Couchsurfing in Saudi-Arabien (eBook)
256 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99859-8 (ISBN)
Stephan Orth, Jahrgang 1979, studierte Anglistik, Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Journalismus. Von 2008 bis 2016 arbeitete er als Redakteur im Reiseressort von SPIEGEL ONLINE, bevor er sich als Autor selbstständig machte. Für seine Reportagen wurde Orth mehrfach mit dem Columbus-Preis ausgezeichnet. Er ist Autor des Nr.1-Bestsellers »Sorry, wir haben die Landebahn verfehlt«. Bei Malik erschienen seine Bücher »Opas Eisberg«, die SPIEGEL-Bestseller »Couchsurfing im Iran«, »Couchsurfing in Russland« (ausgezeichnet mit dem ITB BuchAward), »Couchsurfing in China«, »Couchsurfing in Saudi-Arabien« und zuletzt sein England-Reisebericht »Absolutely ausgesperrt«. Er lebt in Kyjiw und Hamburg.
Stephan Orth, Jahrgang 1979, studierte Anglistik, Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Journalismus. Von 2008 bis 2016 arbeitete er als Redakteur im Reiseressort von SPIEGEL ONLINE, bevor er sich als Autor selbstständig machte. Für seine Reportagen wurde Orth mehrfach mit dem Columbus-Preis ausgezeichnet. Er ist Autor des Nr.1-Bestsellers "Sorry, wir haben die Landebahn verfehlt". Bei Malik erschienen seine Bücher "Opas Eisberg" sowie die SPIEGEL-Bestseller "Couchsurfing im Iran", "Couchsurfing in Russland" (ausgezeichnet mit dem ITB BuchAward) und "Couchsurfing in China".
Masken
Bevor Aziz die Fahrertür öffnet, zieht er sich eine Maske über Nase und Bart. Sie ähnelt einer dieser Schutzmasken für Chirurgen, ist aber aus schwarzem Kunststoff. »Ich will nicht erkannt werden auf Fotos oder Videos. Da wird JEDER filmen. Und meine Eltern wissen nicht, dass ich hier bin«, sagt er, die Worte klingen dumpf hinter dem Stoff vor seinem Mund.
»Machen wir denn etwas Verbotenes?«, frage ich.
»Eigentlich nicht. Aber es gibt nicht nur staatliche Gesetze – es gibt auch Familiengesetze.«
Er setzt eine sibirisch anmutende Fellmütze mit Ohrenschützern auf, Dezemberabende sind überraschend kühl hier. Dann steigen wir aus seinem Auto. Der Parkplatz sieht aus wie die Ausstellungsfläche eines SUV-Gebrauchtwagenhändlers, ein kilometerlanger Zaun sperrt das Veranstaltungsgelände ab.
Der nächstgelegene Eingang ist mit »Platinum tickets only« markiert. Wir haben keine Platintickets, die kosteten 4000 Riyal, knapp tausend Euro, aber wir stellen uns trotzdem an. Hundert Meter weiter ist die Schlange für Normalticket-Besitzer zehnmal so lang. »Wird schon klappen«, verspricht Aziz, die Falten neben seinen Augen deuten an, dass er dabei unter seiner Maske lächelt. In Serpentinen zwischen Absperrketten arbeiten wir uns zur Sicherheitskontrolle vor. Vor allem Männer warten hier, aber eine Gruppe von vier Frauen wird vorgelassen, sie dürfen zuerst rein.
Dann sind wir dran. Der Securitymann blickt wenig begeistert auf die Handytickets, die Aziz ihm hinhält. Sie diskutieren auf Arabisch, hinter uns werden die Leute ungeduldig. Aziz deutet auf das Ticket, dann auf mich. Der Wachmann berät sich mit einem Kollegen. Dann winkt er uns tatsächlich durch. Metalldetektorschleuse, Taschenkontrolle, abtasten, geschafft.
»Ich habe ihm gesagt, ich habe einen ausländischen Gast, und ich würde mein Gesicht verlieren, wenn er nicht reinkäme. Wir müssen doch jetzt gastfreundlich sein«, erklärt Aziz.
Ich fühle mich ein bisschen instrumentalisiert, aber wenn es um die Party des Jahrhunderts geht, ist jedes Mittel recht, um nicht am Türsteher zu scheitern.
Wir passieren einen Torbogen aus gleißend lilafarbenem Licht und blicken auf das Zeitportal. So hat der Festival-Kreativdirektor John Rash den 27 Meter hohen karoförmigen LCD-Bildschirm auf der Bühne getauft, direkt über den DJ-Pulten. »Das Portal nimmt dich mit aus der Vergangenheit in die Zukunft«, so beschrieb er das Konzept in einem Interview. Und das ist die Idee der ganzen Veranstaltung, die in rekordverdächtigem Eiltempo organisiert wurde. Zwei Monate dauerte der Aufbau, erst vor einem Monat wurde das Festival offiziell angekündigt.
»MDL Beast« (sprich: »Middle Beast«) heißt das größte Musikevent in der Geschichte des Landes. Kurz vorher haben sie extra noch einmal die Preise heruntergesetzt. Für umgerechnet fünfzehn Euro waren Tagestickets zu haben, kein schlechter Preis, um einige der berühmtesten DJs der Welt zu sehen. David Guetta, Tiësto, Steve Aoki, Martin Garrix.
Wir folgen einem immer dichter werdenden Menschenstrom in Richtung Hauptbühne. Männer in Jeans, Lederjacke und Baseballkappe, aber auch viele im traditionellen Thaub-Gewand mit rot-weißem Ghutra-Kopftuch.
Aziz ist nicht der einzige Besucher ohne Gesicht. Ich sehe Menschen in Clownsmasken, in Alienmasken, in Monstermasken mit fluoreszierenden Kreuzen als Augen. Sonnenbrillen, über denen in Neonlicht das Wort »Cool« leuchtet. Gasmasken in Weltkriegsoptik, OP-Masken, Bandanas über Mund und Nase.
Und natürlich Niqabs. Die klassischen schwarzen Gesichtsschleier der Frauen lassen nur Augen und Wimpern frei und sind mit Bändern hinten am schwarzen Kopfteil der Abaya befestigt. »Ninjas« nennen sie hier die traditionell gekleideten Damen, weniger wohlwollende Betrachter vergleichen sie mit Fledermäusen oder Gespenstern. Was für eine Ironie, dass ausgerechnet in diesem Woodstock-Moment, in dieser Nacht ungewohnter Freiheit, so viele Männer ihr Gesicht verbergen, sich also dem anpassen, was für Frauen in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten Alltag ist.
Einige Frauen allerdings tragen auch Jeans, Kapuzenpulli und offene Haare. Das ist nun erlaubt, wenn auch nicht besonders verbreitet. Erst vor ein paar Monaten wurde die Abaya-Pflicht abgeschafft. »Willkommen in Saudi-Arabien«, sagt eine Besucherin im Vorbeigehen zu mir und streift mit der Hand meine Schulter.
Vom Himmel segelt eine weiße Zauberfee herab, eine ausländische blonde Akrobatin auf einem Trapez, das an einem Heißluftballon befestigt ist. Im hautengen Latexoutfit dreht sie Pirouetten, lässt sich immer wieder so weit herab, dass sie noch etwa drei Meter über den Köpfen der Menschenmenge verharrt, bevor sie erneut emporschnellt. »Haltet sie fest, bevor sie wegfliegt«, ruft ein übermütiger junger Typ, während er mit seiner Handykamera filmt.
Je näher wir der Hauptbühne mit ihrem Zeitportal kommen, desto lauter wird die Musik, desto stärker drücken die Bässe auf den Solarplexus. Vor Kurzem war Musik in der Öffentlichkeit noch verboten, galt als unislamisch. Musik, die göttlichste Kunst von allen, da muss man erstmal draufkommen. 25 Jahre lang gab es in Riad kein einziges Livekonzert. Und jetzt feiern hier mehr als 100000 Menschen.
Das neue Saudi-Arabien will Spaß, Unterhaltung, Action. Und zwar nicht in kleinen, gemächlichen Schritten, sondern im Stil eines Snarewirbels aus dem Drumcomputer, der taktweise sein Tempo verdoppelt. Viertel, Achtel, Sechzehntel, Filter auf, winzige Pause und BROMPF. Manche DJs brüllen dazu ein »one two three four« ins Mikro, damit wirklich jeder mitkriegt, dass es jetzt abgeht. Und einige bauen noch eine Verdopplung mehr ein, am Ende spielt die Snare Zweiunddreißigstel, dann sind keine einzelnen Anschläge mehr zu hören, nur ein einzelner Ton, ein Klangbrei, überlautes Rauschen. Wer zu schnell beschleunigt, fährt das Ding vor die Wand. Auch in Saudi-Arabien folgt nach einem zu forschen Schritt vorwärts häufig ein großer Schritt zurück.
»I don’t need no sleep ’cause I’m already dreaming«, singt eine Stimme vom Band, gesteuert von dem Niederländer Martin Garrix, einem winzigen Männlein am DJ-Pult der gigantischen Bühne. Einem winzigen Männlein mit ungefähr so vielen YouTube-Views, wie Menschen auf der Erde leben. Auf dem Bildschirmkaro ist ab und zu sein wippender Kopf zu sehen, zwischen rhythmischen Animationsfilmschnipseln und hektischen Laser-Lichtstrahlen. Auch mir kommt das gerade wie ein unwirklicher Traum vor. Bin ich vielleicht in Wahrheit irgendwo auf dem Land in Brandenburg oder Belgien, und der neueste Electro-Modetrend sind golf-arabisch inspirierte Outfits?
Schulter an Schulter wendet sich das Publikum in Richtung des DJs, als wäre er der Imam in einer Moschee. Viele imitieren sein Wippen mit Kopf und Oberkörper, oder sie gucken von den Vorderleuten ab, Tanzbewegungen verbreiten sich in der Menschenmasse. Für viele ist es das erste Electro-Festival in ihrem Leben. Die Leute filmen wie verrückt.
Die hundertfache Vervielfältigung des Bühnengeschehens auf den Handys, die hundertfache Vervielfältigung der Tanzmoves in der Masse, deren Arme und Hinterköpfe dann wiederum hundertfach digital zu sehen sein werden. Das MDL Beast geht viral, in WhatsApp-Gruppen und Twitter-Posts, auf Snapchat und Instagram.
Ein paar Influencer wurden extra aus dem Ausland eingeladen, für angeblich sechsstellige Dollarbeträge, um diesen Woodstock-Moment in der Welt zu verbreiten. Doch auch einheimische Partybesucher leisten ihren Teil. Auf YouTube kursieren Videos, in denen fröhliche junge Männer ihrer Regierung danken, dass sie nun so viel Spaß haben dürfen. Wie viele Deutsche bedanken sich bei Angela Merkel nach einem Besuch von Rock am Ring oder der Fusion? Monarchien ticken halt ein bisschen anders.
Als weiterer Beleg für eine gewisse Unkenntnis der Szene-Konventionen zieht direkt vor uns eine Polonaise vorbei. Nur Männer, mehr als neunzig Prozent der Festivalbesucher sind Männer. Die meisten Frauen sitzen auf einer Tribüne am Nordrand des Geländes. Die Macht der Gewohnheit. Großveranstaltungen ohne Geschlechtertrennung, nein, Großveranstaltungen, bei denen überhaupt Frauen dabei sein dürfen, sind noch neu.
Zwei Vollverschleierte tanzen wie schwarze Derwische direkt unter der Tribüne, mit Breakdance-inspirierter Lässigkeit und perfekt einstudierten Bewegungen. Links und rechts von ihnen stehen je zwei Männer und mustern argwöhnisch die Umgebung.
Gerne würde ich berichten, dass die Leute sich komplett gehen lassen und sich Bahn bricht, was jahrzehntelang unterdrückt wurde. Dass vor der Beast-Bühne hier und jetzt eine neue Gesellschaft geboren wird: Three days of Peace & Music, Liberté Egalité Fraternité, wir sind das Volk und weg mit dem Muff von tausend Jahren, ein Arabischer Frühling im Dezember.
Aber dafür fühlt sich das Ganze zu diszipliniert an, eher vorsichtiges Tasten als Ausrasten. Hier wird nicht gegen das Königshaus demonstriert, sondern dank der königlichen Gnade gefeiert, im ständigen Bewusstsein, dass es rote Linien gibt, die man keinesfalls überschreiten sollte. Doch wo genau die sich gerade befinden, weiß keiner so genau.
Ordner in gelben Signalwesten beobachten aufmerksam das Treiben auf dem Gelände. Wer zu nah an Absperrgeländern entlangläuft und den Fluchtweg versperrt, wird ermahnt. Keiner dreht durch, auch wenn ich vereinzelt in glasige Augen blicke, wie sie nur verbotene Substanzen hervorrufen können. Vier-, fünfmal rieche ich Alkoholfahnen oder süßlichen Haschischdunst. Doch da ist noch etwas anderes in...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2021 |
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Zusatzinfo | Mit 32 Seiten Farbbildteil und einer Karte |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Naher Osten |
Schlagworte | Abenteuer und Reise • Allein auf Reisen • allein reisen • Araber • Arabisch • arabische Gesellschaft • Arabische Halbinsel • Arabische Kultur • Arabische Welt • Begegnungen • Begegnungen mit Kulturen • Begegnung mit fremden Kulturen • Bildteil • Buch • Bücher • Buch mit Bildteil • buch mit fotos • Buch mit Karte • Couch surfen • Couchsurfer • CouchSurfing • Couchsurfing in • Erster • Farbiger Bildteil • Fotos • Gefährliche Reise • Geschenk • Geschenkbuch • Islam • islamischer Glaube • Karte • Landkarte • Medina • Meer • Mekka • Moschee • Naher Osten • Neuland • per Anhalter • Reise • Reisebekanntschaft • Reisebeobachtungen • Reisebericht • Reisebericht Saudi-Arabien • Reisebuch • Reisebuch Naher Osten • Reisebuch Saudi-Arabien • Reise durch Saudi-Arabien • Reiseerfahrung • Reiseerzählung • Reisen • reisen im Nahen Osten • reisen in gefährliche Regionen • Riad • Saudi Arabien • Saudi-Arabien • saudi arabisch • Soloreisen • Stephan Orth • Wüste |
ISBN-10 | 3-492-99859-3 / 3492998593 |
ISBN-13 | 978-3-492-99859-8 / 9783492998598 |
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