086-5 / 9783426440865
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