Europas Dichter und der Erste Weltkrieg (eBook)

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2014 | 1. Auflage
459 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73707-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Europas Dichter und der Erste Weltkrieg -  Geert Buelens
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Im sonnenüberfluteten Europa entflammte im Sommer 1914 eine bis dahin beispiellose Form von Kriegshysterie. Millionen Männer zogen singend an die Front. Dichter standen dabei überall in vorderster Linie. Englische »war poets« und deutsche Expressionisten, französische Dadaisten und russische Futuristen, flämische, ungarische, baltische Akteure kämpften nicht nur mit der Waffe, sondern auch mit dem Wort. Innerhalb der europäischen Nationen und ethnischen Volksgruppen wogten nationales oder befreiungsbewegtes Pathos, Internationalismus und weltrevolutionäre Emphase, Desillusion, Hass und Verzweiflung unrhythmisch auf und nieder. Geert Buelens liefert mit seinem bereits mehrfach ausgezeichneten Buch ein wahrhaft europäisches Panorama, nicht nur der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch und vor allem der Menschen, die sie schrieben. Er bezieht dabei neben bekannten Protagonisten wie Pessoa, Majakowski, Marinetti, Apollinaire, Trakl, Sassoon auch viele andere, weniger bekannte Dichter mit ein. »Europas Dichter und der Erste Weltkrieg« ist eine beeindruckend umfassende, engagierte Studie über die gesellschaftliche Tragweite von Literatur, ein temperamentvoll und mit literarischer Ambition geschriebenes Stück Mentalitäts-, Kultur-, Kriegs- und politischer Geschichte.

<p>Geert Buelens, geboren 1971 in Duffel, Belgien, ist Professor für Neuere niederländische Literatur an der Universität von Utrecht, Dichter und Essayist. Er ist Gastprofessor für niederländische Literatur in Südafrika und den USA, seit 2012 Mitglied der Königlichen Akademie für niederländische Sprach- und Literaturwissenschaften, Mitherausgeber einer niederländischen Literaturzeitschrift und schreibt für große niederländische und belgische Tageszeitungen.</p>

[Cover] 1
[Informationen zum Buch/zum Autor] 2
[Impressum] 6
Inhalt 9
1 Etwas liegt in der Luft Europa am Anfang des 20. Jahrhunderts 11
2 Ein heißer Sommer Juli-September 1914 52
3 Jetzt spricht der Stahl Herbst und Winter 1914 105
4 Der Geruch von Giftgas am Morgen Der Krieg im Jahr 1915 146
5 Ein Europa des Wortes, ein Europa der Tat Nationalismus und Revolution, 1915-1916 188
6 Gedichte schreiben nach Verdun und Somme Die Schlachtfelder von 1916 215
7 Café Dada Antisemitismus, Pazifismus und Avantgarde 232
8 Totaler Krieg Friedensvorschläge, Revolution und Meuterei 1917 254
9 Wer den längsten Atem hat Endspiel 1918 287
10 11/11 und danach Europa 1918-1925 316
Nachwort 359
Anmerkungen 367
Bibliographie 405
Personenregister 443
Ortsregister 451
Danksagung 459

502
Ein heißer Sommer
Juli-September 1914

 

 

 

 

Für mich ist es ein Vorspiel von schrecklicher Schönheit.

– Louis Couperus, München, 8. August 19141

 

 

Am Donnerstag, dem 23. Juli 1914, kam die gerade fünfundzwanzig Jahre alt gewordene Dichterin Anna Achmatowa (1889-1966) in der Datscha ihrer Schwiegermutter in Slepnjowo nahe der Stadt Beschezk an.2 Ihr fast zweijähriger Sohn Lew erwartete sie dort. Ihr Mann, der flamboyante Dichter und Weltreisende Nikolai Gumiljow (1886-1921), wollte lieber einen einsamen Sommer am Finnischen Meerbusen verbringen, im karelischen Grenzland. Obwohl es ruhig war in Slepnjowo und Achmatowa in den Sommern dort immer literarisch produktiv war, war ihr der Ort zuwider. An das mondäne Leben in Sankt Petersburg gewöhnt, konnte sie dem in jeder Hinsicht platten Landstrich in der abgelegenen Provinz Twer nichts abgewinnen. Nun, wo fünfhundert Kilometer weiter nördlich das sprühende Salonleben ihres geliebten Sankt Petersburg für ein paar Monate pausierte, war sie verurteilt zur Gesellschaft zweier Frauen – ihrer Schwiegermutter und einer alten Tante Gumiljows –, die die Zeit damit verbrachten, ihr eigenes Totenhemd zu besticken.3 Das Leben dort sei manchmal unerträglich, schrieb sie dem symbolistischen Dichter Georgi Tschulkow, und die absolute Ruhe 51und die Langeweile hinderten sie sogar daran, an einem Text weiterzuarbeiten, der ihr erstes Langgedicht werden sollte, »Am Ufer des Meeres«. Hin und wieder erreichten sie Nachrichten aus der Außenwelt, doch die kamen ihr, so betonte sie, »vollkommen unwahrscheinlich« vor.4

Am Sonntag nach ihrer Ankunft schrieb sie ihrem Mann und fragte ihn ungeduldig, ob er nicht auch nach Slepnjowo kommen wolle und ob er noch Neuigkeiten und Klatschgeschichten aus Sankt Petersburg für sie habe. Den stumpfsinnigen Nachbarn ginge sie aus dem Weg. Vier Tage später, am Donnerstag, dem 30. Juli, war alles noch öder: Nun herrschte auch noch schlechtes Wetter – »ich sage einen frühen Herbst voraus.«5 Mit Nachdruck bat sie ihren Mann, ihr Geld zu schicken. In dem Brief an Tschulkow sprach sie von Plänen, für sechs Wochen in die Schweiz zu reisen, doch wie sie diesen Aufenthalt bezahlen wollte, ist angesichts ihrer chronischen Geldsorgen unklar. Der Lauf der Geschichte machte eine Antwort auf diese Frage überflüssig.

An diesem dreißigsten Juli ordnete Zar Nikolaus II. die Generalmobilmachung an. Die Spannungen zwischen Österreich und Serbien, dem Brudervolk der Russen, hatten sich in der letzten Juliwoche dramatisch zugespitzt.6 Nachdem es nicht vorbehaltlos auf sämtliche Bedingungen eines – von Beobachtern als kriegstreiberische Provokation bezeichneten – Ultimatums Österreichs hatte eingehen können, hatte sich Serbien am 25. Juli gezwungen gesehen, mobilzumachen, und drei Tage später hatte Österreich auch im wörtlichen Sinn das Feuer eröffnet.7 Die Hetze und die Provokationen von deutscher Seite machten den Zaren und seine Generäle sehr nervös. Länger zu zögern schien gefährlich, denn im großen russischen Reich würde es viel länger dauern als beim so modernen Feind, die Armee einigermaßen geordnet in Kampfbereitschaft zu versetzen. Kaiser Wilhelm II., Nikolaus’ Cousin, der nicht einmal annähernd mit52bekam, was seine Generäle hinter seinem Rücken alles ausheckten, bat den Zaren eindringlich, seinen Entschluss zur Mobilmachung zurückzunehmen: »Noch kann der Friede Europas durch Dich erhalten bleiben.«8 Nikolaus, der seinen Entschluss bereits bereute, ließ sich von seinen Generälen und Ministern überzeugen, dass es keinen Weg zurück mehr gab, und teilte dem Kaiser schweren Herzens mit, »die militärischen Vorbereitungen einzustellen« sei »technisch unmöglich«, Russland liege es jedoch fern, einen Krieg zu wünschen. Am nächsten Tag war auch über Sankt Petersburg der Himmel grau; das entspreche seiner Gemütslage, notierte der Zar niedergeschlagen in seinem Tagebuch. Die militärischen Vorbereitungen dauerten inzwischen unvermindert an. Die österreichischen Truppen rückten rasch in Richtung Serbien vor und ließen die Grenze zu Russland nahezu unverteidigt zurück. Das erhöhte natürlich den Druck bei den Deutschen, die immer auf Österreichs Unterstützung gezählt hatten, um dem slawischen Riesen Paroli zu bieten. Am 1. August sah sich der Kaiser gezwungen, die unvermeidlichen Konsequenzen zu ziehen: Da Russland die Mobilmachung fortsetzte und auf ein deutsches Ultimatum nicht einmal reagiert hatte, nahm das deutsche Reich »die Herausforderung« an und erklärte Russland den Krieg. In Wirklichkeit suchte Deutschlands Militärführung schon seit Jahren nach einem Vorwand, den angestrebten Ausbruch eines europäischen Krieges Russland in die Schuhe schieben zu können.9 Der Plan war gelungen.

Als die Nachricht von der Kriegserklärung einen Tag später auch Slepnjowo erreichte, waren die drei Frauen – diesmal in seltener Eintracht – völlig fassungslos. Der kleine Lew wusste nicht, wie ihm geschah: Mutter, Großmutter, Großtante – sie alle schienen untröstlich. Einundfünfzig Jahre später erinnerte sich Achmatowa noch immer ganz genau daran. Die Frauen im Dorf brachen in eindrucksvolle Klagen aus, und in dieser Stunde der Verzweiflung teilte die dort sonst so abgeschottet 53lebende Dichterin die allgemeine Stimmung. Es war ein Gefühl, als stürze ihr Leben ein. In dem zweiteiligen Gedicht »Juli 1914«, das sie an diesem Tag – dem 20. Juli nach dem julianischen Kalender – schrieb, spricht eine apokalyptische Seherin. Die außergewöhnlichen Wetterverhältnisse (»Schon seit Ostern dürstet das Feld«) und der beißende Geruch von brennendem Torf, der anscheinend auch den Gesang der Vögel verstummen und das Laub der Espen erstarren ließ, waren Vorzeichen einer unvorstellbaren Katastrophe:

 

Schreckenszeiten sind nahe,

Frische Gräber dicht an dicht.

Erwartet Hunger, erwartet Strafen

Und der Sterne verfinstertes Licht.

 

Wie bei Alexander Blok haben Achmatowas Visionen einen eschatologischen Beiklang, und es wird sehr konkret eine Verbindungslinie zum Schicksal von Mütterchen Russland gezogen. Der »Einbeinige«, den die Dichterin in diesem Gedicht zu Wort kommen lässt, ist aber nicht ohne Zuversicht, denn eine noch größere Mutter wacht:

 

Und doch wird er nicht sich zur Freude

Unsere Erde zerteilen, der Feind:

Gottesmutter zum Schutz uns breitet

Weiß ein Linnentuch über das Leid.10

 

Könnte die unheilverkündende Stimmung in einem Gedicht, das vom Beginn eines Krieges handelt, noch eindrücklicher sein? Das Erste, was die Lyrikerin heraufbeschwört, ist Brandgeruch. Dann ist die Rede von frischen Gräbern, unsäglichem Kummer, Soldatenwitwen und zertrampelten Feldern. Achmatowas radikale, oft biblische Bilder, in denen ein Gebet um Regen mit der Nässe warmen Soldatenbluts beantwortet wird, legen nahe, dass »Juli 1914« nicht als eine realistische, dokumen54tarische Beschreibung der Ereignisse in diesen dramatischen Tagen gemeint ist. Dennoch deutet manches darauf hin, dass die Atmosphäre dieses Gedichts nicht nur ihrer dichterischen Vorstellungskraft entsprungen ist. Abgesehen von dem Gemeinplatz, dass sich praktisch ihr ganzes Werk als ein intimes Tagebuch liest, scheinen in diesem Teil Nordeuropas im Sommer 1914 tatsächlich seltsame Wetterphänomene beobachtet worden zu sein. Ob sie die gleiche Erfahrung oder aber eine ähnliche Phantasie teilten, ist nicht deutlich, aber in einem Gedicht von Achmatowas Mann Gumiljow über diesen Schlüsselmoment fällt eine ähnliche Beschreibung auf:

 

Der Sommer war gewitterschwül durchloht

Mit stickigen und glühend heißen Tagen,

so daß das Herz, von Dunkelheit bedroht,

erstickt von Schwüle, aufgehört zu schlagen.

Und schon am Mittag war die Sonne rot.

Die Ähren konnten kaum die Körner tragen.11

 

Ob Symbolik oder Wirklichkeit, worum es geht, dürfte deutlich sein: die atmosphärische Spannung konnte jeden Moment mit einem großen und zerstörerischen Knall zur Entladung gebracht werden. Und als das geschah, so betonte Achmatowa später mehrmals, begann das zwanzigste Jahrhundert.12

Die fast hysterische Stimmung im Russland jener Tage lässt Alexander Solschenizyn in seinem Dokumentarroman August Vierzehn (1971) durch eine Collage von historischen Zeitungsschnipseln aufleben. Patriotische Gedichte beschworen in den Blättern die Einheit mit den Serben als Slawen und Glaubensbrüdern. Gott würde den deutschen...

Erscheint lt. Verlag 14.4.2014
Übersetzer Waltraud Hüsmert
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Europa, Europa. Over de dichters van de Grote Oorlog
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 1914-1918 • 1. Weltkrieg • Dichter • Europa • Europa, Gesch • Europa, Geschichte • Geistesgeschichte • Geschichte • Geschichte 1914-1918 • Kriegslyrik • Kulturgeschichte • Motiv • Motiv in der Literatur • Weltkrieg
ISBN-10 3-518-73707-4 / 3518737074
ISBN-13 978-3-518-73707-1 / 9783518737071
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