Gleise, die die Welt bedeuten (eBook)

Die schönsten Zugabenteuer nah und fern | Liebeserklärung ans Reisen auf Gleisen, hrsg. vom Mörike-Preisträger - Geschenk für Zug-Fans und Eisenbahnmenschen

Jaroslav Rudi? (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60759-9 (ISBN)

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Gleise, die die Welt bedeuten -
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Eine Zugfahrt ist selten die schnellste, aber oft die schönste Verbindung zwischen zwei Orten. Wie Landschaften am Fenster vorüberziehen und fremde Menschen im Abteil zu Verbündeten werden, davon berichtet dieses Buch.  Herausgeber dieser inspirierenden Anthologie ist Jaroslav Rudi?, Bestsellerautor, Zug-Experte und passionierter Eisenbahnmensch. Rudi? versammelt hier die packendsten Zugreisegeschichten des Malik-Schreibwettbewerbs zum Tag der Schiene. Ob im Bummelzug durch Italien oder mit der Regionalbahn durch Deutschland, im modernen Expresszug durch Kenia oder auf einer Traditionslinie durch die USA - sie erzählen vom Aufbrechen und Ankommen und davon, dass jede Reise uns zu einem anderen Menschen macht. Das perfekte Geschenk für alle, die es lieben, im Takt der Schienen die Welt zu erkunden.

»Priviet«, Hallo, sagt der blonde, leicht gebräunte Besitzer dieses aufwühlenden und gleichzeitig entspannenden Augenpaars. Gefolgt von einem Satz auf Russisch, mit dem er sich als Juri vorstellt. Er streckt mir seine Hand entgegen.

»Julia«, sage ich und hoffe, dass er möglichst lange unser Nachbar bleibt. Ritas Familie rechts, Juri links, was soll da noch passieren?

»Irkutsk?«, frage ich.

Erst jetzt merkt Juri, dass ich keine Russin bin. »Krasnojarsk«, antwortet er.

Ich habe keine Ahnung, wann wir in Krasnojarsk einfahren. Dauert hoffentlich noch. Lächelnd schauen wir gemeinsam aus dem Fenster und auf die vorbeiratternden Birken, als Juri mich auf Levianisch fragt, woher ich käme.

»München«, sage ich. Und: »Germani«, wobei ich versuche, die Aussprache von Sergei nachzuahmen.

»Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagt Juri in fast akzentfreiem Deutsch.

»Wir können uns ruhig duzen«, gebe ich lachend zurück.

Er hat Deutsch in der Schule gelernt und es offensichtlich besser behalten als ich mein Schulfranzösisch. »Ich ziehe in zehn Tagen in die Türkei. Ans Meer«, sagt Juri, »um zu kochen!«, und das Strahlen seiner Augen droht den Zug zu sprengen. Er ist Koch und beginnt sein neues Leben westlich von Side. In einem Ferienhotel.

»Ich liebe das Meer, ich beneide dich!«, sage ich.

»Was machst du dann in diesem Zug?«, fragt Juri, als mein Sohn Levi seinen Ich-bin-jetzt-wach-Singsang anstimmt.

Olga startet ihre morgendliche Mülltütenrunde, sieht mich plaudernd mit Juri und ruft etwas herüber.

»Da«, antwortet Juri, und Olga wird hektisch. Sie verstaut die Tüte unter dem Samowar und eilt zu uns.

»Sie möchte dich etwas fragen«, sagt Juri. »Sie fragt, ob ich übersetze, damit sie alles versteht.«

Olga wechselt einige schnelle Sätze mit Juri, dann heften sich ein grünes und ein blaues Augenpaar auf mich, und Juri sagt: »Du fährst zum Baikalsee mit deinem Baby, ja? Und dann über die Mongolei bis nach Peking, ja?«

Ich nicke.

»Warum machst du das? Alleine mit Levi. Wo ist der Vater?«

Olga schimpft leise mit Juri. »Vater nicht gefragt!«, sagt sie grinsend.

Ich starre die beiden an. Meine Hände kribbeln, und mein Magen fühlt sich auf einmal flau an. Vielleicht war der Lachs doch nicht in Ordnung gestern? Levi spielt mit meinen Schnürsenkeln und vermittelt den Eindruck, die nächsten Stunden nichts anderes machen zu wollen. Dem Geruch nach zu urteilen, braucht er auch keine neue Windel. Es gibt also keine Ausreden. Was werden die beiden wohl darüber denken, dass ich mich mit meiner Mission unter sie gemischt habe? Also los: »Ich reise, wenn ich Antworten suche«, hebe ich an.

Juri lacht, übersetzt und sagt: »Ich hau auch immer ab, wenn es schwierig wird!«

Sergei und Rita strecken die Nasen aus ihrem Abteil. Levi und Rita eröffnen ihre morgendliche Ballspielrunde. Sergei stellt sich zu uns und fragt Olga, was hier los sei. Olga erklärt die Situation, und dann schaut mich neben dem blauen und dem grünen auch noch ein spöttisch lächelndes braunes Augenpaar an.

»Abhauen bringt nichts«, sage ich. »Die Fragen holen mich immer ein. Also reise ich, um der Routine zu Hause zu entfliehen, eine neue Idee zu finden und die dann mit nach Hause zu bringen. Als Versöhnungsgeschenk sozusagen. Für meine Abwesenheit.«

Juri lächelt, übersetzt und sagt sonst nichts.

»Was ist deine Frage dieses Mal?«, lässt Sergei Juri fragen.

»Viele Menschen sagen, mit einem Kind wird alles anders. Auch die Eltern selbst verändern sich, heißt es immer. Und zwar nicht unbedingt zum Guten. Die Mütter verblöden bei Windeln und Kinderreimen, und die Väter entfernen sich von der Familie. Oder umgekehrt. Das will ich nicht.«

Olga fragt: »Ist denn so bei dir? Du nicht blöd!«

»Nein, noch nicht. Aber ich habe Angst davor.«

Katharina kommt aus dem Toilettenraum und stellt sich zu uns. Sergei spricht kurz mit ihr, dann fragt sie, wovor genau ich Angst hätte.

»Ich habe Angst, mein Leben mit Levi nicht zu finden. Und meine Träume zu verlieren.«

Katharina schaut Juri an.

Juri übersetzt.

Sonia stellt sich mit verschlafenem Gesicht und zerstrubbelten Haaren zu uns.

»Ich träume von Venedig! Ich möchte von der Giudecca aus auf das Markusbecken blicken und in La Fenice ein Klavierkonzert hören. Oder eines geben«, sagt Katharina und lacht auf. Ihre Augen leuchten, ihre Wangen sind leicht gerötet. Dann senkt sie ihre Augen und sagt leise: »Ich möchte einmal nach Venedig! Das echte Venedig, nicht das Venedig Russlands.«

Sergei erzählt uns, er träume davon, mit seiner Frau und Rita zusammen in Sankt Petersburg zu leben. Und von einem zweiten Kind: einem Sohn. Dann gibt er zu bedenken: »Viel zu teuer. Und keine Arbeit für mich!«

Sonia sagt, sie träume von einem Mann mit ganz viel Geld. »Geld« sagt sie auf Deutsch.

Sergei sagt: »Ich auch!« Und alle lachen.

Marina, die zweite Waggonschaffnerin und Vertreterin von Olga, sagt, sie weiß nicht genau, wovon sie träumen soll.

Olga entgegnet, dass sie davon träume, ins All zu fliegen: »Ich habe gelesen, dass das jetzt nicht nur für Astronauten möglich ist. Ich würde gerne diese Weltraumflugzeuge mitentwickeln und die Erde von oben sehen.«

Alle sprechen auf einmal ein paar Worte Deutsch. Und ich schäme mich ein wenig für meine fehlenden Russischkenntnisse. Wo immer es geht, versuche ich meinen Wortschatz, der mit da, spasibo und priviet fast zu Ende erzählt ist, einzustreuen. Als Sonia mir eine Kekstüte unter die Nase hält, greife ich zu und sage: »Spasibo!« Oder muss es spasiba heißen? Sagt man als Frau grundsätzlich spasiba oder nur, wenn ich mich bei einer Frau bedanke? Und wenn mein Gegenüber ein Mann ist, spasibo? Konzentriert versuche ich, mich daran zu erinnern, wann wer im Zug »o« oder »a« gesagt hat. Es mag mir einfach nicht einfallen. Ist das jetzt schon die mit vierundzwanzigstündiger Babybetreuung einhergehende viel zitierte Verblödung? Oder ist mein Hirn mit Transsib und Levi einfach ausgelastet? Egal! Was hat Juri gerade gefragt? Ob ich bisher meine Träume gelebt habe? Vor Levi?

Gut, ich wusste, dass die Reise nicht einfach wird. Aber so schwierig?

»Work in progress«, sage ich, lache und fange an, von der Bedeutung des Reisens für mich zu erzählen. Dass ich auch andere Menschen dazu verführen möchte, sich hinauszuwagen, um dem Trott zu entkommen. Den Mühlen, die einem das Feuer aus den Augen stehlen. Und dass ich deswegen nach einer Bhutanreise einen Reiseveranstalter gegründet und nach einer Reise zum Salar de Uyuni eine Reisebuchhandlung übernommen habe. Dass ich in Bhutan zum Chomolhari Base Camp getrekkt bin, als ich gerade erfahren hatte, dass ich schwanger war. Und von Grönland mit Babybauch.

»Und jetzt bin ich hier. Mit euch!«

Wir sprechen noch eine Stunde über Träume, Ziele und das Leben, bis Sonia etwas sagt, das Juri nicht sofort übersetzt. Mit aufgerissenen Augen und in einem leicht harschen Ton spricht er in die Runde. Es gibt ein paar Wortwechsel, offensichtlich ist man sich uneinig, ob die Frage angemessen oder wie sie zu stellen sei.

Dann fragt Juri: »Findest du diese Reise nicht zu gefährlich? Für Levi? Auf der Suche nach deinen Träumen?«

»Ich fand es gefährlicher für uns alle, zu Hause zu bleiben«, antworte ich. »Außerdem möchte ich herausfinden, ob abenteuerliches Reisen mit Levi funktioniert. Ob es ihm guttut, so wie mir. Wenn nicht, breche ich ab.«

»Es scheint ihm gut zu gehen«, sagt Marina und beobachtet Levi, wie er an Ritas pinker Plastiksandale herumdoktert.

»Ich kann Levi den Schlüssel, den ich für mich gefunden habe, nur anbieten. Ob er das, was für mich ein Geschenk ist, annimmt, ist seine Entscheidung.«

»Warum Transsib?«, fragt Juri.

»Unterwegs mit dem eigenen Haus auf Rädern und Chauffeur. Mich treiben lassen können zusammen mit Levi, nicht selbst das Steuer in der Hand haben müssen. Und: durch Zufall«, antworte ich.

»Warum bist du nicht in Omsk ausgestiegen wie die anderen Touristen?«, lässt Olga mich fragen. ...

Erscheint lt. Verlag 29.8.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Welt / Arktis / Antarktis
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ISBN-10 3-492-60759-4 / 3492607594
ISBN-13 978-3-492-60759-9 / 9783492607599
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