Zur Antike (eBook)

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2016 | 1. Auflage
484 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10072-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zur Antike -  Walter Jens
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Walter Jens zeigt sich hier in seiner Vielfalt: Schlaglichtartig werden in seinen Essays, Fernsehspielen und Übersetzungen Gestalten und Motive der Antike beleuchtet, geschichtlich-mythische bzw. dramatische Stoffe der Weltliteratur originell umgestaltet und aktualisiert, die Wechselbeziehungen zwischen Antike und Moderne veranschaulicht. Die äschyleische Tragödie, die Antigone des Sophokles und der Dramatiker Euripides sind sein Gegenstand ebenso wie Cäsar, Philoktet, Odysseus und die Götter des Olymp. Mythisches tritt in die Dimension der Gegenwart ein und wird zur behandelbaren Geschichte. Die interpretierende Variation gibt dem Mythos seine Zeitlichkeit, dem Modell seine Konkretheit, dem Archetypus seine Historizität zurück. In der Form eines themengebundenen Readers präsentiert der Band den Autor in der Fülle seiner poetisch-essayistisch-wissenschaftlichen Tätigkeit: als gelehrten Ciceronen, der die Modernität des Altertums nachweist, als Novellisten und Fernsehspiel-Autor, als poeta doctus, dem es, im Sinne Thomas Manns, gelingt, den Mythos ins Humane umzufunktionieren und als Übersetzer von Sophokles' Ajas - ein Wissenschaftler, Essayist und Schriftsteller in alledem, der mit Hilfe vielfacher Annäherungsweisen an das klassische Altertum dem scheinbar Fernen Zeitbezogenheit und dramatische Aktualität gibt.

Walter Jens, geboren 1923 in Hamburg, Studium der Klassischen Philologie und Germanistik in Hamburg und Freiburg/Br. Promotion 1944 mit einer Arbeit zur Sophokleischen Tragödie; 1949 Habilitation, von 1962 bis 1989 Inhaber eines Lehrstuhls für Klassische Philologie und Allgemeine Rhetorik in Tübingen. Von 1989 bis 1997 Präsident der Akademie der Künste zu Berlin. Verfasser von zahlreichen belletristischen, wissenschaftlichen und essayistischen Büchern (darunter zuerst 'Nein. Die Welt der Angeklagten' 1950, 'Der Mann, der nicht alt werden wollte', 1955), Hör- und Fernsehspielen sowie Essays und Fernsehkritiken unter dem Pseudonym Momos; außerdem Übersetzer der Evangelien und des Römerbriefes. Walter Jens war seit 1951 verheiratet mit Inge Jens, geb. Puttfarcken. Als 'Grenzgängern zwischen Macht und Geist' wurde beiden 1988 der Theodor-Heuss-Preis mit der Begründung verliehen: 'Gemeinsam geben Inge und Walter Jens sowohl durch ihr schriftstellerisches Werk wie durch ihr persönliches Engagement immer wieder ermutigende Beispiele für Zivilcourage und persönliche Verantwortungsbereitschaft.' Walter Jens starb am 9. Juni 2013 in Tübingen.

Walter Jens, geboren 1923 in Hamburg, Studium der Klassischen Philologie und Germanistik in Hamburg und Freiburg/Br. Promotion 1944 mit einer Arbeit zur Sophokleischen Tragödie; 1949 Habilitation, von 1962 bis 1989 Inhaber eines Lehrstuhls für Klassische Philologie und Allgemeine Rhetorik in Tübingen. Von 1989 bis 1997 Präsident der Akademie der Künste zu Berlin. Verfasser von zahlreichen belletristischen, wissenschaftlichen und essayistischen Büchern (darunter zuerst "Nein. Die Welt der Angeklagten" 1950, "Der Mann, der nicht alt werden wollte", 1955), Hör- und Fernsehspielen sowie Essays und Fernsehkritiken unter dem Pseudonym Momos; außerdem Übersetzer der Evangelien und des Römerbriefes. Walter Jens war seit 1951 verheiratet mit Inge Jens, geb. Puttfarcken. Als "Grenzgängern zwischen Macht und Geist" wurde beiden 1988 der Theodor-Heuss-Preis mit der Begründung verliehen: "Gemeinsam geben Inge und Walter Jens sowohl durch ihr schriftstellerisches Werk wie durch ihr persönliches Engagement immer wieder ermutigende Beispiele für Zivilcourage und persönliche Verantwortungsbereitschaft." Walter Jens starb am 9. Juni 2013 in Tübingen.

Essays


Die griechische Literatur


Wer die griechische Literatur zu klassifizieren sucht, muß, aus vier Gründen, besonders vorsichtig sein. Zuerst: da die Griechen in den Wissenschaften und Künsten jene Modelle erdachten, an deren Perfektion wir noch heute arbeiten, ergibt sich leicht eine fatale Vertraulichkeit, ein Identifizieren und spielerisches Vergleichen: sind »Damals« und »Heute« nicht ähnlich, war in Griechenland nicht schon alles vorhanden, fragt der Betrachter, von der poetischen Chiffre bis zur Fach-Terminologie? Schien nicht selbst die christliche Religion vorgebildet zu sein – Paulus auf dem Areopag, Ödipus als präfigurierter christlicher Märtyrer, der »katholische Charakter der griechischen Tragödie« (W. von Schütz)?

Auf der anderen Seite sucht man, nicht minder extrem, Nietzsches Warnung vor der impertinenten Familiarität beherzigend, zwischen »Hellas« und »Hesperien« gewaltsam zu trennen, griechische Denkweisen als fremd, widerchristlich und ganz und gar eigen zu zeigen: wie könnte man glauben, heißt es, das Hellenische recht zu erfassen, wenn man mit Vokabeln wie »Das Böse« oder »Die Sünde« operiere, während die Griechen doch nur »Das Schlechte« oder »Den Fehler«, Worte ohne moralische Fixierung, kannten?

Die zweite Schwierigkeit: auch der Kenner entgeht nicht leicht der Gefahr, das Überlieferte mit der griechischen Literatur zu verwechseln. In Wahrheit ist die Auswahl willkürlich: von pädagogischen Gesichtspunkten geleitet, dem Aristotelischen Zielbestimmungs-Gedanken folgend, wollte man schon zur Zeit der Spätantike vor allem jene Werke erhalten, in denen, wie man meinte, eine Gattung »ihre eigene Natur fand«. Darüber hinaus war der Gesichtskreis der Zensoren nicht gerade weit: allen Kompilationsinteressen, aller sammelnden Gelehrsamkeit zum Trotz suchte man gerade in einer Zeit, da die koine, das Allerweltsgriechisch, Straßen und Foren beherrschte, die attische Prosa mit dem Signum der Klassizität zu versehen (»Attizismus«). Vom ersten vorchristlichen Jahrhundert über die Hadrians-Ära und die Epoche der zweiten Sophistik (zur Zeit der Antonine) bis zum Ausgang der Antike, bis zur Schließung der Platonischen Akademie, 529 n. Chr., und, im gleichen Jahr, der Eröffnung des Benediktinerklosters auf dem Monte Cassino, entschied der Attizismus, rigoros und pathetisch, über Gedeih und Verderb der griechischen Literatur.

Wer bedenkt, wie manches bedeutsame Zeugnis der klassizistische Purismus nicht des Tradierens für wert befand, wird die von »romantischen« Gesichtspunkten bestimmten Auswahl-Prinzipien beklagen – doch zugleich bedenken müssen, daß agonale Sichtungen und gnadenlose Siebungen seit eh und je dem griechischen Wesen entsprachen: Wettkampf allüberall, und nur einer kann siegen; nur einer, der Finder, stößt auf das Geheimnis der Form, er-findet nicht, sondern entdeckt ein Prä-Existentes, befreit es aus der Hüllung des Steins, hebt die Gestalt aus dem Gefängnis des Marmors, löst das Hexametermaß aus dem Sprachfleisch heraus … und diesem Mann gilt es zu folgen, seine Errungenschaften muß man kunstreich verwandeln – auf keinen Fall eine zweite Schöpfung, mit der ersten rivalisierend! War einmal der Grundstein gelegt, dann hielt man in Griechenland zäh und entschlossen am Gegebenen fest, sprach von kanonischer Geltung und vergaß das tastende Versuchen des Beginns … SOPHOKLES, nicht Thespis; HOMER, nicht die Kykliker; THUKYDIDES, nicht Hekataios: der Klassiker, nicht der Schöpfer ist der Finder.

Nachdem das Verborgene ans Licht gekommen war, konnte man nur noch im Detail variieren; die großen Linien waren, bis in den Dialekt hinein, fixiert: das Epos blieb jonisch, das Chorlied dorisch, die Liedkunst äolisch, Drama und Geschichtsschreibung attisch. Wie winzig erscheint uns Heutigen die Spanne zwischen AISCHYLOS und EURIPIDES! Doch ist das ein Wunder? Die Norm war nun einmal bestimmt, der Bezirk umgrenzt, den die Nachfolger im Zeichen des Agons immer vollkommener einzufassen suchten. In Zeiten, da es gut um die Künste steht, heißt es bei Valéry, kann man sehen, wie sie sich Schwierigkeiten schaffen, die nur Geschöpfe ihrer Einbildung sind … und sich den Gebrauch der Fähigkeit untersagen, mit sicherem Griff im Augenblick alles machen zu können, was in ihrem Wollen liegt.

»Selbstbeherrschung« heißt das Zentralgebot der griechischen Klassizität – deshalb die Anerkennung der Normen, die Repetition auf vorher bezeichnetem Feld, deshalb Agon und Polemik, Invektiven, die von jedermann zu beurteilen waren, da Stoff und Regel, Mythos und Grundstruktur als bekannt gelten konnten. Noch die groteskeste Variation (Antigone als Schäfermädchen von Haimon versteckt, Orest und Aigisth als Verbündete), noch die verzerrende Paratragödie der Komödie weist auf das Urbild zurück.

»Originalität« war, sieht man von den Erfindungen der Komödie ab, durchaus verpönt – AGATHONS Fabel-Erfindung scheint eine Ausnahme gewesen zu sein –; und eben deshalb konnte man immer vergleichen und mochte es, als Freund des Agon, nicht für ungebührlich halten, wenn ein Autor auf seine Vorgänger einhieb, um das Eigene desto sichtbarer zu demonstrieren: so kämpfte, im Theogonie-Prooimion, HESIOD gegen HOMER (spätere Zeiten ließen die Dichter im Agon einander begegnen), so ARISTOPHANES gegen EUPOLIS, so, noch viele Jahrhunderte später, POLYBIOS gegen TIMAIOS. Einer gegen alle – deshalb die sphregis, das »Siegel« in der Lyrik, deshalb die Parabase der Komödie.

Kurzum, wenn der Agon, der Wettstreit, als konstitutives Prinzip des Kosmos erscheint (»monologische« Formen gab es erst im Hellenismus), wenn Götter gegen Götter und – nach ANAXIMANDER – Elemente gegen Elemente kämpfen, wenn sich, bei KORINNA aus Tanagra (um 500 v. Chr.), der Kithairon und der Helikon, bei KALLIMACHOS (ca. 305 – 240 v. Chr.), im vierten Iambos, Lorbeer und Ölbaum befehden, dann wird der Betrachter, um ein Prinzip der griechischen Dichtung wissend, auch den streitlustigsten Attizisten Abbitte tun, zugleich freilich bedenken, daß antike Kanonisierung die Perspektive denn doch gehörig verzeichnet: HOMER und SAPPHO begannen nicht jenseits des Nichts; ein AMEIPSIAS, dessen Komasten die Preisrichter – sicherlich nicht durchweg dumme Leute! – über die Vögel des ARISTOPHANES stellten, mag so wenig wie der Tragiker AGATHON von den klassischen Dramatikern durch einen Abgrund getrennt sein. Kurzum, die Überlieferung trügt; Aristotelische Entelechie-Erwägungen haben das Bild nicht anders als attizistische Dogmen und didaktische Spekulationen – die Erfordernisse der Schule! – verzerrt.

Die dritte Schwierigkeit. Nachdem man jahrhundertelang die griechische Autochthonie, das Eigenständige hellenischer Praktik verklärte, droht das Pendel heute nach der anderen Seite hin auszuschlagen. Ist man nicht allzusehr geneigt, wie einst zu Zeiten Novalis’ und Creuzers, das Hellenische »vom großen Orient aus« zu betrachten, den Raum zu erweitern und, wie der späte Hölderlin oder der Autor der Ägyptischen Helena, hinter dem Griechischen Bezirke Asiens heraufdämmern zu lassen? Östliche Kosmogonien überschatten das vorsokratische Denken, HESIOD (um 700 v. Chr.) erscheint als kunstreicher Verwerter hethitischer Mythen, und der Mathematiker THALES (um 600 v. Chr.) greift auf ägyptische Archetypen zurück. Rückt eine solche Betrachtungsweise nicht die Eigenart des Griechischen: lernend zu verwandeln, aus praktikablen Modellen wissenschaftliche Systeme, aus Geschichten stringente Gleichnisse zu machen, nur allzu langsam in den Blick?

Die vierte Schwierigkeit. Wir sprechen von der hellenischen Literatur als von einer sehr hohen Kunst (von der Volkskunst wissen wir so wenig wie von den fabulösen Vorstufen der Gattungen), und dabei identifizieren wir einmal »Literatur« mit »Poesie« und bedenken zum anderen nicht, daß unser Begriff »Kunst« im Griechischen kein Äquivalent hat – techne heißt Handwerk, der homerische Sänger steht neben dem Zimmermann und dem Arzt, der Poet gehört einer Zunft an, ist Gildengenosse, sein Können vererbt sich – Aischylos’ Sippe! – vom Vater auf den Sohn, seine Praktiken können, als Technik, durch Preis und Richterspruch gebilligt oder verworfen werden: als ein »Macher« stellt sich der griechische Dichter im Agon der Kritik; nur ein Scharlatan wie der Rhapsode Ion sucht, bei Platon, mangelndes Können durch den Hinweis auf göttliche Gaben zu tarnen.

Mag sich der Poet auch, aus Gründen der Legitimation, auf die Musen berufen, seine Dichtung ist niemals reine Selbstaussprache, sondern immer auch Anruf und Lehre; die Grenzen zwischen reiner Poesie und Didaktik, Vision und Analyse sind fließend: Privates wird, im Mund des Chors, objektiviert; lyrische »Stimmung« verflüchtigt sich im starr-responsorischen Rhythmus; Persönliches gewinnt im dialogischen Akt den Charakter der gnome; SAPPHO trägt persönliche Erfahrungen – Schöner als Reiter und Schiffe ist das in Liebe Ersehnte – objektiviert als Maximen und Sentenzen vor.

Wo also endet die Poesie und wo beginnt die Lehre, wo ist der Trennungsstrich zwischen Bild und Gedanke? Wird die griechische Antike nicht gerade...

Erscheint lt. Verlag 25.11.2016
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Vor- und Frühgeschichte / Antike
Geschichte Allgemeine Geschichte Vor- und Frühgeschichte
Schlagworte Dramen • Essays • Interpretation • Interpretationen • Motive der Antike • Motive der Moderne • Mythen • Sagen
ISBN-10 3-688-10072-7 / 3688100727
ISBN-13 978-3-688-10072-9 / 9783688100729
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