Der Verlorene (eBook)
175 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-73945-7 (ISBN)
Hans-Ulrich Treichels Erzählung handelt von einer Familie, an deren Leben nichts außergewöhnlich scheint: Der Flucht aus den Ostgebieten im letzten Kriegsjahr folgt der erfolgreiche Aufbau einer neuen Existenz in den Zeiten des Wirtschaftswunders. Doch es gibt für sie nur ein einziges, alles beherrschendes Thema: die Suche nach dem auf dem Treck verlorengegangenen Erstgeborenen, nach Arnold.
»Arnold ist nicht tot. Er ist auch nicht verhungert«. Das erfährt der kleine Bruder und Ich-Erzähler eines Tages von seinen Eltern: »Jetzt begann ich zu begreifen, daß Arnold, der untote Bruder, die Hauptrolle in der Familie spielte und mir die Nebenrolle zugewiesen hatte.« In der Vorstellung des Jungen wird das, was der Eltern größter Wunsch ist, zum Alptraum: daß der Verlorene gefunden wird.
Lakonisch-distanziert und zugleich ungemein komisch erzählt Treichel von den psychischen Auswirkungen der Brudersuche, von den emotionalen Höhen und Tiefen und den subtilen Mechanismen, die die Eltern und auch der Sohn im Umgang mit dieser alle belastenden Situation entwickeln.
<p>Hans-Ulrich Treichel, am 12.8.1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Er war Lektor für deutsche Sprache an der Universität Salerno und an der Scuola Normale Superiore Pisa. Von 1985-1991 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und habilitierte sich 1993. Von1995 bis 2018 warHans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt.<br /> </p>
Hans-Ulrich Treichel, am 12.8.1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Er war Lektor für deutsche Sprache an der Universität Salerno und an der Scuola Normale Superiore Pisa. Von 1985-1991 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und habilitierte sich 1993. Von 1995 bis 2018 war Hans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt.
Mein Bruder hockte auf einer weißen Wolldecke und lachte in die Kamera. Das war während des Krieges, sagte die Mutter, im letzten Kriegsjahr, zuhaus. Zuhaus, das war der Osten, und der Bruder war im Osten geboren worden. Während die Mutter das Wort »Zuhaus« aussprach, begann sie zu weinen, so wie sie oft zu weinen begann, wenn vom Bruder die Rede war. Er hieß Arnold, ebenso wie der Vater. Arnold war ein fröhliches Kind, sagte die Mutter, während sie das Photo betrachtete. Dann sagte sie nichts mehr, und auch ich sagte nichts mehr und betrachtete Arnold, der auf einer weißen Wolldecke hockte und sich freute. Ich weiß nicht, worüber Arnold sich freute, schließlich war Krieg, außerdem befand er sich im Osten, und trotzdem freute er sich. Ich beneidete den Bruder um seine Freude, ich beneidete den Bruder um die weiße Wolldecke, und ich beneidete ihn auch um seinen Platz im Photoalbum. Arnold war ganz vorn im Photoalbum, noch vor den Hochzeitsbildern der Eltern und den Porträts der Großeltern, während ich weit hinten im Photoalbum war. Außerdem war Arnold auf einem ziemlich großen Photo abgebildet, während die Photos, auf denen ich abgebildet war, zumeist kleine, wenn nicht winzige Photos waren. Photos, die die Eltern mit einer sogenannten Box geschossen hatten, und diese Box konnte anscheinend nur kleine beziehungsweise winzige Photos machen. Die Photos, auf denen ich abgebildet war, mußte man schon sehr genau betrachten, um überhaupt irgend etwas erkennen zu können. Eines dieser winzigen Photos zeigte beispielsweise ein Wasserbecken mit mehreren Kindern, und eines dieser Kinder war ich. Allerdings war von mir nur der Kopf zu sehen, da ich, der ich damals noch nicht schwimmen konnte, im Wasser saß, das mir wiederum fast bis zum Kinn reichte. Außerdem war mein Kopf teilweise verdeckt von einem im Wasser und vor mir stehenden Kind, so daß das winzige Photo, auf dem ich abgebildet war, nur einen Teil meines Kopfes direkt über der Wasseroberfläche zeigte. Darüber hinaus lag auf dem sichtbaren Teil des Kopfes ein Schatten, der wahrscheinlich von dem vor mir stehenden Kind ausging, so daß von mir in Wahrheit nur das rechte Auge zu sehen war. Während mein Bruder Arnold schon zu Säuglingszeiten nicht nur wie ein glücklicher, sondern auch wie ein bedeutender Mensch aussah, war ich auf den meisten Photos meiner Kindheit zumeist nur teilweise und manchmal auch so gut wie überhaupt nicht zu sehen. So gut wie überhaupt nicht zu sehen war ich beispielsweise auf einem Photo, das anläßlich meiner Taufe aufgenommen worden war. Die Mutter hielt ein weißes Kissen auf dem Arm, über dem eine wiederum weiße Decke lag. Unter dieser Decke befand ich mich, was man daran erkennen konnte, daß die Decke sich am unteren Ende des Kissens verschoben hatte und die Spitze eines Säuglingsfußes darunter hervorschaute. In gewisser Weise setzten alle weiteren Photos, die von mir in meiner Kindheit gemacht worden waren, die Tradition dieses ersten Photos fort, nur daß auf späteren Photos statt des Fußes der rechte Arm, die halbe Gesichtshälfte oder wie auf dem Schwimmbadphoto ein Auge zu sehen war. Nun hätte ich mich mit der nur teilweisen Anwesenheit meiner Person im Familienalbum abfinden können, hätte es sich die Mutter nicht zur Angewohnheit gemacht, immer wieder nach dem Album zu greifen, um mir die darin befindlichen Photos zu zeigen. Was jedesmal darauf hinauslief, daß über die kleinen und winzigen und mit der Box geschossenen Photos, auf denen ich beziehungsweise einzelne Körperteile von mir zu sehen waren, ziemlich schnell hinweggegangen wurde, während das mir gleichsam lebensgroß erscheinende Photo, auf dem mein Bruder Arnold zu sehen war, Anlaß zu unerschöpflicher Betrachtung bot. Das hatte zur Folge, daß ich zumeist mit verkniffenem Gesicht und mißlaunig neben der Mutter auf dem Sofa saß und den fröhlichen und gutgelaunten Arnold betrachtete, während die Mutter zusehends ergriffener wurde. In den ersten Jahren meiner Kindheit hatte ich mich mit den Tränen der Mutter zufriedengegeben und mir keine weiteren Gedanken darüber gemacht, warum die Mutter beim Betrachten des fröhlichen Arnold so häufig zu weinen begann. Und auch die Tatsache, daß Arnold wohl mein Bruder war, ich ihn aber noch niemals leibhaftig zu Gesicht bekommen hatte, hatte mich die ersten Jahre nur beiläufig beunruhigt, zumal es mir nicht unlieb war, mein Kinderzimmer nicht mit ihm teilen zu müssen. Irgendwann aber klärte mich die Mutter insoweit über Arnolds Schicksal auf, als sie mir offenbarte, daß Arnold auf der Flucht vor dem Russen verhungert sei. »Verhungert«, sagte die Mutter, »in meinen Armen verhungert.« Denn auch sie selbst sei mehr oder weniger gänzlich ausgehungert gewesen während des langen Trecks vom Osten in den Westen, und sie habe keine Milch und auch sonst nichts gehabt, um das Kind zu ernähren. Auf meine Frage, ob denn niemand außer ihr Milch für das Kind gehabt habe, sagte die Mutter nichts, und auch alle meine anderen Fragen nach den näheren Umständen der Flucht und dem Verhungern meines Bruders Arnold beantwortete sie nicht. Arnold war also tot, was wohl sehr traurig war, mir aber den Umgang mit seinem Photo erleichterte. Der fröhliche und wohlgeratene Arnold war mir nun sogar sympathisch geworden, und ich war stolz darauf, einen toten Bruder zu besitzen, der zudem noch so fröhlich und wohlgeraten ausschaute. Ich trauerte um Arnold, und ich war stolz auf ihn, ich teilte mit ihm mein Kinderzimmer und wünschte ihm alle Milch dieser Welt. Ich hatte einen toten Bruder, ich fühlte mich vom Schicksal ausgezeichnet. Von meinen Spielkameraden hatte kein einziger einen toten und schon gar nicht einen auf der Flucht vor dem Russen verhungerten Bruder.
Arnold war mein Freund geworden, und er wäre auch mein Freund geblieben, hätte mich die Mutter nicht eines Tages um das gebeten, was sie eine »Aussprache« nannte. Eine Aussprache war etwas, worum mich die Mutter noch nie gebeten hatte, und auch der Vater hatte mich noch nie um eine Aussprache gebeten. Überhaupt bin ich während meiner gesamten Kindheit und ersten Jugendjahre niemals um eine Aussprache oder um etwas gebeten worden, was einer Aussprache auch nur annähernd gleichgekommen wäre. Dem Vater reichten kurze Befehle und Arbeitsanweisungen, um sich mit mir zu verständigen, und die Mutter redete wohl gelegentlich mit mir, doch meist lief das Gespräch auf den Bruder Arnold und damit auf Tränen oder Schweigen hinaus. Die Aussprache wurde von der Mutter mit den Worten eröffnet, daß ich nun alt genug sei, um die Wahrheit zu erfahren. »Was für eine Wahrheit«, fragte ich die Mutter, denn ich befürchtete, daß es hierbei vielleicht um mich gehen könnte. »Es geht«, sagte die Mutter, »um deinen Bruder Arnold.« In gewisser Weise war ich erleichtert, daß es wieder einmal um Arnold ging, andererseits aber ärgerte es mich auch. »Was ist mit Arnold«, sagte ich, und die Mutter schien schon wieder den Tränen nahe, worauf ich die spontane, aber nicht sehr überlegte Frage stellte, ob Arnold etwas zugestoßen sei, was die Mutter mit einem irritierten Blick quittierte. »Arnold«, sagte die Mutter ohne ein weiteres einleitendes Wort, »Arnold ist nicht tot. Er ist auch nicht verhungert.« Ich war nun ebenfalls irritiert und auch ein wenig enttäuscht. Doch statt zu schweigen, fragte ich die Mutter, wiederum ohne lange nachzudenken, woran Arnold denn dann gestorben sei. »Er ist gar nicht gestorben«, sagte die Mutter noch einmal und ohne jegliche Regung, »er ist verlorengegangen.« Darauf erzählte sie mir die Geschichte vom verlorengegangenen Arnold, die ich zum Teil verstanden und zum Teil auch nicht verstanden habe. Die Geschichte deckte sich einerseits mit der vom gestorbenen und verhungerten Arnold, und andererseits war es eine gänzlich neue Geschichte. Arnold hatte tatsächlich auf dem Treck vom Osten in den Westen Hunger gelitten, und die Mutter hatte tatsächlich weder Milch noch eine andere Nahrung für das Kind gehabt. Doch war Arnold nicht verhungert, sondern abhanden gekommen, und es fiel der Mutter schwer, den Grund für Arnolds Verschwinden auch nur annähernd begreiflich zu machen. Irgendwann, soviel verstand ich, ist auf der Flucht vor dem Russen etwas Schreckliches passiert. Was es war, sagte die Mutter nicht, sie sagte nur immer wieder, daß auf der Flucht vor dem Russen etwas Schreckliches passiert sei und daß ihr auch der Vater nicht habe helfen können und daß ihr niemand habe helfen können. Wohl seien in dem Treck Tausende von Menschen gen Westen gezogen, und lange Zeit habe es auch so ausgesehen, als würden sie den Treck einigermaßen unbeschadet überstehen und den Abstand zwischen sich und dem Russen Tag für Tag ein wenig vergrößern. Doch eines Morgens, sie hatten gerade ein kleines, westlich von Königsberg gelegenes Bauerndorf hinter sich gelassen, stand plötzlich der Russe vor ihnen. Der Russe war völlig überraschend aus dem Morgennebel aufgetaucht. Die ganze Nacht hätten sie weder etwas gehört noch gesehen, keinen Motorenlärm, keine Stiefelschritte, keine »Dawai! Dawai!«-Rufe. Doch plötzlich war der Russe da. Wo eben noch ein leeres Feld war, standen dreißig, vierzig bewaffnete Russen, und ausgerechnet an der Stelle, an der die Mutter mit dem Vater und dem kleinen Arnold unterwegs war, unterbrachen sie den Flüchtlingstreck und suchten sich ihre Opfer heraus. Da sie sofort gewußt hatte, daß nun etwas Schreckliches passieren würde, und da einer der Russen dem Vater bereits ein Gewehr vor die Brust gedrückt hatte, gelang es der Mutter gerade noch, einer neben ihr hergehenden Frau, die zum Glück von keinem der Russen aufgehalten wurde, das Kind in die Arme zu legen. Doch geschah dies so schnell und in Panik, daß sie keine Gelegenheit hatte, mit der Frau auch nur...
Erscheint lt. Verlag | 18.2.2013 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Sachbuch/Ratgeber | |
Schlagworte | Belletristische Darstellung • Eichendorff-Literaturpreis 2006 • Familie • Geschichte 1945 • Geschichte 1960 • Kritikerpreis des Verbands der deutschen Kritiker 2006 • Ostpreußen • Preis der Frankfurter Anthologie 2007 • Sohn • ST 3061 • ST3061 • Suche • suhrkamp taschenbuch 3061 • Verlust • Vertreibung |
ISBN-10 | 3-518-73945-X / 351873945X |
ISBN-13 | 978-3-518-73945-7 / 9783518739457 |
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