Karte der Wildnis (eBook)

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2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3505-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Karte der Wildnis -  Robert Macfarlane
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Wo gibt es heute noch Wildnis? Robert Macfarlanes Suche nach den letzten unberührten Flecken Natur wird zum lebendigen Streifzug. Er entdeckt abgelegene Inseln und verborgene Gebirge, durchwandert unwegsame Moore und undurchdringliche Wälder. Er schwimmt in brandender See und in stehenden Gewässern, erklimmt windumtoste Gipfel, schläft in Sandkuhlen. Und er begibt sich auf die Spuren derjenigen, die diese Orte vor ihm aufsuchten: Pilger und Philosophen, Forscher und Literaten. Eine sprachmächtige Einladung zum Staunen.

Robert Macfarlane, 1976 in Nottinghamshire geboren, lehrt Literaturwissenschaft in Cambridge, ist Essayist und Kritiker und gilt als wichtigster britischer Autor des Nature Writing. Bei Ullstein sind bislang Karte der Wildnis und Alte Wege erschienen. Sein Buch Die verlorenen Wörter wurde mit dem BAMB Beautiful Book Award 2017 sowie als Hay Festival Book of the Year und als The Sunday Times Top Ten Bestseller ausgezeichnet.

Robert Macfarlane, 1976 in Nottinghamshire geboren, lehrt Literaturwissenschaft in Cambridge, ist Essayist und Kritiker und gilt als wichtigster britischer Autor des Nature Writing. Bei Ullstein sind bislang Karte der Wildnis und Alte Wege erschienen. Sein Buch Die verlorenen Wörter wurde mit dem BAMB Beautiful Book Award 2017 sowie als Hay Festival Book of the Year und als The Sunday Times Top Ten Bestseller ausgezeichnet.

1
Buchenhain


Wind zog auf, und ich beschloss, in den Wald zu gehen. Südlich der Stadt, eine Meile von meinem Haus entfernt liegt er: ein schmaler, namenloser Buchenhain, dichtgedrängt auf einem flachen Hügel. Zu Fuß folgte ich den Straßen, die aus der Stadt führten, und dann, zwischen Hecken aus Weißdorn und Haselnuss, den Wegen entlang der Feldkanten.

Über den Bäumen zankten sich Saatkrähen in der Luft. Der Himmel war von strahlend kaltem Blau, das an den Rändern milchig auslief. Schon aus fünfhundert Metern hörte ich die Bäume im Wind; wie leises Meerestosen. Ein gewaltiges Gemisch aus Rauschen und Reiben – Blatt an Blatt, Zweig an Zweig.

Ich betrat den Wald an seinem südlichen Zipfel. Abgebrochene Zweige und Bucheckern fielen aus den wogenden Wipfeln und prasselten auf den kupferroten Laubboden. In hellen Clustern fiel Sonnenlicht ein. Ich ging den Wald hügelauf, bis ich auf halber Höhe an seiner Nordkante an meinen Baum gelangte: eine große, grauborkige Buche, deren Äste so stehen, dass man leicht hinaufklettern kann.

Ich hatte diesen Baum schon oft bestiegen, alle seine Eigenheiten waren mir vertraut. Am unteren Stamm warf und buchtete sich die Rinde wie ein faltiger Elefantenfuß. In vielleicht dreieinhalb Metern Höhe bog sich ein Ast zu einem scharfen Haken; darüber hatte sich ein vor Jahren in den Stamm geritztes ›H‹ mit dem Wachstum des Baumes aufgeplustert; noch etwas höher prangte der verwachsene Stumpf eines abgebrochenen Asts.

In zehn Metern Höhe, nahe dem Wipfel, wo die weichere Rinde der Buche silbern schimmert, erreichte ich den ›Ausguck‹, wie ich ihn nannte: einen gegabelten Seitenast, der direkt unter einer krummen Stelle aus dem Stamm wächst. Ich hatte herausgefunden, dass ich dort, indem ich den Rücken gegen diese Krümmung lehnte und die Füße auf die Gabelenden stellte, einen bequemen Sitz hatte. Wenn ich ein paar Minuten reglos saß, kam es vor, dass die Leute unter mir vorbeigingen, ohne mich zu bemerken. Menschen denken im Allgemeinen nicht, dass Männer in Bäumen sitzen. Verharrte ich noch länger, kehrten die Vögel zurück. Vögel denken im Allgemeinen auch nicht, dass Männer in Bäumen sitzen. Amseln wühlten sich durchs Laub; Zaunkönige schwirrten so schnell von Zweig zu Zweig, dass es aussah, als würden sie dort hingebeamt; auch ein Rebhuhn wagte sich vorsichtig aus seinem Versteck.

Ich versuchte, auf meiner Warte die Balance zu finden. Denn noch bewegte sich der Baum unter meinem Gewicht und meinen Bewegungen, vom Wind weiter verstärkt, so dass der Wipfel der Buche in knarrenden Bögen von fünf bis zehn Grad hin und her schwankte. An diesem Tag glich mein Ausguck weniger einem Hochsitz im Wald als dem Lug auf einem Schiffsmast bei stürmischer See.

Aus dieser Höhe lag das Land unter mir ausgebreitet wie eine Karte. Ich sah noch andere versprenkelte Wäldchen, von denen ich einige mit Namen kannte: Mag’s Hill Wood, Nine Wells Wood, Wormwood. Im Westen lag hinter gerippten Feldern eine Hauptverkehrsstraße, über die die Autos brummten. Geradewegs im Norden stand das Krankenhaus, dessen dreischlotige Verbrennungsanlage meinen Hügelbaum weit überragte. Über dem Flugfeld am Stadtrand ging eine dickbauchige Hercules in den Sinkflug. Im Osten sah ich über einem Grünstreifen einen Turmfalken durch den scharfen Wind gleiten, mit zitternden Flügeln und seinen gleich einem Spielkartenblatt gespreizten Schwanzfedern.

Vor etwa drei Jahren hatte ich damit begonnen, auf Bäume zu klettern. Oder vielmehr erneut damit begonnen; denn an meiner Schule hatte es einen Wald zum Spielen gegeben. Wir waren auf die verschiedenen Bäume gestiegen, hatten ihnen Namen gegeben (›Skorpion‹, ›Große Eiche‹ wie bei Robin Hood, ›Pegasus‹) und sie nach ausgefeilten Regeln und mit unbedingter Treue umkämpft. Mein Vater hatte meinem Bruder und mir im Garten ein Baumhaus gebaut, das wir jahrelang gegen die Angriffe der Piraten verteidigten. Nun, mit Ende Zwanzig fing ich also wieder an, auf Bäume zu klettern. Einfach nur zum Spaß: ohne Seile, ohne Gefahr.

Durch das Klettern hatte ich allmählich gelernt, einzelne Baumarten zu unterscheiden. Ich mochte die schlanke Biegsamkeit der Silberbirke, der Erle und des jungen Kirschbaums. Kiefern hingegen – mit ihren brüchigen Zweigen, der schuppigen Rinde – mied ich, ebenso Platanen. Und ich fand heraus, dass die Rosskastanie mit ihrem astlosen Unterstamm, den stacheligen Früchten und der ungeheuerlichen Krone für den Baumkletterer sowohl Herausforderung als auch großer Anreiz war.

Ich durchforschte sämtliche Literatur über das Bäumeklettern: es gab nicht viel, aber sehr Aufregendes. John Muir hatte bei einem Orkan in Kalifornien eine dreißig Meter hohe Douglasfichte erklommen und von dort über einen Wald geblickt, »während die gesamte Masse ihres bebenden Laubwerks zu einer einzigen fortwährenden Lohe weißen Sonnenfeuers entzündet war«. Italo Calvino hatte sein zauberhaftes Buch vom Baron auf den Bäumen verfasst, dessen junger Held Cosimo in jugendlicher Verärgerung auf einen Baum des bewaldeten Anwesens seines Vaters klettert und sich schwört, nie wieder auf den Boden zurückzukehren. Er hält sein aufbegehrendes Gelöbnis, richtet sich unter dem Blätterdach auf Dauer ein, bewegt sich kilometerweit durch die Wipfel von Oliven, Kirschen, Ulmen und Steineichen, und am Ende heiratet er sogar in einer Baumkrone. Dann gab es die Jungen in B.B.s Im Schatten der Eule, die sich lieber im Wald versteckten, als in ihr englisches Internat zurückzugehen, und die zu guter Letzt eine Waldföhre bestiegen, um an das mit Buchenblättern ausgepolsterte Nest eines Wespenbussards zu gelangen. Und natürlich das berühmte Duo aus Pu der Bär und Christopher Robin: Pu, der mit seinem himmelblauen Ballon hinauf an den Wipfel der Eiche flog, um Honig aus dem Bienenstock zu stibitzen. Und Christopher Robin, der mit seinem Korkengewehr bereitstand, um Pus Ballon abzuschießen, sobald der Honig stibitzt war.

Ich entdeckte auch bewundernswerte zeitgenössische Vertreter ernsthaft betriebener Baumkletterei; vor allem jene Wissenschaftler, die in Oregon und Kalifornien die Mammutbäume erforschen: Sequoia sempervirens, die riesige Küsten-Sequoie, kann über einhundert Meter hoch werden. Der ausgewachsene Baum verdankt den Großteil seiner Höhe dem fast astlosen Stamm, auf dem die breite, vielschichtige Krone sitzt. Die Forscher haben außergewöhnliche Techniken entwickelt, um die Mammutbäume zu besteigen. Mit Pfeil und Bogen schießen sie eine Zugschnur über einen kräftigen Ast in der Krone. Dann ziehen sie an dieser Schnur ein Kletterseil in die Höhe und sichern es. In der Krone angelangt, können sie sich dank ihrer Behändigkeit sicher und fast frei bewegen, wie moderne SpiderMans. Dort oben in den Lüften entdeckten sie ein verlorenes Königreich, ein bemerkenswertes und bislang unerforschtes Ökosystem.

Meine Buche hatte derlei Besonderheiten nicht, sie war weder schwer zu erklimmen, noch hielt sie im Wipfel biologische Entdeckungen bereit – und Honig gab es dort schon gar nicht. Aber sie bot mir einen ausgezeichneten Ort, um nachzudenken. Einen Ruheplatz, einen Horst. Ich mochte meine Buche sehr, auch wenn sie – wie soll ich sagen – keine Vorstellung von mir hatte. Ich war schon oft auf sie hinaufgeklettert: im ersten Morgenlicht, in der Abenddämmerung, bei strahlendem Mondschein. Im Winter hatte ich das steinkalte Holz mit der Hand vom Schnee befreit und in den Ästen der benachbarten Bäume die schwarzen Krähennester gesehen. Im Frühsommer konnte ich von dort oben die schillernde Landschaft betrachten, wenn Hitzeschlieren die Luft durchzogen und man das verschlafene Tuckern eines Traktors vernahm. Und auch bei schwerem Regen hatte ich schon hier oben gesessen, wenn das Wasser in Schnüren vom Himmel fiel, die man mit bloßem Auge erkennen konnte. Auf den Baum zu klettern verschaffte mir einen Perspektivwechsel, so unbedeutend er auch scheinen mochte; ich schaute hinunter auf die Stadt, der ich sonst auf Augenhöhe begegnete. Höchste Befreiung. Vor allem aber konnte ich mich hier oben allen Ansprüchen der Stadt entziehen.

Jeder, der in der Stadt lebt, kennt das Gefühl, schon viel zu lange dort gewesen zu sein. Die Spuren, die die Häuserschluchten in uns ziehen, das Gefühl, etwas hält uns fest, der sehnsuchtsvolle Wunsch, anderes zu sehen als ständig Glas, Ziegel, Beton und Asphalt. Ich wohne in Cambridge, inmitten einer Region, die extrem dicht besiedelt ist und in der intensivste Landwirtschaft betrieben wird. Eine seltsam gewählte Heimat für einen Menschen, der die Berge und die Wildnis liebt. Cambridge ist aber vermutlich in Stunden und Minuten genauso weit entfernt von ›unberührter Wildnis‹ wie jeder andere Fleck in Europa. Mich drängt es in diese Ferne. Doch gute Gründe halten mich: meine Familie, meine Arbeit, meine Liebe zu dieser Stadt, die Art und Weise, wie der Stein ihrer alten Gemäuer das Licht in sich einsaugt. Ich habe, mit Unterbrechungen, nun zehn Jahre in Cambridge verbracht und glaube, dass es für die...

Erscheint lt. Verlag 27.6.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Welt / Arktis / Antarktis
Schlagworte Bäume • Buch 2017 • Natur • Neu 2017 • Neuerscheinung 2017 • Neuerscheinungen 2017 • Tiere • Wälder • Wandern • Wildnis
ISBN-10 3-8437-3505-0 / 3843735050
ISBN-13 978-3-8437-3505-6 / 9783843735056
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