Unter den Wolken (eBook)

Meine Deutschlandreise auf die höchsten Berge aller 16 Bundesländer
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
416 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-28478-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unter den Wolken -  Achim Bogdahn
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»Nach diesem Buch weiß man mehr über Deutschland, über sich und man will einfach nur eines: Los!« Thees Uhlmann
Bayern hat die Zugspitze, Hessen die Wasserkuppe, aber hat Hamburg einen höchsten Berg? Ja, den Hasselbrack in den Harburger Bergen, 116,2 Meter hoch. Und wie hoch ist der höchste Gipfel Bremens? 32,5 Meter - die Erhebung im Friedehorstpark. Achim Bogdahn hat sich auf eine Reise durch Deutschland gemacht und die höchsten Berge aller 16 Bundesländer erklommen. Damit er nicht alleine wandert, hat er bekannte Menschen aus den jeweiligen Regionen eingeladen, ihn zu begleiten. Aus diesen Wanderungen ist ein Buch entstanden, ein Buch über Deutschland, über Begegnungen und Gespräche, über Menschen und über das Leben - mit vielen Umwegen, Anekdoten und Exkursen.

- Benno 'Brocken-Benno' Schmidt (Sachsen-Anhalt)
- Manuel Andrack (Saarland)
- Henning Scherf (Bremen)
- Edgar Reitz (Rheinland-Pfalz)
- Dennis Gastmann (Hamburg)
- Rocko Schamoni (Schleswig-Holstein)
- Kathi Wilhelm (Thüringen)
- Hahner-Twins (Hessen)
- Margot Käßmann (Niedersachsen)
- Anke Domscheit-Berg (Brandenburg)
- Hans-Joachim Watzke (NRW)
- Judith Holofernes (Berlin)
- Mehmet Scholl (Baden-Württemberg)
- Lars Riedel & Jens Weißflog (Sachsen)
- Devid Striesow (Mecklenburg-Vorpommern)
- Felix Neureuther (Bayern)

Achim Bogdahn wurde 1965 in Erlangen geboren, wuchs in München auf und arbeitet als Radiomoderator beim Bayerischen Rundfunk/Bayern 2. Er hat in München, Berlin und Glasgow Evangelische Theologie studiert, er war Sänger der Band Isar 12 (erschienen bei Trikont) und er ist glühender Fan des TSV 1860 München (weswegen in seinem Pass hochoffiziell der Künstlername 'Sechzig' steht). Er hat als Schauspieler gearbeitet ('Trautmann'), er ist geprüfter Fußballschiedsrichter, er spricht ein bisschen Dänisch und er liebt es, mit dem Zug zu fahren. »Unter den Wolken« ist sein Debüt.

1

Der Brocken/Sachsen-Anhalt (1141,2 Meter)

Mit Benno Schmidt (»Brocken-Benno«)

21. November 2018

Fargo in Ostdeutschland mit dem Duracell-Rentner

Nicht: Ein Männlein steht im Walde. Sondern: Ein Männlein geht im Walde.

Wobei, das Männlein ging nicht. Es rannte. Ach was, es raste.

Ich sah zwischen verschneiten Fichtenstämmen in der Ferne einen olivgrünen Schatten, der durch den Wald den Berg hinaufflog. Ich versuchte, ihm mit aller Kraft zu folgen, schaffte es aber nicht, der Waldboden war vereist, ich rutschte weg, und immer wieder fegte der Sturm Schnee von den Bäumen und blies ihn mir in den Nacken. Bei jedem Schritt musste ich meine Füße erst aus dem Tiefschnee ziehen. Im Rest Deutschlands war Herbst. Lag kein Schnee. Schien die Sonne. Ich war in einer grellweiß verschneiten Zweitwelt. Es sah in diesem Wald genauso aus wie in Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, in der Szene, als das schöne tschechische Aschenbrödel den Prinzen und seine beiden dämlichen Kumpel mit den Glamrock-Frisuren zum Narren hält, anschließend die Tannenzapfen aus etwa drei Kilometer Entfernung mit der Armbrust von der Baumspitze schießt und dann durch meterhohen Schnee davonläuft bzw. -reitet. Dies hier hätte der Aschenbrödel-Drehort im Böhmerwald oder im Riesengebirge in der damaligen ČSSR sein können, es war aber der Harz.

Der Olivgrüne war Benno Schmidt, unfassbare sechsundachtzig Jahre alt. In Sachsen-Anhalt ist er weltberühmt – alle kennen ihn nur als »Brocken-Benno«. Seinetwegen war ich überhaupt hier.

Aber immer der Reihe nach.

Ich hatte Angst. Ich fuhr in den Osten. Ich musste in Halle umsteigen. Und das eine Woche nachdem etwa tausendfünfhundert Hooligans vom Halleschen FC mein geliebtes Grünwalder Stadion in München nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen hatten. Schon bei der Ankunft am Bahnhof waren die Hallenser aus dem Zug gestürmt und hatten ein paar Polizisten das Nasenbein gebrochen. Auf unserem Weg zum Stadion tauchte ein einsamer Zwei-Meter-Typ aus Halle auf, der aussah wie der verschollene dritte Klitschko-Bruder, er ging direkt vor meinem Freund Tom und dessen kleiner Tochter her und nietete kommentar- und ansatzlos drei Sechzger-Fans mit der Faust um. (Die Geschichte erinnerte mich an den legendären italienischen Siebzigerjahre-Film Gewalt rast durch die Stadt.) Im REWE-Supermarkt randalierte er weiter, wollte im Kassenbereich auch noch Tom eine aufs Maul bzw. auf die Schnauze hauen bzw. ihm so richtig die Fresse polieren. Als er aber das sechsjährige Mädchen an Toms Hand sah, erwachten plötzlich ungeahnte menschliche Instinkte in diesem Bud Spencer aus Mitteldeutschland, und er ließ die Fäuste sinken.

Während des Fußballspiels im Stadion gab es dann jede Menge Münz- und Becherwürfe aus der Auswärtskurve, Prügeleien mit der Polizei, dreitausend Mittelfinger Richtung Löwenfans, in der U-Bahn wurden Feuerlöscher geleert, alles war voller Pulver. Im Grunde genommen war es so wie bei Asterix, wenn die Bewohner des kleinen Dorfes über die Römerlager Kleinbonum oder Babaorum hinwegfegen. Es fehlte nur der Wildschweinbraten am Schluss. Und der Humor.

Nun war ich also auf dem Weg nach Halle, quasi ins Feindesland. In München schien die Sonne (in München scheint immer die Sonne), und keine einzige Wolke trübte das Bild. In Bamberg begann sich der Himmel zu verfinstern. Coburg war schon mittelgrau, Erfurt dunkelgrau. In Halle ging die Sonne unter. Willkommen bei den Sch’tis. Ich saß nervös im Bahnhofscafé von Halle, hielt meine Wertsachen fest und wartete auf meinen Anschlusszug. Im Bahnhofsgebäude war es eiskalt, und ich hatte noch eine Stunde Zeit, also trank ich meinen Kaffee in einem To-go-Café mit Heizstrahlern an der Decke, einer Art Glaskubus, in dem man sich fühlte wie ein Grillhähnchen – oder meinetwegen Broiler – in der Vitrine eines Foodtrucks. Außer mir befanden sich noch ein paar andere durchgefrorene Reisende im Glaswürfel. Ein langhaariger Doktorand, der in sein Handy plärrte: »Ich habe heute meinen Doktoranden-Vertrag unterschrieben«, und der auf dem Weg in den Harz war (»Ich bin auf dem Weg in den Harz!«). Ein einsamer Vietnamese mit ganz vielen Koffern, die alle mehrfach mit bläulicher Zellophan-Folie umwickelt waren. Und eine Dreadlock-Afroamerikanerin, die die ganze Zeit mit ihrem Zeigefinger an ihren Haaren drehte.

Diese kleine Solidargemeinschaft wärmte sich in dem Glühkasten auf, und wir alle hatten ein bisschen Angst vor der kalten Welt da draußen; keiner von uns war gekommen, um in Halle zu bleiben. Halle ist übrigens die deutsche Stadt, in der mit Abstand die meisten Fahrräder geklaut werden, diese Statistik hatte ich vor ein paar Tagen in der Zeitung gelesen, und sie fiel mir gerade wieder ein. Andererseits habe ich mal einen Archäologie-Professor aus Bayern kennengelernt, der schon seit vielen Jahren in Halle lebte und mir vorschwärmte, es sei »echt prima hier«, »alles super«, es gebe »keine bessere Stadt in ganz Deutschland«. Trotzdem schrieb ich in diesem Café an diesem frühen Abend im November mein Testament. Für alle Fälle.

Währenddessen bemühte sich hinter dem Tresen eine junge Hallenserin mit Brille, an der Kaffeemaschine ein bisschen Struktur in den Milchschaum zu bekommen. Heißer Dampf zischte aus dem Edelstahltöpfchen, und der Schaumzapfhahn jaulte wie ein sterbender Fischreiher. Die Milch war zu heiß, Barista-Weltmeisterin würde die junge Frau nicht mehr werden. Während andere Blumen, Hufeisen, Herzchen in den Schaum zaubern, zauberte sie nur Schaum, der beim bloßen Hinschauen zerplatzte. Dennoch freuten wir uns, dass etwas passierte in diesem grauen Bahnhofsgebäude.

Ich musste von Halle aus noch tiefer in die Ex-DDR, nach Wernigerode im Harz. Der Regionalzug nannte sich HEX, und ich dachte spontan an die Brocken-Hexe, von der ich gelesen hatte. War sie die Namenspatronin? Es war viel profaner. HEX steht für Harz-Elbe-Express, wobei Halle an der Saale liegt. Egal. Dieser HEX würgte sich durch Sachsen-Anhalt, durch Orte, von denen ich noch nie in meinem Leben gehört hatte, die aber ganz viel Leben in sich trugen: Belleben, Sandersleben, Freckleben, Aschersleben, Gatersleben, Hedersleben, Wegeleben. Und leben lassen, hoffentlich.

Der Zug raste und rüttelte, und die Lok pfiff die ganze Zeit sehr verdächtig. Warum nur? Ausschließlich unbeschrankte Bahnübergänge? Schneetreiben? Schlechte Sicht? Überhöhte Geschwindigkeit? Falsch gestellte Weichen? Menschliches Versagen? Ineinander verkeilte Waggons? Erste Meldung in der Tagesschau: Grotesk verformte Körperteile, schreiende Menschen, vollkommen überforderte Rettungskräfte, eine schwer zu erreichende Unglücksstelle in den Wäldern des Vorharz, Kriseninterventionsteams, Katastrophenblogger und mittendrin mein olivgrünes Notizbuch mit dem Testament, das vom Löschwasser unleserlich geworden war.

Aber auch ohne Zugunglück war dieser HEX ein Irrsinn. Ein Besoffener wollte eine Fahrkarte von »Halle nach Ralle« nachlösen, eine Oma mir schräg gegenüber hatte eine ungültige Karte vom Vortag dabei, murmelte immer wieder »Dat is’n Ding«, als ihr die Schaffnerin sagte »Die is nich gültich«. Ein bronchial hustender Familienvater am Ende des Gangs – zum Glück noch VOR Corona –, überall volle Plastiktüten vom Einkauf in der Großstadt, der Doktorand auf dem Weg in den Harz, ein Afrikaner mit Klampfe, eine Blondierte mit blauem Auge und immer wieder die Oma, die »Dat is’n Ding« sagte, während sie eine Packung Schogetten verspeiste. Ein letztes Mal setzte sie zu einer Verteidigungsrede an: »Wir waren ’ne Gruppe. Und alle hatten Fünferkarten aus dem Automaten. Nur ich nich, ich hatte ’ne Einzelkarte. Dat is doch gemein.« Die Zugbegleiterin kannte keine Gnade, sechzehn Euro für die Fahrkarte nach Wernigerode.

In den sozialen Netzwerken hatte ich eine Woche zuvor herumgefragt, wer einen allein reisenden Mittelgebirgs-Bergsteiger kostenlos in Wernigerode beherbergen würde. Und hatte damit eine überraschende Solidaritätswelle ausgelöst. Mehrere mir völlig unbekannte Menschen boten mir ein Nachtlager an. Ich entschied mich zunächst für eine Familie mit schottischem Nachnamen, erhoffte mir Weltoffenheit und interessante Lebensgeschichten, die von Glasgow nach Wernigerode führten. Beim Hin-und-her-Mailen stellte sich jedoch heraus, dass die Gastgeberin lediglich »mal als Au-pair in den USA« gewesen war und sich »von dort den Namen der Gasteltern mitgebracht« hatte. Aha.

Es gab noch ein paar andere Übernachtungsangebote. Eine Studentin namens Sophia, die in Jena studierte und dann doch absagte, weil sie in Jena und nicht in Wernigerode war an diesem Tag. Henriette, der mein Besuch aber nur am Wochenende recht war. Eine Anne bot mir ein christliches Hotel an, musste das aber erst mal mit den Christen klären, und das würde dauern. Und so landete ich schließlich bei KathiPe Nummer soundsoviel, so ihr Username. Kathi, einer dieser Kultnamen im Osten, so wie Maik, Ronny, Silvio, Mario, oder Annett, Kathleen und Mandy. Auch wenn sonst vieles verboten oder unerwünscht war in der DDR, FKK und Namenswahl gehörten zu den kleinen Freiheiten. Kathi benutzte in unserem Chatverlauf vor allem Emojis jeglicher Art. Breit lächelnder Smiley, kotzender Smiley, Smiley mit Zornwolke, Daumen hoch, Kann-nicht-vor-Lachen-Smiley-mit-Tränen-im-Auge, Herzchen. Sie schrieb mir, sie habe eine Katze (Katzen-Emoji), und...

Erscheint lt. Verlag 31.8.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Deutschland
Reisen Reiseführer Europa
Schlagworte 2022 • Anke Domscheit-Berg • Berggipfel • Berlin • Brocken-Benno • Bundesländer • CouchSurfing • Dennis Gastmann • Deutsche Bahn • Deutschlandreise • Devid Striesow • eBooks • Edgar Reitz • Entschleunigung • Felix Neureuther • Gespräche • Hahner-Twins • Hans-Joachim Watzke • Heimat • Henning Scherf • ich bin dann mal weg • Jens Weißflog • Judith Holofernes • Kati Wilhelm • Lars Riedel • Manuel Andrack • Marco Maurer • Margot Käßmann • Mehmet Scholl • Neuerscheinung • Nordic Walking • Nostalgie • Outdoor • Reise / Abenteuer • Reisen • Rocko Schamoni • Sport • Urlaub in Deutschland • Wandern • Zugreisen
ISBN-10 3-641-28478-3 / 3641284783
ISBN-13 978-3-641-28478-7 / 9783641284787
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