Der deutsche Gruß (eBook)

Geschichte einer unheilvollen Geste
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
160 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490140-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der deutsche Gruß -  Tilman Allert
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Der in fünf Sprachen übersetzte Klassiker in überarbeiteter und erweiterter Taschenbuchausgabe. Zu den Eigenheiten der Nationalsozialisten gehörte auch der »deutsche Gruß«. Es gibt keine Geste in der Geschichte, die so sehr für ein Regime steht wie dieser Gruß. In seiner mittlerweile klassischen Studie untersucht Tilman Allert, wie diese Geste erfunden und dann verbreitet wurde, wie sie zur Unterscheidung von Anhängern und Gegnern diente, aber auch Gegenstand der Belustigung war und wie es nach dem verlorenen Krieg um sie stand. Die Neuausgabe ist aktualisiert und um ein Kapitel über die Geschichte des Grußes in der DDR erweitert.

Tilman Allert, geboren 1947, studierte Soziologie an den Universitäten Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Nach seiner Promotion 1981 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen und habilitierte sich 1994. Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und lehrt als Gastdozent an den Universitäten von Tiflis und Eriwan sowie an der International Psychoanalytical University in Berlin. Er schreibt regelmäßig u.a. für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die »Neue Zürcher Zeitung«, »Brand Eins« und »Die Welt«.

Tilman Allert, geboren 1947, studierte Soziologie an den Universitäten Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Nach seiner Promotion 1981 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen und habilitierte sich 1994. Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und lehrt als Gastdozent an den Universitäten von Tiflis und Eriwan sowie an der International Psychoanalytical University in Berlin. Er schreibt regelmäßig u.a. für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die »Neue Zürcher Zeitung«, »Brand Eins« und »Die Welt«.

2 Der Gruß als erste Gabe


Das Nachdenken über den »deutschen Gruß« beginnt mit einem Gedanken zu seiner Bezeichnung. Es war und ist bis heute üblich, den Hitlergruß als »deutschen Gruß« zu bezeichnen. Das weist auf den Charakter der Verordnung hin und markiert einen Eingriff in die Sphäre der seit Hegel so genannten Sittlichkeit, aus der heraus sich erst eine Staatlichkeit entwickelt – je nach kultureller Tradition entstehen unter den Angehörigen der Sprachgemeinschaft verschiedene Arten zu grüßen. Man kann Deutsche anhand ihres Grußes von Niederländern, Franzosen oder Polen unterscheiden. Angehörige der deutschen Sprachgemeinschaft grüßen naturgemäß auf Deutsch – aber den »deutschen Gruß« gab es vorher nicht. Nominalistische Setzungen, sprachpolitische Erneuerungen in einem derart tiefgreifenden Ausmaß kennen wir in der Geschichte etwa aus den Versuchen der Französischen Revolution, der politischen Zäsur mit der Erfindung eines neuen Kalenders Ausdruck zu verleihen. Noch im Jahr des innenministeriellen Erlasses im Juli 1933 wird die Grußpflicht ausgeweitet auf menschliche Begegnungen im öffentlichen Raum, sie erstreckt sich überdies auf den Briefverkehr und Schriftwechsel sowie auf Amtsgebäude, Flaggen und Uniformen. Es dauert nur wenige Wochen, und es erscheint als selbstverständliche Routine, einen normalen Geschäftsvorgang, die Errechnung des Kontostands oder das Aufstellen einer Gehaltsliste, mit der Formulierung »Mit deutschem Gruß. Heil Hitler« oder nur mit »Heil Hitler« zu beenden und darunter den eigenen Namenszug zu setzen.

Im öffentlichen Raum, d.h. unter Kommunikationsbedingungen hoher wechselseitiger Sichtbarkeit, verbreitet sich das neue Grüßen in hohem Tempo. Zwar ist unbekannt, wie viele Fälle von Grußverweigerung es gab, die schon im Jahre 1933 zur Verurteilung durch Sondergerichte, zu Geldstrafen oder zur Inhaftierung in Konzentrationslagern geführt haben, aber es stellt sich schnell heraus, dass der Gruß als ein Seismograph für die Regimezustimmung einsetzbar ist. Jede einzelne seiner Phasen rückt in den Status eines Instruments zur Überprüfung der Loyalität auf. Im Zuge der Verbreitung wird der ursprüngliche Kampfgruß der nationalsozialistischen Bewegung zugleich ein Ort des Verstecks, und zwar paradoxerweise in dem Moment, in dem er aufhört, die Mitgliedschaft zu einer Subkultur nach außen zu demonstrieren. Er verliert das heroische Pathos und gerät in den Sog der Gewöhnung, ist mehr belanglose Routine denn glühendes Bekenntnis, oft dem Vergessen preisgegeben oder sogar riskantem Klamauk überlassen. Das Salutieren der Urlauber vor Hitlers Konterfei am Strand der Insel Sylt sowie die ironische Adaptation Frankfurter Jugendlicher um Emil Mangelsdorff zeigen, wie unterschiedlich mit dem Gruß umgegangen wurde.

Abb. 2  Der Gruß als Urlaubserinnerung –
mit Hitlerporträt aus Sand

Bislang folgen wir den Begriffen der Umgangssprache, wenn wir vom »Hitlergruß« sprechen. Aber handelt es sich überhaupt um einen Gruß? Von der Handlungslogik der Situation her, in der er typischerweise erfolgt, scheint die Frage unsinnig. Das Bild ändert sich, wenn wir ihn in seine verschiedenen Bestandteile zerlegen und dies unter dem einfachen, aber doch zentralen Gedanken tun, dass im Grüßen systematisch allgemeine Erzeugungsregeln herrschen und dass diese allgemeinen Regeln von denjenigen zu unterscheiden sind, die das Grüßen in einer je besonderen und historisch gebundenen Form einrichten. Nur über diese Differenz lässt sich der Hitlergruß überhaupt auf sein Potential der Eröffnung befragen. Widmen wir uns zunächst in einer kurzen begrifflichen Skizze der allgemeinen Funktionsbedeutung des Grüßens.[3]

Abb. 3  Emil Mangelsdorff und Freunde aus der Frankfurter »Swing-Jugend« –
unter seinesgleichen grüßte man sich mit »Swing-Heil«

Sie verdiente einen größeren Raum, weil wir dabei auf Grundlagenprobleme der sozialwissenschaftlichen Erfassung menschlichen Handelns stoßen, die hier jedoch nicht erörtert werden sollen. Zwei Zentralmetaphern des soziologischen Denkens, das Schachspiel und das Theaterspiel, sollen deshalb genügen. Demnach erfolgt menschliches Handeln nach Regeln, die wie auf einer Bühne befolgt werden, und das Handeln entsteht unter Zugzwang, so wie im Schach ein gesetzter Zug vorherige Möglichkeiten schließt und neue eröffnet. Wichtig ist weiterhin der Gedanke, dass Regeln, um befolgt zu werden, den Handelnden nicht bewusst sein müssen.

 

Schon an der einfachen Abfolge Gruß und Gegengruß ist leicht ersichtlich, dass wir es mit einer Sequentialität zu tun haben, in die jeweils Handlungsoptionen eingebaut sind. Sie variieren danach, wer jeweils die Grußinitiative übernimmt – auch beim Schachspiel ist es nicht gleichgültig, wer das Privileg des ersten Zugs genießt, deshalb ist schon die Wahl der Figurenfarbe von Bedeutung. Der zweite Schritt beim Grüßen, das Annehmen, ist eine logische Implikation des Erwiderns, geht somit empirisch in der Erwiderung auf – wer zurückgrüßt, hat den Gruß angenommen. Dennoch lässt sich analytisch das Annehmen vom Erwidern unterscheiden, denn annehmen lässt sich ein Gruß in seiner Funktion als Eröffnung, annehmen lässt er sich darüber hinaus auch in seiner konkreten Ausführung und ihrer Zuschreibung. Im Fall des Hitlergrußes etwa reflektiert noch der scheinbar belanglose Zusatz, der Gruß sei »ohne Zuruf« zu entrichten, die sequentielle Logik. Insofern eröffnet, genau genommen, sogar der erste Akt des Grüßens nicht einen Austausch, sondern schließt eine vorhergehende andere Aktivität ab – grüße ich jemanden mit »Hallo« oder »Guten Tag«, so beendet dieser Gruß eine vorausgehende Aktivität, in die ich involviert war, oder klammert sie zumindest für die Dauer der soeben eingerichteten Grußsequenz aus.

Grüßen begründet Sozialität – es lässt die für Menschen grundlegende Wechselseitigkeit als Grundlage und Medium der Begegnung überhaupt erst entstehen. In den Worten des Philosophen Hans Blumenberg ist der Gruß »eine Technik zur Herstellung von Selbstverständlichkeit, mit der Implikation, dass eben die darin enthaltene Zusicherung dem ganz und gar nicht Selbstverständlichen dient«.[4] Es erscheint nicht zufällig, dass die äußeren Begrenzungen humaner Praxis, Geburt und Tod, in der Metaphorik des Grußes interpretiert werden. Es gibt kaum eine Form des Austauschs, die nicht auf den Gruß als eine ausdrückliche Artikulation des Anfangs, als ein Mittel der Bekräftigung einer sozialen Zugehörigkeit, als Selbstbindung sowie als Einladung an ein zukünftiges Tun zurückgreift.[5] Das gilt noch für den »letzten Gruß« am Grab, der im Hinweis auf das Ende einer Beziehung zum Adressaten diesen mit dem Attribut »letzter« von der Erwiderung entpflichtet und darin auf die Möglichkeit der Fortsetzung bzw. Öffnung anspielt. Wenn am Anfang das Wort war, so dürfen wir ein jüdisch-christliches Bild aufgreifen, dann war im Wort der Gruß: Im Gruß liegt eine Urform humanen Austauschs vor. Folgt man der Etymologie des mittelhochdeutschen »gruozen«, die das »Zum-Sprechen-Bringen«, aber auch das »Herausfordern« und sogar das »Angreifen« einschließt, dann wird die auslösende Situation als kritische Entscheidungssituation sichtbar.

Das Grüßen, das ist der zweite Befund, ist alles andere als harmlos, vielmehr ist es ein Mittel, die Krise der Begegnung zu bewältigen. Appell, Drohung und Heimtücke, Usurpation und Gewalt liegen als Handlungsoptionen in unmittelbarer Nachbarschaft des Grüßens, aber auch die Bitte, der Eid und der Segen, Huldigung und Glückwunsch, das Geschenk sowie das gemeinsame Mahl.[6] Besonders die Unterwerfungsgeste, die »ungleichheitsbetonte Grußgebärde« (Schürmann) des Kniefalls oder des Fußkusses, zeigt, dass Begegnung eine Krise sein kann, weil die Beteiligten sich in ungleichen Positionen, in einer Asymmetrie, befinden.[7] In naturgeschichtlicher Hinsicht entsteht mit dem aufrechten Gang und damit der Freisetzung des Auge-Hand-Feldes eine ganze Reihe neuer Möglichkeiten, die Kontaktaufnahme mit Gattungsmitgliedern zu differenzieren: Sowohl die Körperhaltung als auch der Kopf, besonders jedoch Arme und Beine werden Mittel und Medien der Annäherung. Der Vorgang privilegiert die Hand zu einem Organ der gestisch unterstrichenen Wechselseitigkeit – in Abgrenzung von der Möglichkeit, sie in der Begegnung als Waffe oder als Waffenträger einzusetzen.

Der Gruß kann an eine unterbrochene Beziehung anschließen oder eine gemeinsame Beziehung begründen. Man kann aus einer Vertrautheit heraus grüßen oder mit dem Grüßen eine Vertrautheit beginnen lassen. In einer bereits bestehenden Beziehung, nehmen wir die Intimbeziehung als Beispiel, überbringt der Gruß die Kontinuität und aktualisiert, von Kuss und Umarmung sekundiert, die tragende Prämisse des Liebens, die wechselseitige Unterstellung von Gemeinsamkeit und Dauerhaftigkeit. Wenn etwa Liebende sich nach dem Aufwachen einen »Guten Morgen« wünschen, überbrücken sie damit die Zäsur, die die Nacht mit dem Schlaf und dem Personal der Träume der Idee der Gemeinsamkeit bedeutet hat. Das »Gute Nacht« ist von daher nicht eine beliebige Abschiedsformel, vielmehr ist sie eingeschränkt auf Beziehungen, die die Fortsetzung des Austauschs als verlässlich erwartbar unterstellen. Auf die vielfältigen Möglichkeiten, eine schon existierende Beziehung zu bekräftigen, wollen wir nicht weiter...

Erscheint lt. Verlag 8.12.2016
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Eid • Faschismus • Heil Hitler • Hitlergruß • Machtergreifung • Mussolini • Nationalsozialismus • salute romano • Schwur • Sieg Heil
ISBN-10 3-10-490140-6 / 3104901406
ISBN-13 978-3-10-490140-4 / 9783104901404
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