Wir Besatzungskinder (eBook)

Töchter und Söhne alliierter Soldaten erzählen
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2015 | 1. Auflage
240 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-300-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir Besatzungskinder - Ute Baur-Timmerbrink
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Zwischen 1945 und 1955 wurden in Deutschland und Österreich Hunderttausende Menschen geboren, deren Väter Soldaten der alliierten Besatzungstruppen waren. Viele dieser sogenannten Besatzungskinder haben ihren Vater aus den USA, Großbritannien, Frankreich oder der früheren Sowjetunion nie kennengelernt. Häufig erlebten sie Ausgrenzung in ihrer Familie und durch die Gesellschaft.
Ute Baur-Timmerbrink, selbst Besatzungskind, unterstützt Menschen bei der Suche nach ihrem Soldatenvater und hat bisher etwa 200 Familienzusammenführungen begleitet. Im Mittelpunkt ihres Buches stehen Porträts von Besatzungskindern aus Deutschland und Österreich. Zwei Beiträge von Expertinnen geben Auskunft über das Verhältnis zwischen Besatzungssoldaten und Bevölkerung 1945 - 1955 und stellen die neuesten Forschungsergebnisse zu den psychosozialen Belastungen von Besatzungskindern vor.

1946 in Oberösterreich geboren, erfuhr erst im Alter von 52 Jahren, dass ihr Vater ein amerikanischer GI war. Nach intensiver Suche fand sie ihn, doch zu einer Begegnung kam es nicht mehr. Seit 2002 engagiert sie sich ehrenamtlich bei GItrace, einer britischen Organisation, die Besatzungskinder bei der Suche nach ihrem Vater unterstützt. Ute Baur-Timmerbrink lebt in Berlin.

Warum ich dieses Buch schreibe


Meine eigenen frühesten Erfahrungen sind: Ich bin nicht erwünscht, mit mir stimmt etwas nicht. In meinem Zuhause, als Einzelkind in einer gutbürgerlichen Familie, schien alles komplizierter als in anderen Familien, die ich kannte. Verstanden habe ich es nicht.

Ich habe mich seit meiner frühesten Kindheit mit dem Gedanken beschäftigt, dass mein Papa vielleicht gar nicht mein Vater sei. Es gab eindeutige Hinweise darauf. Ich bin 1946 in Österreich geboren. Irgendwann wurde mir beiläufig gesagt, »als der Papa aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, musste er sich erst an dich gewöhnen. Das war nicht leicht für ihn, und deshalb ist ihm öfter die Hand ausgerutscht.« Ich habe als kleines Mädchen Gewalt erfahren. Die Erklärung dafür, warum er mich erst mit zweieinhalb Jahren kennenlernte, bekam ich auf Nachfragen erst, als ich schon in der Pubertät war. Es hieß, er habe während der Kriegsgefangenschaft drei Tage Urlaub bekommen, und in dieser Zeit sei ich gezeugt worden. Das glaubte ich damals nicht, aber ich hatte nicht den Mut, es offen zu bezweifeln.

So habe ich über die Jahre aufmerksam beobachtet, Gesprächen freiwillig und unfreiwillig gelauscht und mir meine eigenen Gedanken gemacht. Erwähnt habe ich meinen Verdacht erst als ich älter war, aber nur gegenüber guten Freunden. Meine Eltern habe ich nie gefragt. Sie sind 1974 und 1981 gestorben. Wieder wurde ich mit ihren Lebenslügen konfrontiert. Es gab so vieles, was sie mir verheimlicht hatten. Als meine Mutter starb, beichtete mir mein Vater, sie würde nicht kirchlich bestattet werden, weil sie während der Nazizeit aus der Kirche hätten austreten müssen. Ich habe das mit dem örtlichen Pfarrer regeln können. Als mein Vater starb, fand ich in seinen Unterlagen, dass er Mitglied der NSDAP gewesen war. Danach hatte ich ihn früher mehrfach gefragt, und er hatte es immer bestritten.

Ich habe meine Eltern geliebt, bin aber ihren Ansprüchen nie gerecht geworden. Ich habe mich immer mit anderen Kindern verglichen und festgestellt: Die waren ihren Eltern viel wichtiger. Deren Eltern waren besorgt, haben sich engagiert, wollten immer nur das Beste für ihre Kinder. Das war bei mir anders. Aber ich habe gelernt, mich durchzusetzen, um nicht unterzugehen – das wollte ich nicht.

An meinem 52. Geburtstag, 1998, sprach ich mit einer Freundin über meine frühen Kindheitserlebnisse. Unsere Mütter, damals beide schon über 20 Jahre tot, waren von Jugend an befreundet gewesen. Zum ersten Mal traute ich mich, zu fragen: Ist es möglich, dass mein Vater nicht mein richtiger Vater war? Weißt du etwas darüber? Meine Frage hat sie zuerst erstaunt, das spürte ich, dann aber verneinte sie vehement. Noch am selben Abend rief sie mich an, um mir weinend zu sagen: »Du hast so oft Bemerkungen über deinen Papa gemacht. Ich habe dazu immer geschwiegen. Heute hast du mich zum ersten Mal direkt gefragt, und jetzt sage ich dir die Wahrheit. Nein, dein richtiger Vater war ein amerikanischer Soldat, mit dem deine Mutter in Österreich eine Beziehung hatte.« Sie habe damals versprechen müssen, niemals darüber zu sprechen. Jetzt wollte sie mich nicht belügen: »Du hast mich bis heute nie gefragt, alle haben die Wahrheit mit ins Grab genommen, ich kann das nicht«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. Der Schock über diese Nachricht war groß. Auch wenn ich es geahnt hatte: Zuerst brach eine Welt zusammen. Nichts stimmte mehr. Ich suchte weinend nach Fotos aus dieser Zeit. Es gibt nur fünf Baby-Fotos und zwei von meiner Mutter. Auf einem Bild steht sie vor einem schwarzen Mercedes und trägt offensichtlich Militärhose und -pullover. Auf dem anderen Bild sieht sie sehr elegant aus. Auf der Rückseite ihre Handschrift: September 1945, Gmunden. Diese Details fielen mir zum ersten Mal auf. Wochenlang war ich unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Tag und Nacht quälte ich mich: Warum haben mich meine Eltern im Glauben gelassen, ich sei ihr gemeinsames Kind? In meine Trauer mischte sich langsam so etwas wie Erleichterung. Jahrelang hatte ich gedacht, ich tue meinen toten Eltern Unrecht, weil ich sie verdächtigte, mir etwas vorzuenthalten. Jetzt musste ich mich nicht mehr für meine Verdächtigungen schämen, mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht, es war wahr. Das empfand ich als ungeheure Befreiung.

Meine Mutter und jener Mann, von dem ich immer geglaubt hatte, er sei mein leiblicher Vater, haben 1936 geheiratet. Mein Stiefvater, den ich zeit seines Lebens nie Stiefvater genannt habe, war seit 1929 Berufssoldat in der deutschen Reichswehr. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 lebten sie im IX. Bezirk in Wien. 1944 geriet mein Stiefvater in jugoslawische Kriegsgefangenschaft, und meine Mutter flüchtete im Dezember 1944 aus Angst vor »den Russen« aus Wien. Im Sommer 1945 kam sie nach Attnang-Puchheim in Oberösterreich, sie konnte nicht zurück nach Wien. Im November 1946 bin ich in Vöcklabruck geboren, und in meiner Geburtsurkunde ist der Ehemann meiner Mutter als Vater eingetragen. Im Herbst 1947 wurden wir aus Österreich ausgewiesen und übersiedelten nach Bochum in Nordrhein-Westfalen. Mein Stiefvater kam nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft Anfang 1948 nach.

Meine Kindheit war mit vielen Problemen der Eltern belastet. In den ersten drei Jahren wohnten wir in einem Barackenlager in Bochum. Es war während des Krieges ein Außenlager des KZs Buchenwald gewesen, das habe ich erst 2012 erfahren. Die Zustände dort waren bedrückend, ich erinnere mich nicht gern daran. Zwischen meinen Eltern gab es oft Streit, und eine Frage meines Stiefvaters prägte sich mir ein, die ich nicht verstand: »Und was hast du damals in Österreich gemacht?« Ich grübelte nach der Bedeutung: Was hatte meine Mutter in Österreich gemacht? Die Familie väterlicherseits, Großeltern, Tanten, Onkel und deren Kinder, alle hielten Distanz zu meiner Mutter und zu mir.

Meine Mutter schwärmte von Oberösterreich, es sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Angeblich hatte sie für die Amerikaner gearbeitet, aber Genaueres erzählte sie nie. Durch die Amerikaner habe es ihr an nichts gefehlt, sie habe eine Wohnung und viele Freunde gehabt. 1955 fuhren meine Eltern in den Sommerferien zum ersten Mal mit mir nach Oberösterreich. Ich lernte unter anderem auch eine Freundin meiner Mutter aus der Zeit in Attnang-Puchheim kennen. Ich erfuhr, dass sie meine beiden Vornamen ausgesucht hatte, mein zweiter Vorname ist der ihre. Ich liebte und bewunderte sie spontan. Sie war 15 Jahre jünger als meine Mutter und so schön, sie wurde meine Lieblingstante. Bis 1965 verlebte ich alle Sommerferien in meinem Geburtsort in Oberösterreich, und er ist für mich bis heute meine gefühlte Heimat.

Nach Schule und Berufsausbildung zog ich 1967, mit 21 Jahren, nach Stuttgart, heiratete und bekam zwei Söhne. Ich habe immer den Kontakt zu meinen Eltern gepflegt. Ich habe keine Geschwister, und meine Eltern waren mir wichtig, ich liebte sie trotz alledem. Ich habe den Beruf der Arzthelferin erlernt und in späteren Jahren, als ich meine beiden Söhne hatte, als Sekretärin gearbeitet. Seit 1996 wohne ich in Berlin. Meine Eltern haben bis zu ihrem Tod mit mir nicht über meine wahre Herkunft gesprochen.

Ute Baur-Timmerbrinks Mutter, vermutlich Herbst 1945, Oberösterreich

Nach dem Telefongespräch mit meiner Bochumer Freundin wusste ich, dass nur ein Mensch mir helfen konnte, meinen Vater zu finden – meine Tante in Oberösterreich. Sie nahm Anteil an meinem Leben, an meinen Kindern, freute sich über unsere regelmäßigen Besuche und machte uns großzügige Geschenke. Sie lebte allein, wir waren ihre Familie. Sie musste über meine Geburt und meinen Vater etwas wissen. Es lebte niemand mehr, den ich sonst hätte fragen können. Ich schrieb ihr einen Brief und erklärte ihr meine jahrelangen Zweifel, über die ich nie gesprochen hatte. Und dass ich die Wahrheit erfahren hatte. Ich bat sie um Hilfe bei der Suche nach meinem amerikanischen Vater.

Drei quälende Wochen lang wartete ich auf ihre Antwort. Ich hatte nicht den Mut, sie anzurufen. Dann endlich ihr Anruf. Aber am Apparat war nicht die liebevolle Person, die ich kannte. Ihre Stimme war verändert, ich spürte die Anspannung. Offenbar kostete es sie große Überwindung, mit mir zu sprechen. Sie bestätigte sofort: »Ja, es stimmt, dein Vater ist ein Amerikaner.« Es folgte ein wütender Ausbruch über die Person, die mir das erzählt hatte. Auf mein drängendes Fragen nach dem Namen meines Vaters sagte sie schließlich: »Er hieß Bill Knox, mehr weiß ich nicht.«

Ich glaubte ihr nicht. Ich war mir sicher, sie müsse mehr wissen. Das Telefongespräch ließ mich erschüttert und enttäuscht zurück. Warum war sie so ablehnend, so ärgerlich, so ohne Mitgefühl für mich und meine Situation?

Mehr und mehr war ich entschlossen, meinen Vater zu suchen – wie das gelingen könnte, wusste ich nicht. Im Dezember 1998 besuchte ich Verwandte meines Stiefvaters in Bochum. Auch die kannten die Wahrheit über mich, wenn auch keine Details. Ich war ein Amikind! Die Kälte, mit der mir das ins Gesicht geschleudert wurde, war kaum zu ertragen. Als Kind hatte ich gespürt, sie gingen anders mit mir um als mit den Cousinen und Cousins. Jetzt erst begriff ich, warum. Ich hatte in dieser Familie nie wirklich einen Platz gehabt.

Im Januar 1999 gab mir eine Stuttgarter Freundin die Telefonnummer eines US-Veteranen in Heidelberg. Er hatte großes Verständnis für meine Situation und sagte mir, ich müsse recherchieren, in welcher Division beziehungsweise Einheit der US-Armee Bill Knox 1945 in Österreich gewesen war. Vor allem müsste ich nach Zeitzeugen in Österreich suchen. Das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgen-Forschung in Graz gab...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2015
Reihe/Serie Politik & Zeitgeschichte
Co-Autor Mechthild Rawert, Heide Glaesmer, Sabine Lee
Zusatzinfo 48 s/w-Abbildungen und 2 Karten/Tabellen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 140 x 140 mm
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte alleinerziehend • Alliierte • Amerikanische Besatzungszone • Besatzung • Besatzungssoldaten • Britische Besatzungszone • Deutschland • Französische Besatzungszone • Halbwaise • Kinder • Krieg • Kriegsgeneration • Kriegskinder • Nachkriegsgeneration • Nachkriegsjahre • Nachkriegszeit • NATO • Potsdamer Konferenz • Soldat • Soldatenkinder • Sowjetische Besatzungszone • Uneheliche Kinder • Vatersuche • Vergewaltigung • Wehrmachtskinder • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-86284-300-9 / 3862843009
ISBN-13 978-3-86284-300-8 / 9783862843008
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