Warum Winnetou wichtig war -  Ralf Junkerjürgen

Warum Winnetou wichtig war (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
176 Seiten
Schüren Verlag
978-3-7410-0703-3 (ISBN)
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Was als Reise nach Kroatien zu den Drehorten der Winnetou-Filme beginnt, vermischt sich bald mit Gedanken über die Bedeutung der Filmreihe für das Deutschland nach 1945 und weckt persönliche Erinnerungen, die stellvertretend für mehrere Generationen stehen. Die Poesie der Karstlandschaften mit ihren Wasserfällen und türkisblauen Flüssen und Seen lässt versunkene Bilder wieder auftauchen und entwickelt ein vielschichtiges Zusammenspiel aus Erlebnis, Nachdenken und Erinnern, das verständlich macht, warum Winnetou wichtig war und zu dem prägendsten populären Mythos Deutschlands seiner Zeit werden konnte. Der Autor zeigt, wie Winnetou Held einer jungen Generation im Aufbruch aus dem Schatten der Nachkriegszeit werden konnte und wie viel Sehnsucht nach einer besseren Welt in dieser Begeisterung steckt. Gerade die persönlichen Erinnerungen können dabei eine emotionale Brücke zur Generation der Gegenwart schlagen, die kaum Verständnis für diese Faszination mehr hat, in Winnetou kolonialistische oder gar rassistische Stereotype am Werke sieht und den Häuptling endgültig in die ewigen Jagdgründe schicken möchte. Vielleicht wird allein in der Mischung aus Erleben, Entdecken, Erinnern, Sehnsüchten und Gedanken das Wirken eines Mythos erkennbar, der wohl die wichtigste populäre Schöpfung der deutschen Nachkriegszeit war und zugleich die einzige Fantasie gewesen ist, die Ost- und Westdeutschland miteinander teilten und die damit beide ein Stück zusammenhielt.

Ralf Junkerjürgen ist Professor für romanische Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg.

Ralf Junkerjürgen ist Professor für romanische Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg.

I
Der Schatz der
Plitvicer Seen


Der Herbst kündigte sich an. Die Bäume am anderen Ufer ertönten schon im farblichen Dreiklang, auch wenn das Grün noch dominierte. Als ich mit der Fähre übersetzte, betrachtete ich die Nebelschwaden dicht über der Wasseroberfläche, die sich in den Strahlen der Sonne langsam verflüchtigten. Auf dem See war es bereits so morgendlich kühl, dass man die Jacke schließen musste. Das Tosen der kleinen Wasserfälle gegenüber war immer deutlicher zu hören, wurde aber noch vom Tuckern der Fähre übertönt. Keine Stimme erklang um mich herum, denn von den hundert Plätzen auf dem Boot, war nur einer besetzt. Meiner. Vorne beim Fährmann stand noch ein kleiner dünner Mann, der mit einer Greifzange und einem Beutel ausgerüstet war und schweigend eine Zigarette rauchte. Beim Anblick von Fotos dieser Landschaft hätten die Leute gemeint, ich sei zum Indian Summer an die Great Lakes gefahren. Aber da war ich nicht. Ich befand mich auf dem Kozjak, dem größten See von Plitvice in Kroatien.

Als wir am anderen Ufer landeten, drückte der kleine dünne Mann seine Zigarette aus und begab sich auf seine Runde. Für einen Moment beneidete ich ihn. Er machte jeden Tag seinen Spaziergang durch das Wunder dieses Nationalparks, um wie nebenbei den Müll aufzusammeln. Ich wartete einen Augenblick auf dem Steg, damit er Vorsprung gewinnen konnte, und ich das Gefühl hatte, ganz allein zu sein.

Dann ging ich den Holzsteg hinauf, mit dem der Rundgang begann und der direkt über das schäumende Wasser führte. Anstatt aus Brettern bestand der Steg aus oben abgeflachten armdicken Ästen, die sich der Feuchtigkeit lange widersetzen konnten. Zwischen den Ritzen sah man die schäumende Flut direkt unter sich und hatte an manchen Stellen das Gefühl, über den Wassern zu gehen. Dann trat mitunter plötzlich Stille ein und man stand an einem türkisblauen Teich, in dem mit einer Kalkhaut überzogene kahle Äste zu wachsen schienen, Korallen aus Gips. Das Wasser war so klar, dass einem schwindlig werden konnte, wenn man vom Steg in die Tiefe blickte. In meiner Fantasie steigerte sich das Astwerk im Wasser zu Mangrovenwäldern der Karibik, und in dieser bildlichen Übertreibung verspürte ich die erste Wirkung davon, so ganz allein in der Natur und fernab jeder Ablenkung zu sein. Die Welt erschien mir, wie sie mir als Kind erschienen war: Ähnlichkeiten verbanden alles mit allem, Dinge wuchsen über sich hinaus, die Wirklichkeit war nichts anderes mehr als Rohstoff der Fantasie.

Das Rauschen der zahllosen kleinen Wasserfälle, über die ich hinweg schwebte, begleitete ein innerer Rausch, aber sanft und ruhig wie ein Hochgefühl ohne fiebrige Spitzen. Inmitten dieses Tosens unter wolkenlosem Himmel, allein auf einem Steg, unter dem das Wasser alles wegspülte, dessen es habhaft wurde, schien es auch mich durch- und auszuspülen, als hätte ich einen Schluck aus der Lethe genommen.

Wir befanden uns mitten in der Pandemie, und die Gespanschaft Lika-Senj, zu der die Plitvicer Seen gehören, war als Risikogebiet eingestuft worden. Hier, wo sich im Sommer täglich elftausend Touristen im stop and go über die Stege schieben, um ihre Fotos von den Wasserfällen und Seen zu schießen, war niemand außer mir. Sechzehn Einzelseen, die eine langgezogene Treppe bilden und sich einer in den anderen ergießen, lagen verwaist da wie ein evakuierter Wasserplanet. Vom Kozjak-See aus, der in der Mitte dieser Treppe liegt, hat man die Wahl, die oberen oder die unteren Seen zu erkunden. Ich war nach links abgebogen, um zunächst die oberen zu erwandern und dann auf dem Rundweg die unteren zu erreichen, wo sich mir mit dem Veliki Slap, dem größten Wasserfall Kroatiens, gewiss ein spektakuläres Finale bieten würde. Bis dahin sollte mir die Landschaft einen einzigartigen Wechselrhythmus bieten, in dem das Rauschen der Kaskaden und die Stille stehender Gewässer einander ablösten.

So lag auch der Gradinska-See ruhig wie ein Spiegel vor mir, der die Welt in zwei Hälften teilte. Nach einer Biegung am Ufer wird der erste große Wasserfall erkennbar und sein Tosen leise hörbar. Noch ist sein unterer Teil hinter Sträuchern versteckt, aber nach hundert Schritten am Ufer führt mich der Steg direkt an ihm vorbei. Die Fassade des Felsens ist so rechteckig und regelmäßig, dass man glaubt, vor der Bühne eines Naturtheaters zu stehen, über die ein endloser Vorhang aus Tropfen und Schaum hinabfällt. Das Wasser ergießt sich dabei nicht von einer durchgezogenen Linie in den Abgrund, sondern schießt wie aus Rohren hervor, die in einem regelmäßigen Abstand nebeneinander angebracht wurden. Im Fall sprüht der Strahl sofort auseinander und berührt sich leicht mit seinen Nachbarn, sodass der Stoff dieses Wasservorhangs in Wellen aufgeworfen zu sein scheint.

Etwas weiter komme ich an einen gut 18 Meter hohen Fall, den Mali Prštavac, von dem das Wasser fein und sanft wie eine Seidengardine hinabgleitet. Die warmen braungelben Töne des Felsens erinnerten mich daran, warum ich eigentlich hier war. Ich hatte diesen Wasserfall schon oft im Bild gesehen, zum ersten Mal vor über vierzig Jahren, und war dem inneren Ruf gefolgt, Fantasie und Wirklichkeit nebeneinanderzustellen. Die Bildschirmlandschaften, in denen sich die Helden und Schurken verfolgten, schienen irgendwo an einem mythischen Ort, unwirklich und unerreichbar zu sein. Als ich später erfuhr, dass die Winnetou-Filme im damaligen Jugoslawien gedreht worden waren, erwachte sofort der Wunsch, sie zu besuchen. Aber Anfang der 1990er machte der Krieg dies unmöglich, dann beschäftigten mich andere Dinge, und Karl May gehörte zu den Jugenderinnerungen. So blieben die Landschaften eine ungestillte Sehnsucht, irrational und zwecklos, denn was bringt es schon, Drehorte zu besuchen, die nach sechzig Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert sein können? Das galt es nun herauszufinden. Ich stand hier ungefähr an der Stelle, wo im Schatz im Silbersee die Tramps Fred Engel (Götz George) mit nacktem muskulösen Oberkörper neben seiner geliebten Ellen Petterson (Karin Dor) in rot-weiß-karierter Bluse an einen Baum binden und ihrem Anführer Brinkley (Herbert Lom) zujubeln, der auf der anderen Seite des Sees mit einem Floß die Schatzhöhle erreicht hat. Eine andere Seite des Sees gab es in Wirklichkeit nicht. Das ist die erste, wenn auch banale Erkenntnis, zu der man beim Besuch von Drehorten gelangt: nämlich, dass Filme eine große Collage aus unzusammenhängenden Räumen sind, die in der Fantasie des Betrachters zu einer eigenen Welt zusammengefügt werden, die sich von der wirklichen kaum unterscheiden lässt.

Aber das war nicht das eigentlich mythische Bild gewesen, das an dieser Stelle geschossen wurde. Vor dem Mali Prštavac posierten Pierre Brice und Lex Barker im Kostüm auf einem Stein für ein Pressebild. Aus der Untersicht sieht man Old Shatterhand, leicht erhöht, die rechte Hand auf die Schulter seines Blutsbruders Winnetou gelegt, der links neben ihm steht, mit einem Bein auf dem Felsbrocken, mit dem anderen auf dem Boden. Die geringe Schärfentiefe lässt den Hintergrund verschwimmen und die Figuren klar hervortreten. Beide schauen nach links in die Ferne, als würden sie dort etwas beobachten. Ist es der verklärte Blick aus der Malerei, mit dem Heilige ihren Gott erkennen? Mit den Heiligen teilen sich die Helden zwar das Ikonische, ihr Blick hingegen ist ernst, angespannt, als sähen sie kommende Gefahren, als wollte der rechte Arm auf Winnetous Schulter sagen «Komm, es geht wieder los.»

Dieses Foto schmückte einst das Filmplakat vom Schatz im Silbersee und landete später auf Schallplatten und Bildton-Trägern. Im Film gibt es keine entsprechende Szene, in der die beiden so zu sehen sind, aber das betont nur den besonderen Status dieses Bildes. Es ist ein Emblem, das zwei Ikonen schafft, die in Deutschland einen tiefen Eindruck hinterlassen haben und zum kollektiven Gedächtnis gehören. Zwei Traumfiguren, auch im körperlichen Sinne: der athletische Barker mit seinen 1,93 Metern, vormals Tarzan; daneben der nicht minder schöne Brice, dessen Gestalt weniger für Kraft denn Gewandtheit steht, daran erkennbar, dass Winnetou nie über die Kruppe seines Pferdes absteigt, sondern sein Spielbein geschmeidig wie ein Balletttänzer über Hals und Kopf des Tieres hebt, um nach vorn elegant von seiner Mantillo-Decke hinunterzugleiten.

Und dann diese Farben. Old Shatterhand ist eine Erscheinung aus braungoldenen Tönen. Wildlederkostüm, Haut, Haarfarbe, alles geht ineinander über. Die Fransen an Armen und Beinen verleihen den Konturen einen weichen Übergang in alles, was ihn umgibt. Er ist blond, aber es ist nicht das kalte Blond der SS-Offiziere aus Kriegsfilmen, es ist warm, goldig, nussbraun, ein unbelastetes und beruhigendes Blond. Im Gegensatz dazu steht Winnetou mit tiefschwarzem Haar – «blauschwarz» hatte Karl May es genannt –, in hellem Hirschlederkostüm, reich verziert mit Stickbahnen, auf denen abstrakte Zeichen wie Kreuze und Pfeile zu sehen sind. Zwei Bahnen davon gehen wie eine Stola von der Schulter über die Brust bis zum Gürtel und betonen das Priesterliche des Häuptlings.

Äußerlich verbindet sie nichts als die Bärenkrallen-Kette um ihren Hals, und doch bilden sie eine Einheit. Es ist eine Sehnsuchtseinheit für die Deutschen Anfang der 1960er-Jahre, denn sie steht für Völkerfreundschaft. Das Deutschland jener Zeit, im Wiederaufbau zwar, aber gezeichnet, stigmatisiert als Nation der Völker- und Massenmörder, als historisch beispiellose Schande der Menschheit, hat zwei...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2024
Verlagsort Marburg
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte
Schlagworte Autobiographie • Coming-of-age • Indianer • Indianerromane • Kara Ben Nemsi • Karl May • Kroatien • Kulturelle Aneignung • Nachkriegszeit • Old Shatterhand • Pierre Brice • Pubertät • Rassistische Stereoptypen • Reisebericht • Winnetou – 1. Teil • Winnetou – 2. Teil • Winnetou – 3. Teil • Winnetoufilme • Winnetou und das Halbblut Apanatschi • Winnetou und sein Freund Old Firehand • Winnetou und Shatterhand im Land der Kiowa • Winnetou und Shatterhand im Tal der Toten
ISBN-10 3-7410-0703-X / 374100703X
ISBN-13 978-3-7410-0703-3 / 9783741007033
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