Weltwundern - Vom Glück, die Orientierung zu verlieren (eBook)

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2023 | 1. Auflage
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01613-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Weltwundern - Vom Glück, die Orientierung zu verlieren -  Michaela von Bargen
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Ein inspirierendes Buch über eine Familie, die das Abenteuer suchte und einen neuen Lebensentwurf fand Im Sommer 2018 macht sich Michaela von Bargen mit ihrem Mann und ihren vier Kindern auf die Reise, der Plan: In anderthalb Jahren mit dem selbst ausgebauten Truck auf der Panamericana von Alaska nach Argentinien. Vier Jahre später sind sie noch immer unterwegs und von Reisenden längst zu im Ausland Lebenden geworden. Mehrfach musste die Familie eine Vollbremsung einlegen ? ein Motorschaden in San Francisco, eine Bandscheiben-OP in Costa Rica und schließlich eine Pandemie, die alle weiteren Reisepläne auf Eis legte. Doch eine Rückkehr nach Deutschland kommt für die sechs nicht infrage. Immer wieder richten sie ihren Kompass neu aus, die vielen Höhen und Tiefen zwingen Michaela und ihre Familie, sich zu hinterfragen: Wie wollen wir in Zukunft leben? Welche Lebensmodelle gibt es? Was bedeutet für uns Sicherheit? In jeder Etappe und jeder Pause steckt so auch eine Auseinandersetzung damit, was tatsächlich wichtig ist, worauf sie vertrauen und ob auch für sie in der Stille eine Chance besteht. 

Michaela von Bargen wurde 1977 in Hannover geboren. Sie hat Germanistik und Romanistik studiert, als Texterin gearbeitet und ist, seit sie Mutter wurde, Expertin für Neuanfänge. Zusammen mit ihrem Mann und den vier Kindern reist sie seit 2010 um die Welt, hat in Südafrika, Norddeutschland und Costa Rica gewohnt. Seit 2020 lebt die Familie in Quito/ Ecuador. Am liebsten ist sie draußen, gern mit den Händen in der Erde oder den Füßen in Bewegung, immer mit den Gedanken am nächsten fernen Ort. 

Michaela von Bargen wurde 1977 in Hannover geboren. Sie hat Germanistik und Romanistik studiert, als Texterin gearbeitet und ist, seit sie Mutter wurde, Expertin für Neuanfänge. Zusammen mit ihrem Mann und den vier Kindern reist sie seit 2010 um die Welt, hat in Südafrika, Norddeutschland und Costa Rica gewohnt. Seit 2020 lebt die Familie in Quito/ Ecuador. Am liebsten ist sie draußen, gern mit den Händen in der Erde oder den Füßen in Bewegung, immer mit den Gedanken am nächsten fernen Ort. 

Neue Welt


Kanada: Halifax, August 2018

Ich schrecke aus dem Tiefschlaf, bin in Sekunden hellwach. Irgendetwas stimmt nicht, aber ich erkenne nicht, was es ist. Alles scheint normal. Das Bett vibriert leicht unter dem Brummen der Motoren. Ich setzte mich auf, meine Augen tasten sich durch die Finsternis, suchen das Bullauge, finden den Weg hinaus aufs Meer. Aus der Dunkelheit blinkt es mir rot entgegen. Kurz vergesse ich zu atmen, dann fluten Endorphine meinen Körper: Es ist die Fahrwassermarkierung – Land in Sicht!

Wenige Minuten später stehe ich angezogen an Deck. Es ist 4 Uhr 30, auf dem Schiff ist es noch ruhig. Über mir funkeln die Sterne, vor mir und auf der Wasseroberfläche die Lichter von Halifax. Unendlich klein fühle ich mich zwischen all dem Gefunkel und gleichzeitig unbesiegbar: Wir haben die erste Etappe unserer Reise geschafft, wir haben Kanada erreicht.

Zwischen uns und der Heimat liegt der Atlantik. Ich nehme einen tiefen Atemzug, merke, wie das Gefühl von Freiheit den letzten Zipfel meiner Lungenflügel erreicht. Zum ersten Mal verstehe ich, warum es Lungenflügel heißt. Mit dem Atem durchdringt mich die Erkenntnis, wie sehr ich mich in den letzten Jahren an das Gefühl zu ersticken gewöhnt habe.

Die Zeit in Afrika hat mich mehr verändert, als ich erwartet hatte. Es fühlte sich an, als passe die Lücke, die ich hinterlassen hatte, nicht mehr und als müsste ich mich mit Gewalt wieder hineinzwängen. Ständig drückte und zwackte es an einer Stelle. Ich habe einige blaue Flecken davongetragen.

Zunächst dachte ich, das sei eine Übergangsphase und ich bräuchte Zeit, mich wieder auf die neue alte Umgebung einzustellen. Ich hatte schließlich schon so oft neu angefangen, warum sollte das nicht auch an einem vertrauten Platz gelingen? Alles Einstellungssache, dachte ich. Auch an einem Ort, an dem man vieles kennt, kann man, davon war ich damals überzeugt, das Gefühl von Abenteuer am Leben erhalten.

Timm und mir war der Abschied von Kapstadt nicht leichtgefallen. Wir hatten gerne dort gelebt. Für die Kinder aber, das war uns bei einem Sommerurlaub in Deutschland klar geworden, wurde Kapstadt zu einem goldenen Käfig. Es ist ein wundervoller Ort, solange Kinder klein sind. Wachsen aber die ersten zarten Flügel, ist Südafrika beengend.

Kinder, besonders die der weißen Oberschicht, stehen unter Dauerbeobachtung. Sie leben hinter Mauern, manchmal zusätzlich von einem Elektrozaun geschützt. Selbst in der norddeutschen Kleinstadt aufgewachsen, wünschten Timm und ich unserem Nachwuchs mehr Freiheit. Drei Monate nach dieser Erkenntnis saßen wir im Geländewagen auf dem Weg Richtung Deutschland.

Die erste Zeit in der Heimat dann war ich total berauscht von den physischen Freiheiten, die uns das Leben dort bot. Vieles, was in Südafrika nicht denkbar gewesen wäre, war plötzlich möglich. Die Kinder blühten auf, genossen ihren neuen Bewegungsradius, und von mir fiel eine Anspannung ab, von der mir nicht klar war, dass sie nicht Teil von mir ist. Aber es dauerte nicht lange, da verlor diese vordergründige Freiheit ihren Glanz. Die physische Freiheit hatte einen hässlichen Zwilling: mentale Enge. Ich fühlte mich gefangen in dörflichen Strukturen, mir fehlten Abenteuer und Input. Ich hatte Sehnsucht nach Menschen, die an mir rüttelten, mich aus gewohnten Gedankenschleifen holten, mich inspirierten, zwangen, über mich hinauszuwachsen. Obwohl unser Leben von außen betrachtet perfekt war, wir uns mit dem Landleben einen lang gehegten Traum erfüllten, blieb eine große Sehnsucht ungestillt.

Diesem Gefühl von Leere trat ich entgegen, indem ich immer wieder an mir rüttelte. Ich schrieb Listen, nahm mir vor, täglich eine Gewohnheit zu brechen, jede Woche ein Buch zu lesen, mich einmal im Monat einer Sache zu stellen, vor der ich Angst hatte. Das Lernen und Neues zu erleben, dachte ich, sei der Schlüssel zum Sich-lebendig-Fühlen. Unser Landleben-Projekt bot mir hierfür Tausende Möglichkeiten. Mit den Händen in der Erde, knöcheltief in Hühner- oder Schafsmist, schreibend, mit der Nase in Büchern und den Gedanken auf der nächsten Reise konnte ich mich kurzfristig ablenken.

Die innere Leere aber kam immer wieder zurück, und das schlechte Gewissen, sich trotz eines privilegierten Lebens gefangen zu fühlen, erdrückte mich. Warum konnte ich mich nicht an unserem schönen Haus am See, am friedlichen Kleinstadtleben erfreuen, an all der Ordnung, Struktur und Sicherheit, von der ich in Südafrika dachte, ich würde sie vermissen?

Ich sprach außer mit Timm mit kaum jemandem darüber. Wenn ich eines gelernt hatte, dann, dass das Bekunden von Unzufriedenheit über ein Leben, von dem viele träumten, mich noch mehr ins Abseits katapultieren würde. Immer wieder verhedderte ich mich in den Zuschreibungen und Rollen, die mein Umfeld für mich bereithielt. Mit kaum einer konnte und wollte ich mich identifizieren. Was aber genau ich wollte und wer ich war, wusste ich auch nicht. Umgeben von Menschen, von denen viele behaupteten, «angekommen» zu sein, fühlte ich mich dauerhaft fehl am Platz.

Ich beneide viele um ihre Zufriedenheit, um ihre Überzeugung, genau dort zu sein, wo sie sein wollten. Und im selben Moment misstraue ich dieser Ansicht. Entspringt sie möglicherweise mangelnder Vorstellungskraft? Habe ich aber das Recht, ihre Zufriedenheit zu hinterfragen? Ich empfand mich wie ein Sandkorn im Getriebe, das durch sein ewiges Geknarze den anderen die Freude am Bleiben verdarb. Mein ganzes Leben schon wünsche ich mir, endlich irgendwo Wurzeln zu schlagen, und doch reiße ich sie jedes Mal, wenn ihre zarten Ausläufer sich in der Erde verankern wollen, wieder aus und ziehe weiter. Es ist, als schlügen zwei Herzen in meiner Brust, die völlig unterschiedliche Bedürfnisse haben. Manche Freunde glauben, unsere Wanderlust sei ein Weglaufen vor uns selbst. Ich glaube, es ist ein Weglaufen vor dem Selbst, das einem aufgestempelt wird, sobald man länger an einem Ort bleibt.

Ich weiß, dass ich in spätestens achtzehn Monaten wieder einen Weg zurück in dieses Leben finden muss, und hoffe, dass ich ein Rezept entdecke, das mir Zufriedenheit in diesen Strukturen ermöglicht.

Jetzt aber, da zwischen uns und zu Hause endlich ein Meer liegt, kann ich aufatmen. Solange wir in Europa waren, schien es mir oft, als grabsche das alte Leben mit langen Armen nach uns. Von Liverpool aus war Timm sogar noch einmal nach Hause geflogen, weil die Arbeit es verlangte. Das wäre nun nicht mehr so leicht möglich. Zwischen uns und zu Hause liegt ein Ozean und vor uns die Freiheit: achtzehn Monate Zeit für eine Reise, die uns auf mindestens 26000 Kilometern durch alle Klimazonen der Welt, von Alaska bis an die Südspitze des amerikanischen Kontinents, nach Feuerland führen wird. Nun verwischt das Wasser unsere Spuren. Diese Erkenntnis haut mich fast aus den Flipflops.

 

Zehn Stunden später liege ich erschlagen von unserem ersten Tag in Halifax im Bett unseres gemieteten Hauses. Unser Campingtruck Roger ist noch nicht entladen, muss am nächsten Tag vom Zoll freigegeben werden. Das Bett quietscht bei jeder Bewegung, die Matratze hängt durch, sämtliche Federn des Kerns bohren sich mir wahlweise in den Rücken oder in die Seite. Es ist heiß, feuchte Luft wabert, von krächzenden Ventilatoren in Bewegung gesetzt, durchs Haus. Aus dem Küchenschrank riecht es nach inkontinenter Katze, aus den Badezimmerfugen wachsen Pilze. An keinem Ort der Welt wäre ich gerade lieber.

In nur wenigen Stunden hat Halifax mein Herz erobert. Wenn man nach sieben Tagen auf dem Meer endlich wieder Land erblickt, ist man automatisch verliebt. In den puren Anblick von greifbarem Horizont, in Grün, daran, wieder Boden unter den Füßen zu haben. Es ist aber nicht alleine die Erleichterung, wieder auf festem Boden zu stehen, die mich Kanada schon nach einem Tag lieben lässt.

Wir hatten keine Vorstellung von Halifax gehabt. Ohne einen kanadischen Dollar in der Tasche waren wir heute nach einem tränenreichen Abschied von der philippinischen Crew, die während der Überfahrt ihre gesamte aufgestaute Liebe und Sehnsucht nach ihren Familien über Max und Carl ausgeschüttet hatte, benommen von Bord gestolpert. Wir waren zu warm angezogen, hatten nicht daran gedacht, uns mit Sonnenschutz einzucremen, suchten die erste Stunde nach einem Geldautomaten, der unsere Kreditkarte akzeptierte. Die Zollbeamten hatten angeboten, uns das Gepäck nach Feierabend zu unserem gemieteten Airbnb zu bringen, zumindest mussten wir so nicht schwer schleppen.

Fünfzehn Kilometer waren wir vom Hafen zu unserem Haus gewandert, froh, nicht mehr im Kreis laufen zu müssen. Unterwegs legten wir einen Limonade-und-Burger-Stopp ein, und eine entzückende Kellnerin heilte den Kindern das gebrochene Herz über den Verlust der philippinischen Crew. Am Boardwalk entlang der Waterfront tanzten wir auf einem Volksfest. Überall Menschenschlangen: an den Hüpfburgen, den Verkaufsständen, an den Eisbuden. Und anders als sonst genossen wir das Gewusel. Niemand drängelte, alle lächelten. Der Hipster am Kiosk grinste durch seinen Vollbart, gratulierte uns zur «beautiful family». Glück perlte durch die kleinsten Adern, sammelte sich im Herzen und ließ es fast platzen. Ich konnte mich nicht sattsehen an den zuckergussbunten Holzhäusern, an den Veranden mit Schaukelstühlen, in denen Menschen saßen, die Bücher und Zeitung lasen, die uns, wenn sie aufblickten, zuwinkten. Meine Augen schlemmten sich durch die bunten Vorgärten, die schattigen, breiten Straßen, die Namen wie...

Erscheint lt. Verlag 13.6.2023
Zusatzinfo Mit Abbildungen
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte
Schlagworte Abenteuer • Argentinien • Aufbruch • Ausbrechen • Auszeit • Costa Rica • Ecuador • Expat • Fernweh • Freiheit • Gastfreundschaft • Mexico • Mittelamerika • Panamericana • Partnerschaft • Reisebericht • Reiseliteratur • Reiselust • Reisen • Selbstfindung • Sinnsuche • Südamerika • Verreisen mit der Familie • Weltreise • Weltreise mit Kindern
ISBN-10 3-644-01613-5 / 3644016135
ISBN-13 978-3-644-01613-2 / 9783644016132
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