Chuzpe (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
334 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73280-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Chuzpe - Lily Brett
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Ruth kann nicht begreifen, dass ihr Vater Edek, vor wenigen Wochen erst von Melbourne zu ihr nach New York gezogen, weit davon entfernt ist, einen ruhigen Lebensabend zu verbringen. Und dass Lebensabend überhaupt der falsche Begriff ist für den munteren Siebenundachtzigjährigen, der sich erst in Ruths Korrespondenzbüro nützlich zu machen versucht und wenig später ein Verhältnis beginnt mit der (viel zu jungen, wie Ruth findet) Polin Zofia (69). Als Edek zusammen mit Zofia und deren Freundin Valentina auch noch ein Restaurant an der Lower Eastside eröffnen will, das auf polnische Fleischbällchen spezialisiert ist, bangt Ruth gleichermaßen ums Erbe und um ihre Nerven.

Chuzpe ist Lily Bretts sprühender Roman über Väter und Töchter, polnische Küche und New Yorker Neurosen; eine Geschichte ernster Irrungen und komischer Wirrungen, erzählt mit genau der Mischung aus Witz, Wärme und Verstand, die Lily Bretts Stimme so unverwechselbar macht.



<p>Lily Brett wurde 1946 in Deutschland geboren. Ihre Eltern heirateten im Ghetto von Lodz, wurden im KZ Auschwitz getrennt und fanden einander erst nach zwölf Monaten wieder. 1948 wanderte die Familie nach Brunswick in Australien aus. Mit neunzehn Jahren begann Lily Brett für eine australische Rockmusik-Zeitschrift zu schreiben. Sie interviewte und porträtierte zahlreiche Stars wie Jimi Hendrix oder Mick Jagger.<br /> Heute lebt die Autorin in New York. In regelmäßigen Kolumnen der Wochenzeitung DIE ZEIT hat Lily Brett diese Stadt porträtiert. Sie ist mit dem Maler David Rankin verheiratet und hat drei Kinder.</p> <p></p>

Erstes Kapitel

»Warum redest du über Männer und ihre Intelligenz?« war eines der ersten Dinge, die Sonia Kaufman zu Ruth Rothwax sagte, als sie sich vor etwa zehn Jahren kennengelernt hatten. »Warum redest du über Männer und ihre Intelligenz? Du solltest über die Wechseljahre reden. Die stehen vor der Tür.« Ruth hatte lachen müssen. Ruth und Sonia waren gleich alt. Vierundfünfzig. Sie waren beide in Australien aufgewachsen, sich aber erst in New York begegnet. Sonia war Anwältin für Urheberrecht in einer großen Anwaltskanzlei. Ihr Ehemann war Seniorpartner in derselben Kanzlei.

Ruth hatte eine eigene Firma. Einen Briefservice. Sie hatte Kunden in New York, in Los Angeles, in Boston und in Washington. Als sie Rothwax Correspondence eröffnete, hatte man ihr erklärt, das würde nie und nimmer gutgehen. Das war vor fünfzehn Jahren gewesen. Inzwischen hatte sie mehr Firmenkunden, als sie bedienen, und mehr Privatkunden, als sie sich wünschen konnte.

Worte zusammenzufügen erfüllte Ruth mit tiefer Befriedigung. Ein Teil der Befriedigung rührte daher, daß man Worte kontrollieren konnte. Wenn man ihnen eine Reihenfolge verlieh, behielten sie diese Reihenfolge bei. Sie machten keine unerwarteten Ausfälle. Sie verwandelten sich nicht plötzlich in Fremde oder nahmen Tangostunden.

Sonia verbrachte ihre Tage damit, herauszufinden, wem welche Ideen, Farben, Bezeichnungen, Gedanken und Worte gehörten. Ruth dachte sich, daß Sonia ruhig etwas mehr auf ihre eigenen Gedanken und Worte achten könnte.

»Probier meine Lammwurst mit Fenchel«, sagte Sonia. »Schmeckt köstlich.« Ruth und Sonia frühstückten im Coco’s an der 12th Street.

Lammwurst mit Fenchel? Wie konnte Sonia nur Lammwurst mit Fenchel zum Frühstück essen, dachte Ruth.

»Nein, danke«, sagte sie.

»Warum ißt du nicht vernünftig?« sagte Sonia. »Du hast fünf Getreidekörner und sechs Obststückchen auf deinem Teller. Iß Eier mit Schinken oder den Steak-Kartoffel-Auflauf.«

»Du redest wie mein Vater«, antwortete Ruth.

»Dein Vater ist völlig in Ordnung«, sagte Sonia.

»Anderer Leute Väter sind immer in Ordnung«, sagte Ruth. »Außerdem kann ich kein rotes Fleisch essen. Es erinnert mich an brennendes Fleisch.«

»Werd endlich erwachsen!« Sonia wurde beinahe laut. »Deine Eltern waren in Auschwitz, na und? Meine Mutter war in Theresienstadt, und ich kann gebackenes Hirn essen, geschmorte Nieren, gehackte Leber und alle möglichen Beine, Köpfe, Hälse und Füße. Du kannst nicht so auf den Holocaust fixiert bleiben.«

»Ich bin überhaupt nicht auf den Holocaust fixiert«, sagte Ruth.

Immerhin, dachte sich Ruth, war Sonia eine der wenigen Frauen in New York, die keine wie auch immer geartete Eßstörung hatte. Fast keine der Frauen aus Ruths Bekanntschaft hatte eine unbeschwerte Haltung zum Essen, wenn auch das Ausmaß der Störungen unterschiedlich war. Männer waren anders. Männer gingen ins Restaurant. Bestellten, worauf sie Lust hatten. Und aßen es. Genau wie Sonia. Sonia studierte nicht stundenlang voller Furcht und Zögern die Speisekarte. Und jammerte nicht im Anschluß an eine Mahlzeit über das, was sie gegessen hatte. Sonia aß einfach.

Ruth versuchte sich zu verteidigen. »Ich weiß eine Menge über Essen und Ernährung«, sagte sie. »Forschungsergebnisse belegen, daß der Genuß dunkler Schokolade das Risiko von Blutgerinnseln mindert und die Blutgefäße entspannt.«

»Damit deine Blutgefäße sich entspannen könnten, bräuchte es intravenöse Valiumgaben«, antwortete Sonia. »Es ist nicht normal, so etwas über Schokolade zu wissen und auf den Holocaust fixiert zu sein.«

Aber was war schon normal? Wetterkarten und -vorhersagen verwendeten gern das Wort »normal«. Sie maßen Normalität. Wetterkarten konnten einem die durchschnittliche tägliche Abweichung von der Norm des Monats oder Jahres angeben. Ruth wäre gern in der Lage gewesen, die durchschnittliche tägliche Abweichung von ihrer eigenen Norm zu messen.

»Viele Dinge sind nicht normal«, sagte Ruth. »Viele Dinge, die normal sind, sollten es nicht sein. Wenn man abends die Nachrichten sieht, könnte man meinen, daß die Welt von Männern beherrscht ist. Und man hätte recht. Aber das ist nicht normal. In einer Nachricht nach der anderen gehen weiße Männer mittleren Alters über die Straße, stehen am Pult oder sitzen am Tisch. Sie halten Reden und Ansprachen. Sie dozieren. Sie attackieren. Sie loben. Sie erklären. Wo sind die Frauen? Nicht zu sehen. Und nicht an der Macht. Wenn eine Frau in eine Machtposition gelangt, ist das eine Riesensache. Es ist eine Riesensache, daß wir Condoleeza Rice haben. Es war eine Riesensache, als es Golda Meir gab. Und das ist fünfunddreißig Jahre her. Und wer ist schuld daran?« fragte Ruth, ein bißchen außer Atem, und sah Sonia an.

»Die Männer«, antwortete Sonia.

»Nein«, sagte Ruth. »Männer sind vernünftig. Sie wissen, was sie wollen. Und sie wissen, wie sie es bekommen. Ihre Hirne sind nicht vernebelt und mit sinnlosem Zeug verklumpt und verstopft. Sie sind nicht bis zum Rand voll mit Selbsttäuschungen über ihre Liebenswürdigkeit, ihre Nettigkeit oder zwölf verschiedene Diäten. Frauen sollten miteinander sprechen. Ehrlich. Sie sollten einander vertrauen. Statt einander in Stücke zu reißen. Sie sollten Informationen, Kontakte, Erfahrungen und Intimes austauschen.«

Ruth hatte den Eindruck, daß das Intime im großen und ganzen von dringenderen Bedürfnissen abgelöst worden war. Karriereschritte, Konferenzen, Elternschaft, Wohnungseinrichtung oder Hauskauf schienen größere Gefühlsregungen auszulösen als Orgasmen. Und richtig wichtig waren meistens Firmenpolitik, Immobilientransaktionen, Scheidungsverhandlungen oder sportliche Aktivitäten. Nicht Vorspiel. Oder Libido.

Ruth machte sich Sorgen über ihre Libido. Sie war der Ansicht, daß man eine Libido leicht verlieren konnte. Leichter als Handschuhe oder Regenschirme. Handschuhe und Regenschirme konnte man im Auge behalten. Eine Libido dagegen konnte man verlegen, ohne es zu merken. Jahrelang. Und selbst wenn man sich Sorgen über die eigene Libido machte, konnte man nicht darüber sprechen. So etwas war kein geeignetes Gesprächsthema. Man konnte nicht über eine verlegte Libido plaudern, wie man über ein weggelaufenes Haustier plaudern konnte. Und außerdem wurde dieser Verlust von anderen nicht einmal bemerkt. Im Unterschied zu Gewichtsverlust. Oder Haarausfall.

»Frauen müssen Erfahrungen und Intimität teilen«, wiederholte Ruth.

»Was für eine Intimität?« fragte Sonia.

»Jede Art von Intimität«, sagte Ruth.

»Ich kenne keine einzige Frau, der es leichtfiele, über Sex zu sprechen«, antwortete Sonia. »Jedenfalls keine verheiratete Frau.« Sie schwieg. »Wahrscheinlich weil sie von dem Sex, den sie haben, nicht besonders begeistert sind«, sagte sie. »Sex zwischen Ehepartnern ist nur ein Thema unter vielen in ihrem Alltag. Wie Rechnungen bezahlen oder den Abfall rausbringen. So utilitaristisch und alltäglich wie Geschirrspülen. Und genauso mechanisch. Zwei Minuten nachdem man angefangen hat, ist es schon wieder vorbei. Er hat ejakuliert. Du hast gestöhnt. Für einen Augenblick hattet ihr beide vergessen, was ihr im Fernsehen gesehen habt oder was im Büro los war oder daß ihr eines der Kinder oder den Partner eben noch am liebsten erschlagen hättet. Eine halbe Stunde später schläfst du oder denkst wieder über das Kind oder das Büro nach. Die Entfernung, die ihr überbrückt hattet, um nicht an die häßlichen Socken oder Unterhosen oder an die sonderbaren Eßgewohnheiten zu denken, ist wieder da. Die Entfernung, die ihr überbrückt hattet, um einander nahe zu sein, ist wieder da. Die einzige Möglichkeit, mehr als das zu haben, besteht darin, sich einen Liebhaber zu nehmen. Das habe ich jahrelang getan. Aber ich kann es nicht mehr. Es ist zu schwierig, Ehefrau, Mutter und Geliebte zu sein. Ehefrau und Geliebte habe ich schon kaum unter einen Hut gebracht. Es war einfach zu schwierig, den Überblick zu behalten. Ganz zu schweigen davon, daß so etwas mit Kindern schlicht unmöglich ist. Schließlich kann man nicht Cornflakes einkaufen und gleichzeitig daran denken, wie der Geliebte riecht. Das geht einfach nicht.«

Sonia sah bedrückt aus. Ihr normalerweise geradegeschnittenes glattes Haar war zerrauft.

Ruth war beunruhigt. Sonia tat ihr leid. Ruth war sich nicht sicher, daß Sex oder die Frage, wie häufig man Sex hatte, einen verläßlichen Maßstab des Eheglücks bildete. Es spielte so vieles mit hinein. Sie fand, daß sie eine glückliche Ehe führte. Sie wußte, daß sie Garth liebte. Aber Liebe war etwas so Nebulöses. Man konnte einen anderen aus so vielen falschen Gründen lieben. So viele Irrtümer konnten Eingang in die Liebe finden und fanden ihn auch. So viele Ablenkungen. Und so viel Zerstörung. Man konnte einen anderen lieben, weil er es einem ermöglichte, sich schlecht zu fühlen oder überfordert oder überfahren oder sicher oder überlegen. Man konnte einen anderen als äußerst praktischen Ersatz für Eigenliebe lieben.

Man konnte einen anderen als Ersatz für so vieles lieben. Gutes wie Schlechtes. Woher wollten die Leute wissen, warum sie die liebten, die sie liebten? Ruth hatte ihr halbes Erwachsenenleben auf der Analytikercouch verbracht und ein halbes Vermögen ausgegeben, um ihr Leben zu meistern. Und sie kam jetzt besser damit zurecht. Völlige Klarheit hatte sie nicht. Man sollte meinen, daß man für so viel Geld...

Erscheint lt. Verlag 10.12.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel You Gotta Have Balls, 2005
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber
Schlagworte Alter • Belletristische Darstellung • Jüdin • Medal of the Order of Australia 2021 • New York • New York NY • New York, NY • NY • Prix Médicis Etranger 2014 • ST 3922 • ST3922 • suhrkamp taschenbuch 3922 • Übersetzerpreis der Stadt München 2015 • Vater • Vereinigte Staaten von Amerika USA • You Gotta Have Balls 2005 deutsch
ISBN-10 3-518-73280-3 / 3518732803
ISBN-13 978-3-518-73280-9 / 9783518732809
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