Sieben Farben Blau (eBook)
256 Seiten
Delius Klasing Verlag
978-3-667-12778-5 (ISBN)
KAPITEL 1: NEUN TONNEN STAHL – WIR HABEN EIN SEGELBOOT!
Jonathan
Es ist Herbst in Deutschland, die Bäume verlieren ihre Blätter, die Tage werden kürzer, und heute Morgen wird mein Blick von einer dichten Nebelwand versperrt. Die Natur bereitet sich auf ihre alljährliche Auszeit vor. Auch im Yachthafen stehen die Zeichen auf Winterschlaf. Nur wenige Yachten liegen noch im Wasser, die meisten stehen gut verpackt unter einer Plane an Land. Doch für mich beginnt der Frühling, meine innere Uhr steht auf Neuanfang, auf den Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt. Es arbeitet in mir wie in der Zwiebel einer Frühjahrsblume, die die Eisdecke durchbrechen und sich entfalten möchte. Es ist der erste Tag, den ich allein auf unserem neuen Boot verbringe, das bald unser Zuhause sein wird.
Wie ein Schwamm sauge ich die Atmosphäre in mich auf. Die Leinen knarzen an ihren Festmachern. Die Bugwelle eines vorbeiziehenden Frachters hämmert gegen den Stahlrumpf. Der typisch moderige Geruch der norddeutschen Tiefebene mischt sich mit der frischen, salzigen Luft der Nordsee, während aus dem Bauch des Schiffes ein leichter Geruch von Diesel, in die Jahre gekommenen Bootsbauhölzern und muffigen Polstern strömt. Eine Möwe setzt sich zu mir aufs Deck und beäugt skeptisch eine Rostblase. Ungewohnt fühlt es sich auf diesem zehneinhalb Meter langen und knapp neun Tonnen schweren Rumpf aus Stahl an. So ganz anders als auf unserem ersten Boot. Werde ich dieses Ungetüm beherrschen? Ich mache mir ein Bier auf und hänge meinen Gedanken nach.
Hinter uns liegen drei turbulente Monate: Kaum war die Entscheidung gefallen, ein Boot zu kaufen, waren wir auf dem Weg zu unserer ersten Bootsbesichtigung. Dass dies auch direkt unsere letzte Bootsbesichtigung sein würde, wussten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht.
Misstrauisch beäugt uns der Noch-Besitzer Kai, als wir am aufgebockten Boot im holländischen Yachthafen ankommen. Wir merken schnell, freiwillig gibt er sein Boot nicht ab, die Gesundheit zwingt ihn dazu. Doch als wir ihm erzählen, was wir vorhaben, bricht sofort das Eis. Er hat die Welt zweimal auf einer Segelyacht umrundet und viele Winkel der Welt besegelt. Unweigerlich gerät die Bootsbesichtigung in den Hintergrund, und wir verlieren uns in Reise- und Segelgeschichten. Das Bier fließt in Strömen, sodass wir ungeplant unsere erste Nacht auf dem Boot verbringen. Die Koje fühlt sich ungewohnt an, sie ist dreieckig und die Decke über uns nur eine Armlänge entfernt. Eingekuschelt fallen wir in einen tiefen Schlaf. Nicht im Traum können wir uns zu diesem Zeitpunkt vorstellen, dass dieser kleine, verwinkelte Raum für fast sieben Jahre zu unserem Schlafzimmer werden wird.
Voller Träume sind jedoch unsere vom Bier noch schweren Köpfe, mit denen wir am nächsten Morgen die Heimreise antreten. Die Gespräche mit Kai haben uns ermutigt. All seine Geschichten über die wunderbaren Orte und Kulturen, von denen wir zuvor noch nicht einmal die Namen kannten. Auch wir haben schon viel von der Welt gesehen, aber einige Orte lassen sich nun mal nur über das Wasser erreichen. Genau da wollen wir hin.
Uns drängt es, loszufahren, doch so einfach ist das nicht. Wir haben die letzten Jahre ein bisschen Geld zurücklegen können, viel ist es jedoch nicht. Unsere Idee, um Geld zu sparen, ist, ein günstiges Schiff zu kaufen, dessen Grundsubstanz zwar stimmt, an dem aber noch einiges restauriert werden muss. Das wollen wir dann selbst machen. Die ANDROMEDA, wie das Boot zu diesem Zeitpunkt noch heißt, ist so ein Schiff. Es hat viel, was für die Reise notwendig ist, aber auch noch einige Baustellen. Das schreckt uns nicht ab, im Gegenteil. Wir wollen dem Ausbau eine persönliche Note geben, schließlich soll das Boot nicht nur segeln können, sondern unser Zuhause werden.
Und so wühlen wir uns durch alle Ecken und Winkel und suchen nach Rost und anderen Schwachstellen. Bei der Probefahrt ist es um uns geschehen, wir haben uns in die alte Dame verliebt. Sanft und schnittig pflügt sie sich durch das aufgewühlte IJsselmeer. »Das ist aber ein liebes Boot«, kommentiert Claudia mit einem breiten Grinsen. Ich bin zwar vom Besichtigungsstress etwas grün um die Nase, kann ihr aber nur zustimmen. Unter Tränen – der Besitzer möchte sich nicht von seinem Schatz trennen, und wir haben das Gefühl, ihm das Herz zu brechen – besiegeln wir den Kauf. Kai bietet an, das Boot mit mir nach Deutschland zu überführen, um mir in Ruhe alles zu zeigen. Dankbar schlage ich ein.
Unsanft setzt der Flieger Anfang Oktober in Düsseldorf auf, wo ich mich zur Weiterfahrt verabredet habe. Es stürmt, und die Bäume biegen sich im Wind. Keine guten Voraussetzungen, um mit einem unbekannten Boot über die berüchtigte Nordsee zu segeln. Mir ist mulmig, doch Kai weiß eine Alternative. Die vielen Kanäle und beweglichen Brücken der Niederlande machen es möglich, mit stehendem Bootsmast über Kanäle vom IJsselmeer bis an die Ems zu kommen. Die sogenannte »Staande Mastroute« bietet Schutz vor der offenen Nordsee und ist gleichzeitig atemberaubend schön. Begleitet von Plattbodenschiffen schippern wir an grünen Feldern vorbei und durchqueren die Zentren der niederländischen Dörfer und Kleinstädte. Die Stimmung an Bord ist durchwachsen, Kai leidet sichtlich darunter, sein Boot abzugeben. Erschwerend kommt hinzu, dass ich mich noch ziemlich blöd anstelle. So ein Dickschiff aus Stahl funktioniert ganz anders als alles, was ich zuvor gesegelt bin. Ich versinke in nächtliche Grübeleien. Werde ich diesen Kahn je beherrschen? Nach drei Tagen kommen wir in Emden an, und Kai geht von Bord. Hier haben wir es sogar noch geschafft, den Mast zu legen, denn bis nach Berlin müssen wir über die Kanäle Deutschlands mit ihren unbeweglichen Brücken.
Ich bleibe allein zurück mit meinen Gedanken. Die Herausforderungen, eine Yacht zu bedienen, sind höher als erwartet, und dann all die Technik. Ich merke, dass ich schon an meine Grenzen komme bei dem Versuch, einen Funkspruch mit dem Funkgerät abzusetzen. Geschweige denn einen Notruf. Sind wir zu naiv? Zweifel steigen in mir auf, ob es richtig ist, was wir uns vorgenommen haben.
Ich kann segeln. Sowohl mein Vater als auch mein Opa waren leidenschaftliche Segler. Als Kind begleitete ich sie manchmal auf die Nordsee, schon damals war die Zeit an Bord ein großes Abenteuer für mich. Als mein Vater starb, vermachte er mir sein zwar nur knapp sechs Meter langes, aber hochseetaugliches Segelboot. Ich war allerdings gerade 13, meine pubertären Hormondrähte glühten mit voller Leistung, und die langen Haare passten nicht in die damaligen Vereinsstrukturen. Ich beschloss, mein erstes Boot zu verkaufen und aus dem Verein auszutreten. Damit endete meine Segelkarriere vorerst – auch wenn ich das aus heutiger Perspektive bedauere. Daneben begleitete mich aber noch ein weiteres Vermächtnis meines Vaters. Er besaß eine gut ausgestattete Segelbibliothek, darunter viele Bücher der Weltumsegler aus den 60er- und 70er-Jahren. Die Geschichten von Wilfried Erdmann, Wolfgang Hausner und Bernard Moitessier begeisterten mich. Sie besegelten mit einfachen, teilweise selbst gebauten Booten die Weltmeere. Viele Jahre später bemerkte ich, dass ein Freund von mir diese Leidenschaft teilte. Viele Nächte verbrachten wir mit reichlich Single Malt Whisky und Seemannsgarn vor Seekarten und fuhren zumindest mit dem Finger an ferne Küsten. Er kaufte sich später eine alte Yacht, die wir quer durch Griechenland segelten. Angesteckt von dieser Erfahrung begann ich, mich mit Jollen und später unserer kleinen BERTA auf den Berliner Seen wieder an das Thema heranzutasten.
Meine Hochseeerfahrung ist jedoch bis auf einen einwöchigen Ausbildungstörn vor Gran Canaria gleich null. Sind wir zu leichtsinnig? Wollen wir den größten aller Ozeane, den Pazifik, besegeln? Davor muss noch der Atlantik überquert werden, und der Weg dahin ist auch kein Zuckerschlecken. In diesem Moment mache ich mir ernsthafte Gedanken, wie ich die nächsten Etappen Richtung Berlin meistern soll – und ich will Ozeane überqueren? Bringe ich uns beide in Gefahr?
Erste dunkle Wolken bedecken meine frühlingshafte Stimmung. Ich versuche, sie beiseitezuschieben, indem ich mir immer wieder im Stillen sage, dass mit der richtigen Planung, einer realistischen Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Respekt vor den Naturgewalten alles machbar ist. Genau das haben wir von anderen Weltumseglern erfahren. Viele sind mit einem ähnlichen Kenntnisstand gestartet und haben sich langsam und mit viel Learning by Doing auf den Weg Richtung Süden gemacht.
Der Messenger meines Telefons meldet sich und reißt mich aus meinen Grübeleien. Gedankenübertragung, denke ich mir, und starte den Videocall. Claudia ist dran: »Na, wie geht es dir so allein in unserem neuen Zuhause?«, raunt es mir sanft entgegen. Sie hat mich durchschaut. Ich hätte meine trüben Gedanken lieber für mich behalten, aber das ist mir bei Claudia nie gelungen. Meine Bedenken teilt sie nicht, und das, obwohl sie noch viel...
Erscheint lt. Verlag | 5.9.2023 |
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Verlagsort | Bielefeld |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte |
Schlagworte | Abenteuer Reisen • Außergewöhnliche Reisen • Aussteiger • Claudia Clawien • Die Welt entdecken • Erfahrungsbericht • Jonathan Buttmann • Reise Buch • Segelabenteuer • segelbuch • Segeln • Segelreise • Traum verwirklichen • Weltenbummler • Weltreise • weltreise erfahrungen • Weltumsegelung |
ISBN-10 | 3-667-12778-2 / 3667127782 |
ISBN-13 | 978-3-667-12778-5 / 9783667127785 |
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