Armut in einem reichen Land

Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird
Buch | Softcover
391 Seiten
2011 | 2. Auflage
Campus (Verlag)
978-3-593-39381-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Armut in einem reichen Land - Christoph Butterwegge
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In Deutschland geht das Gespenst der Armut um. Nicht länger tabuisiert, ist es inzwischen zum viel diskutierten Topthema geworden: Hartz IV, die Angst der Menschen vor sozialem Abstieg, die Folgen der Weltfinanzkrise. Dennoch wird Armut immer noch nicht konsequent bekämpft, sondern geleugnet, verharmlost und »ideologisch entsorgt«. Wie dies in Politik, Medien und auch der Wissenschaft geschieht, zeigt Christoph Butterwegge an zahlreichen Beispielen. In der zweiten, aktualisierten Auflage seines Buchs geht er unter anderem auf den Regierungswechsel im Jahr 2009 ein sowie auf die neuen Hartz IV-Bestimmungen. Er verdeutlicht, warum Äußerungen
wie die von Guido Westerwelle über Hartz IVBezieher oder von Thilo Sarrazin über Arme und Migranten die Gesellschaft weiter spalten. Schließlich zeigt er, was getan werden muss, damit sich die Kluft zwischen Arm und Reich wieder schließt.

Christoph Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Köln. Er ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema Kinderarmut, Rechtsextremismus und Neoliberalismus sowie viel gefragter Experte auf Diskussionsveranstaltungen und in den Medien.

Inhalt

Einleitung 7

1. Armut in der Bundesrepublik - Begriffsdefinition und Bestandsaufnahme 11
Armut und Reichtum: Begriffe, Geschichte und Kontroversen 11
Empirische und theoretische Grundlagen 38
Globalisierung als neoliberales Projekt zur Vergrößerung der
sozialen Ungleichheit 67
Von der Alters- zur Kinderarmut und wieder zurück? 87

2. (Zerr-)Bilder der Armut: Wie man das Problem leugnet, verharmlost und verdrängt 96
Legenden und Illusionen im Wirtschaftswunderland:
Wohlstand für alle 97
Mit der Rezession und der Massenarbeitslosigkeit kehrt
das Armutsrisiko ins Bewusstsein zurück120
Die rot-grüne Koalition, Gerhard Schröders "Agenda 2010"
und die sog. Hartz-Gesetze168
Gerechtigkeit im Wandel: Folgen der neoliberalen Hegemonie197
Missbrauchsdebatten auf Stammtischniveau: Stimmungsmache gegen Arme und Sozialstaat216
Debatten über die "neue Unterschicht" und das "abgehängte Prekariat"225
Wenn die Armut deutsche Durchschnittsbürger/innen trifft: Absturz der Mittelschicht?234
Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip238
Finanzmarktkrise und Armutsentwicklung: Droht ein autoritäres Sicherheitsregime?244
Hartz IV auf dem Prüfstand: "menschenwürdiges Existenzminimum" oder "anstrengungsloser Wohlstand"?258

3. Wege und Irrwege der Armutsbekämpfung260
Der "aktivierende (Sozial-)Staat" - Garant einer Verringerung der Arbeitslosigkeit und der Armut?261
Bildung für alle statt Umverteilung des Reichtums zugunsten der Armen?266
Das bedingungslose Grundeinkommen274
Bürgerversicherung und bedarfsorientierte Grundsicherung286
Andere Schritte zur Verringerung und Verhinderung von Armut290

Anmerkungen324
Abkürzungsverzeichnis367
Literaturauswahl371
Personenregister386

Einleitung Armut, in den meisten Regionen vor allem der "Dritten" und "Vierten" Welt schon immer traurige Alltagsnormalität, hält seit geraumer Zeit auch Einzug in Wohlfahrtsstaaten wie die Bundesrepublik, wo sie zumindest als Massenerscheinung lange weitgehend unbekannt war. Obgleich die Armut hier noch immer viel geringere Ausmaße hat und auch weniger dramatische Formen annimmt, deshalb eher subtil in Erscheinung tritt und oft selbst von damit tagtäglich konfrontierten Fachkräften wie Erzieher(inne)n und Pädagog(inn)en nicht einmal erkannt wird, wirkt sie kaum weniger bedrückend als dort. Über mehrere Jahrzehnte hinweg hörte und las man selten etwas über die Armut in der Bundesrepublik, und wenn, dann meistens im Zusammenhang mit besonders spektakulären Ereignissen bzw. tragischen Einzelschicksalen: dem Kältetod eines Obdachlosen, dem Verhungern eines Kleinkindes oder der Gründung einer "Tafel", wie die Suppenküchen heutzutage beschönigend genannt werden. Derweil interessierte sich die hypermoderne "Kapital-Gesellschaft" offenbar mehr für Aktienkurse als für Babyklappen, Straßenkinder, Sozialkaufhäuser, Kleiderkammern und Wärmestuben, wie es sie mittlerweile in vielen deutschen Städten gibt. Zuletzt avancierte "Armut in Deutschland" aus einem Tabu- beinahe zu einem Topthema, das in Talkshows über die Wirkung der sog. Hartz-Gesetze, die Benachteiligung von Kindern und Familien, den Zerfall der Mittelschicht, die zu erwartenden Folgen der Weltfinanzkrise oder die Angst vieler Menschen vor einem sozialen Absturz sehr häufig erörtert wird. Man spricht jetzt zwar viel mehr darüber als noch vor wenigen Jahren, nimmt sie aber, wie mir scheint, ebenso wenig als gesellschaftliches Kardinalproblem wahr bzw. ernst wie früher. Die in der wohlhabenden, wenn nicht reichen Bundesrepublik stark zunehmende Armut wird deshalb auch nicht konsequent bekämpft, sondern von den meisten Politiker(inne)n, Publizist(inn)en und Wissenschaftler(inne)n immer noch geleugnet, verharmlost und verschleiert. Man muss kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass die Armut im Gefolge der globalen Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise zunehmen wird. Da die Angst vor dem sozialen Abstieg bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft vorgedrungen ist, können sie Politiker/innen der etablierten Parteien nicht mehr ignorieren, wie das viel zu lange geschah. Deshalb werden das Problem der Armut und das Thema der sozialen Gerechtigkeit in nächster Zeit nicht wieder von der Tagesordnung verschwinden, vielmehr öffentliche Diskussionen, Parlamentsreden und Wahlkämpfe beherrschen. Umso unerlässlicher ist es für Sozialwissenschaftler/innen, deren neues Megathema die Armut werden könnte, falls sich das Problem - wie zu befürchten - drastisch verschärft, diese Entwicklung als zentrale Herausforderung zu begreifen. Armut in einem reichen Land verweist auf das Kardinalproblem der sozialen Ungleichheit national wie auch weltweit und wirkt nicht bloß entwürdigend auf die Betroffenen, ist vielmehr mindestens genauso beschämend für die Gesellschaft sowie ausgesprochen unchristlich und inhuman. Das vorliegende Buch wendet sich an Leser/innen, die sich nicht bloß über das Problem der Armut, der Unterversorgung und der sozialen Ausgrenzung von Menschen bzw. seine Dimension, Entstehung und Entwicklung informieren, sondern auch den Umgang von Politik, (Medien-) Öffentlichkeit und Fachwissenschaft damit fundiert kritisieren und sich an der Diskussion über seine Ursachen sowie mögliche Gegenmaßnahmen in unterschiedlichen Bereichen, etwa der Wirtschafts-, Steuer-, Bildungs-, Gesundheits-, Familien- und Sozialpolitik, sachkundig beteiligen wollen. Es geht weniger um die Theorie sowie die Empirie als um jene Zerrbilder der Armut, die in den Massenmedien und der politischen genauso wie in der Fachöffentlichkeit dominieren und die Ideologie stützen (sollen), wonach "wirkliche" Not und "tatsächliches" Elend hierzulande verschwunden bzw. im Wesentlichen längst überwunden sind. Leser/innen, die in einem Buch über Armut neue Zahlen, aktuelle Daten und "harte Fakten" sowie aufschlussreiche Diagramme zur Einkommens- und Vermögensverteilung suchen, sich also - dem üblichen (journalistischen) Zugriff folgend - hauptsächlich für die statistische Erfassung und die möglichst exakte Quantifizierung von Armut interessieren, bitte ich dafür um Verständnis, dass ihren Erwartungen kaum entsprochen werden dürfte. Stattdessen habe ich mich bemüht, in einem stärker analytischen Zugriff die gesellschaftlichen Hintergründe der Armut zu beleuchten und im öffentlichen wie im Fachdiskurs ausgeblendete Zusammenhänge herzustellen. Schließlich dreht sich der Streit um die Armut weniger um Zahlen als um deren Interpretation und damit verbundene Schuldzuweisungen. Sowenig das Schwein durchs Wiegen fett wird, wie eine Bauernweisheit lautet, sowenig macht die Armen satt, dass sie ständig gezählt werden. Zudem weichen statistische Erhebungen und empirische Untersuchungen zur Armut oftmals nicht nur hinsichtlich ihrer Resultate erheblich voneinander ab - was zur Verwirrung statt zur Aufklärung der Öffentlichkeit über Dimensionen und Wesen des Problems beiträgt -, sondern sie können nach dem Winston Churchill zugeschriebenen Bonmot "Ich glaube nur den Statistiken, die ich selber gefälscht habe" auch von wichtigeren Fragestellungen ablenken: Wie kommt es, dass die (Angst vor der) Armut in einem reichen Land wie der Bundesrepublik inzwischen sogar die gesellschaftliche Mitte erreicht? Wer trägt dafür politisch die Verantwortung und wie lässt sich der skandalöse Zustand ändern? Hier wird hauptsächlich nach den gesellschaftlichen, also nicht den individuellen Entstehungsursachen von Armut und nach den unterschiedlichen Wirkungsmechanismen gefragt, die es der etablierten Politik, weiten Teilen der Öffentlichkeit und einer Minderheit der Sozialforschung ermöglichen, sie ganz zu leugnen oder zu verharmlosen. Mich interessiert des Weiteren, wann man hierzulande als bedürftig oder arm gilt, und weniger, wie viele Arme es gibt und wo genau die "Armutsrisikoschwelle" liegt. Deshalb steht die Frage im Vordergrund, wie unsere reiche Gesellschaft mit denjenigen umgeht, die sie selbst für "nicht dazugehörig" erklärt, marginalisiert oder sozial ausgrenzt. Nach der Lektüre des Buches dürfte auch frustriert sein, wer sich davon einen "objektiven" Erkenntnisfortschritt der Fachwissenschaft erhofft hat. Stattdessen wird ihm eine subjektiv gefärbte, leicht als ideologisch zu brandmarkende Problemsicht geboten, die weder dem wissenschaftlichen Mainstream noch dem politischen Zeitgeist entspricht. Dies ist freilich gerade eine der Kernthesen, die der Verfasser zu belegen sucht: Wie die Armut gesehen und der davon Betroffene eingeschätzt wird, hängt entscheidend vom jeweiligen Betrachter ab. Da zumindest Reiche und Superreiche kein Interesse an einer tiefgreifenden Veränderung der Einkommens-, Vermögens- und Herrschaftsverhältnisse haben, sträubt sich die von ihnen maßgeblich beeinflusste Öffentlichkeit gegen Wahrheiten wie die, dass der Finanzmarktkapitalismus mehr Armut als nötig erzeugt hat, oder die, dass ein moderner Industriestaat wie die Bundesrepublik in der Lage wäre, sie zu beseitigen, würde nicht der politische Wille dazu fehlen. Je länger mich das Thema "Armut" umtreibt, desto weniger Verständnis habe ich für die Gleichgültigkeit, mit der ihm ein Großteil der Öffentlichkeit begegnet, aber auch für Beschönigungen und Beschwichtigungen. Noch nie hat es den Wohlhaben und Reichen an triftigen Argumenten dafür gemangelt, warum es Armut gibt, diese nicht zu beseitigen ist und die davon Betroffenen ihr Los "verdient" haben. Wer sich mit dem Armutsproblem beschäftigt, muss deutlich Stellung beziehen und Partei für oder gegen die Betroffenen ergreifen. Eine "wertfreie" oder "-neutrale", quasi über den gesellschaftlichen Interessengegensätzen schwebende Sozialwissenschaft gibt es sowenig wie unbeteiligte Beobachter/innen der Gesellschaftsentwicklung oder unvoreingenommene Armutsforscher/innen. Schon die Wahl des Untersuchungsobjekts erfolgt auf der Basis bestimmter Erkenntnisinteressen sowie politischer, weltanschaulicher und religiöser Grundüberzeugungen. Armutsforscher/innen sollten sich über ihre persönliche Befangenheit sowie ihre "Vorprägung" durch eigene Lebenserfahrungen klar sein und die inhaltlichen genauso wie die methodischen Prämissen ihrer Arbeit offenlegen. Das meiner Mutter, meiner Frau und meiner Tochter gewidmete Buch versteht sich als Beitrag zu einer Sozial- und Diskursgeschichte der Armut. Es gliedert sich in drei Teile: Im ersten Kapitel wird der Armutsbegriff erörtert und nach den Ursachen des Problems sowie Möglichkeiten seiner empirischen Untersuchung gefragt. Das zweite Kapitel unternimmt einen Streifzug durch die Armutsentwicklung und -debatten der letzten Jahrzehnte. Abschließend geht es um Wege und Irrwege der Armutsbekämpfung. Die umfangreiche, nach inhaltlichen Kriterien gegliederte Literaturauswahl am Ende des Buches eröffnet seinen Leser(inne)n die Möglichkeit, bestimmte Aspekte des Themas zu vertiefen. Obwohl die EU-Kommission 2010 zum "Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung" erklärt hatte, gab es auf diesem Gebiet keinen Durchbruch. Weder wurde das Bewusstsein für Armutsrisiken tatsächlich gestärkt, noch die Wahrnehmung ihrer Ursachen und Auswirkungen spürbar geschärft oder der Diskriminierung von Betroffenen mit Erfolg entgegengewirkt. Bleibt zu hoffen, dass die zweite Auflage des vorliegenden Buches mehr dazu beiträgt als solch eine reine Symbolpolitik.

Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 540 g
Einbandart kartoniert
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Schlagworte Armut • Armutsforschung • Armutsgrenze • Deutschland; Politik/Zeitgeschichte • Hartz IV • Prekarität • Soziale Lage
ISBN-10 3-593-39381-6 / 3593393816
ISBN-13 978-3-593-39381-0 / 9783593393810
Zustand Neuware
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