Ich - mein größter Feind (eBook)

Leben mit dem Borderline-Syndrom

(Autor)

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2016 | 1. Aufl. 2016
330 Seiten
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7325-3147-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich - mein größter Feind - Timm Flemming
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Borderline - damit wird eine Vielzahl von Verhaltensweisen und Gefühlen beschrieben. Timm Flemming bekam 2002 die Diagnose, durch die seine Ängste und Schmerzen endlich einen Namen erhielten. Von klein auf galt er als eigenwillig, seltsam, 'anders'. Die Eltern nehmen sich beide das Leben, als er vierzehn ist. Seine Trauer schlägt sich in Depressionen, einer Essstörung und ersten Selbstverletzungen nieder. Es beginnt ein harter Weg mit mehreren Klinikaufenthalten. Heute hat Timm ein stabiles Leben aufgebaut und gelernt, Borderline nicht nur als Fluch, sondern auch als Segen zu betrachten, seine Kreativität auszuleben und seine extreme Sensibilität sinnvoll zu nutzen.

Kapitel 1


Der King des Kindergartens


Als Kind glaubt man, dass alles, was die Eltern tun, richtig sei, selbst wenn es sich in der Seele anders anfühlt. Man liebt seine Eltern, sie sind Vorbilder und eines der ersten anstrebenswerten Ideale in der Kindheit. Auch bei mir war das so.

Geboren wurde ich 1985 in einer kleinen Stadt, die ganz tief im Osten der damaligen Deutschen Demokratischen Republik lag. Heute liegt sie freilich immer noch am selben Ort, nur die DDR gibt es nicht mehr. Natürlich kann ich mich nicht an meine Geburt erinnern. Das wird wohl jedem so gehen. Aber manchmal, wenn ich so in mich hineinträume, dann stelle ich mir vor, wie es gewesen sein könnte. Diese Vorstellung ist natürlich fernab von dem, was wirklich an diesem Tag passierte – aber sie ist schön und gehört nur mir. Im Traum, da wird man nicht weggestoßen, da fühlt man sich aufgehoben, und da geht das Schicksal die Wege, die man ihm selbst bestimmt: Mama und Papa in freudiger Erwartung auf mich, den kleinen Wurm, die ersten Liebkosungen auf der Brust meiner Mutter – für meine Eltern ein unvergesslicher Augenblick! Die stolzen Blicke des Vaters, der in einer Runde mit anderen Vätern eine Zigarre raucht und denkt: ›Mein Sohn … mein kleiner Sohn – hab ich das nicht gut hinbekommen?‹ Die Großeltern, die ins Krankenhaus kommen und ihren Enkel auf dieser Welt begrüßen. Und dann das Familienfoto. Mama hat mich im Arm, Papa hat einen Arm um Mama gelegt, und an ihrer Seite stehen, leicht unbeholfen, Oma und Opa. Alle lachen sie und sind glücklich – ein Moment für die Ewigkeit. Leider bekam ich, außer in meinen Träumen, dieses Foto nie zu Gesicht.

Die Strapazen waren nicht zu Ende, nachdem das Kind die Welt erblickt hatte. Zum Teil begannen Schuld, Vorhaltungen und Lügen erst mit diesem Tag und sollten wie ein Fluch das ganze Leben lang auf den Seelen der Beteiligten lasten. Es waren Schatten, die unerkannt blieben und letztlich zu Krankheit, Trauer und unvermeidlicher Wut führten.

Ich war ein Schreikind, zumindest am Anfang, und man ließ mich schreien – ungeachtet der Bedürfnisse, die ich noch nicht anders äußern konnte. In der Psychologie sagt man, dass es zu diesem Zeitpunkt noch gar kein Ich gibt. Also schrie das Kind, ungehört und wie ein Baby eben so schreit. Und trotz dieser Vernachlässigung war ich in allen Dingen recht früh entwickelt. Ich bekam zeitig meinen ersten Zahn, tat zeitig meine ersten Schritte und brachte, früher, als es einigen vielleicht lieb war, mein erstes Wort zustande: ›Mau‹. Dies stand nicht, wie bei vielen Kindern, für Mama oder Papa, sondern für Maus. Es war der Name meines Kuscheltieres.

Ich erinnere mich an einen großen Block Papier und an Buntstifte, mit denen ich, zusammen mit der Maus, bis zum dritten Lebensjahr einen Großteil meiner Zeit im Laufstall verbrachte. Ich war zufrieden, solange ich vor mich hin kritzeln konnte – zumindest hat man mir das später erzählt. Ich selbst weiß nur von diesem Block und von Buntstiften und dem unbeschreiblichen Gefühl, einer Mischung aus Zufriedenheit und Freude, wenn ich daran denke.

In der Kinderkrippe malte ich ebenfalls ständig. Nichts anderes, abgesehen von der Maus, interessierte mich.

Kurz vor meinem dritten Geburtstag geschah etwas Besonderes. Mein Vater und ich holten meinen alten Kinderwagen aus dem Keller, stellten ihn im Hausflur vor die Briefkästen und befreiten ihn von allerhand Staub, Dreck und Spinnweben, von allem, was sich über die Jahre hinweg darauf angesammelt hatte. Ehe ich es mich versah, gab es da ein neues, kleines, unbekanntes Wesen, das mir meinen Platz streitig machte. Ein kleines Mädchen, dick, blond, blauäugig – wie alle Babys. Nichts Besonderes, aber es wurde so behandelt, als wäre es das Wichtigste auf der Welt. Manchmal muss es für mich auch schön gewesen sein, denn es gibt da ein Foto, wo Mama meine Schwester an ihrer Brust trinken lässt, ich zufrieden in einer roten Strumpfhose neben ihr stehe und dem kleinen Mädchen über den Kopf streichele. Auch Mama sieht zufrieden aus und fast glücklich in ihrer lila Kittelschürze, die wohl alle Mütter der DDR getragen haben.

Von dieser Zeit ist mir nicht viel geblieben, aber aus Erzählungen weiß ich, dass mein ungewöhnliches Verhalten an diesem Punkt begonnen haben muss. Ich kämpfte um meinen Platz, versuchte aber auch, mich auf das Neue einzulassen. Mit drei Jahren ist es sicher noch einfach, offen für die Welt zu sein. Aber es gab wenig, auf das ich mich verlassen konnte. Mal war es gut, dass ich meiner Schwester über das Gesicht strich oder ihr den Beißring reichte, mal war es falsch, und ich sollte mich von ihrem Bettchen ›wegscheren‹.

Von der Krippe kam ich in den Kindergarten – war dort ein kleiner, ungezogener Junge, der nicht so richtig einzuschätzen war und der Verbote und Grenzen nur sehr gering zu schätzen wusste. Von den anderen Kindern wurde ich dafür gemocht und respektiert. Ich durfte beim Spielen bestimmen, wer Mama, Papa und wer Kind sein sollte, ich selbst nahm zumeist die Rolle des Kindes ein. Schwach zu sein war mir lieber, als die Rolle meiner Eltern einzunehmen. Das Spiel wurde immer in meine Richtung gelenkt. So wie ich wollte, so geschah es auch.

Der Kindergarten war ein schönes Gebäude, eine große klassizistische Villa in hellem Grün und mit einem riesigen Hof, allerdings durfte man nur auf der einen Seite spielen, dort, wo die Spielgeräte standen. Geheimnisumwoben war die andere Seite. Sie hatte etwas Besonderes, weil sie außerhalb der Grenze des Erlaubten lag. Das Spielen machte mehr Spaß abseits der Erzieherinnen, bei den Apfelbäumen. Dort ließ man das Gras wuchern, und nur ein kleines Stück davon gehörte zur erlaubten Seite. Dieses Stück Wiese – im Sommer oft höher als man selbst – war der Weg in die Freiheit. Wenn man sich durch die hohen Gräser schlug, kam man in das Land, das den Ärger der Kindergärtnerin heraufbeschwor und so geheimnisvoll war. Es hieß, auf der anderen Seite des Gartens würde immer der verstümmelte Mann vom Dachboden herumschleichen. Der Dachboden des Kindergartens war zur Wohnung ausgebaut worden, und dort lebte dieser Mann, der nur selten gesehen, von dem aber oft gesprochen wurde. Ich zog vorne mit, wenn es darum ging, sich Geschichten auszudenken, was das für einer sei: Er jagt Kinder, hackt ihnen, wie sich selbst, die Finger ab und sperrt sie dann in den Keller.

Eines Tages spielten wir mal wieder unser Familien-Spiel. Ich gab die Richtung vor, und diesmal ging es durch das hohe Gras auf die verbotene Seite. Von oben brannte die warme Sonne auf uns herab, und die Gräser stachen in unsere nackten Beine. Im Hintergrund hörte man unbeschwerte Kinder kreischen, die sich von ihren Erzieherinnen mit kaltem Wasser abspritzen ließen. Ab und zu vernahm man das Geräusch eines Trabis, der am Kindergarten vorbeiknatterte.

Am Rand der Wiese angekommen, sahen wir den verstümmelten Mann, der den Platz vor den drei Schuppen kehrte. Als er uns entdeckte, stellte er den Besen zur Seite und kam auf uns zu. Kathleen, ein zierliches Mädchen mit fuchsroten, schulterlangen Haaren und Sommersprossen im Gesicht, fragte ihn mutig, wer er sei.

»Ich bin der Hausmeister vom Kindergarten«, antwortete er und wollte dann wissen, wie wir hießen. Wir sagten unsere Namen, erzählten, dass wir Familie spielten, und fragten sogar vorlaut, ob er nicht mitspielen wolle. Er lehnte freundlich, aber bestimmt ab, setzte sich auf eine nahe gelegene Gartenbank und kramte in der Brusttasche seines schmutzigen Hemds nach einer Packung Zigaretten. Nach dem ersten kräftigen Zug schloss er die Augen und atmete genüsslich aus, so dass der Rauch in Kringeln gen Himmel schwebte. Dann lächelte er uns an und deutete auf den freien Platz neben sich. Wir kamen zögernd näher, und ich beobachtete staunend, wie er immer noch nach jedem Zug von seiner Zigarette den Rauch wie Ringe in die Luft stieß.

»Was hast du mit deinen Fingern gemacht?«, rutschte es mir heraus. Der Hausmeister fuhr sich bedächtig mit seiner verstümmelten Hand durch den Vollbart, so als wollte er überlegen, wie er es uns erklären sollte. Dann sagte er nur: »Das kommt davon, wenn man beim Sägen nicht aufpasst.« Sein Gesicht mit der großen Nase und den zusammengewachsenen Augenbrauen wirkte streng, seine Stimme aber verscheuchte alle Gedanken daran, dass er Kindern vielleicht schlecht gesinnt sein könnte.

Erneut nahm er einen Zug von der Zigarette und stieß ihn sofort wieder aus. Dann schnipste er die Kippe gekonnt in einen Blecheimer und lächelte uns an. Er lächelte über das ganze Gesicht, so dass wir sehen konnten, dass ihm einige Zähne fehlten und die übrigen schwarz verfärbt waren und kreuz und quer in seinem Mund standen.

»Es wird Zeit, dass ihr zu eurer Erzieherin zurückgeht, bevor man euch noch vermisst. Ihr könnt mich ja ein andermal wieder besuchen kommen«, sagte er zum Abschied und wies mit seiner verstümmelten Hand über die Wiese. Wir gingen widerspruchslos und waren insgeheim erleichtert, aber auch ein wenig enttäuscht, dass der geheimnisvolle Mann vom Dachboden nur der Hausmeister war.

Wie wir wenig später erfuhren, verriet er uns bei der Erzieherin, was einen Eintrag ins Muttiheftchen zur Folge hatte. Dieser wurde zu Hause meist mit Hausarrest oder Fernsehverbot geahndet. Aber auch das war nicht sicher. Manchmal waren Einträge ins Muttiheftchen meinen Eltern egal, das hing von ihrer Laune ab. Wenn sie schlecht gelaunt waren, dann bekam ich Hausarrest, hatten sie gute Laune, dann sollte ich die Geschichten vom Kindergarten erzählen, und wir lachten gemeinsam darüber. Es war immer so: Wenn ich im Weg war, weil meine Schwester zu viel...

Erscheint lt. Verlag 21.6.2016
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Angst / Depression / Zwang
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • Alltag • Autobiografie • Biografie • Borderline • borderline angehörige erfahrungsberichte • borderline beziehung • borderline buch angehörige • borderline buch für partner • Borderline-Persönlichkeit • Borderline Persönlichkeitsstörung • Borderline-Persönlichkeitsstörung • Borderline Syndrom • Borderline-Syndrom • BPS • Depression • Depressionen • Deutschland • Erfahrungsbericht • Erfahrungsbücher • Erinnerung • Erkrankung • Heilung • Hilfe • Krankheit • Lebensführung • Lebensweg • Persönlichkeitsstörung • persönlichkeitsstörung borderline • persönlichkeitsstörung borderline • Psychische Erkrankung • Psychologie • Psychotherapie • Schicksal • Schicksale und Wendepunkte • Schicksalsschlag • Schicksalsschläge • Selbsthilfe • Wahre GEschichte
ISBN-10 3-7325-3147-3 / 3732531473
ISBN-13 978-3-7325-3147-9 / 9783732531479
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