Von hier bis ans Meer (eBook)

Wie ich in Südfrankreich das Glück suchte und mich selbst fand
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32074-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Von hier bis ans Meer -  Christine Cazon
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Christine Cazon, Erfinderin des Kommissars Léon Duval, erzählt in diesem sehr persönlichen Buch, wie und warum sie nach Frankreich kam und wie aus der Praktikantin auf einem Bio-Bauernhof eine Schriftstellerin wurde.  Nach etlichen privaten und beruflichen Rückschlägen - Trennung und Krankheit - beschließt die Deutsche Christine Cazon eines Tages, ihr Leben umzukrempeln und nach Frankreich zu gehen. Doch die neue Heimat gibt sich spröde. Viel Arbeit, wenig Geld, kaum Anerkennung. Dazu Sprachschwierigkeiten - der Traum vom Aussteigen sieht anders aus. Und auch hier in Frankreich schlägt das Schicksal zu, immer wieder. Doch Christine Cazon verschließt sich nicht, geht mit offenen Augen durch die Welt und den französischen Alltag - und beginnt zu schreiben. Zunächst einen Blog, aus dem das Buch »Zwischen Boule und Bettenmachen« wird, dann sehr erfolgreiche Krimis. Mit viel Humor und Selbstironie, aber auch voller Wärme und Sympathie für ihre Mitmenschen erzählt Christine Cazon über ihr Leben in Frankreich und liefert dabei erstaunliche Einblicke in ihre ganz persönliche Glückssuche.

Christine Cazon, Jahrgang 1962, hat ihr altes Leben in Deutschland gegen ein neues in Südfrankreich getauscht. Sie lebt mit ihrem Mann und Katze Pepita in Cannes, dem Schauplatz ihrer Krimis mit Kommissar Duval. 

Christine Cazon, Jahrgang 1962, hat ihr altes Leben in Deutschland gegen ein neues in Südfrankreich getauscht. Sie lebt mit ihrem Mann und Katze Pepita in Cannes, dem Schauplatz ihrer Krimis mit Kommissar Duval. 

Ein anderes Leben


Ich hatte Unfälle und Fahrradunfälle angehäuft. War Kellertreppen hinuntergefallen und habe mich einmal so spektakulär mit dem Fahrrad überschlagen, dass mehrere Autos mit quietschenden Reifen nur knapp vor mir zum Stehen kamen und die Fahrer besorgt aus dem Wagen sprangen. Alles in Ordnung? Es sah so schlimm aus! Wie durch ein Wunder hatte ich außer blauen Flecken nie etwas abbekommen. Dabei wollte ich mich so gern rausziehen aus diesem Leben, wenigstens einen Moment in einem weißen Bett in einem Krankenhaus zu ruhen schien mir eine Wohltat. Ich konnte nicht mehr.

Erschöpft war ich. Zutiefst erschöpft. Ein Burn-out, gepaart mit einer tiefen Lebensunzufriedenheit, eine Midlife-Krise Anfang vierzig, eine Depression. Irgendwie war alles zusammengekommen. Mir war alles zu viel. Auch ein Jahr später weinte ich noch immer um den Franzosen. Niemand wollte es mehr hören. Ich fühlte mich einsam, aber wenn das Telefon klingelte, hob ich nicht ab, jeder Kontakt war mir zu viel. Post machte ich auch nicht mehr auf. Freunde, die versuchten, einfühlsame Worte zu finden, blaffte ich an: »Gar nichts wisst ihr. Gar nichts. Lasst mich nur alle in Ruhe.« Mir schien, ich müsse nur einmal richtig ausschlafen, aber wenn ich dann ausgeschlafen hatte, hatte es immer noch nicht gereicht, um diese bleierne Müdigkeit abzuschütteln. War ich im Büro, sehnte ich mich nach dem Moment, in dem ich frei hatte, hatte ich frei, wusste ich nichts mit mir anzufangen und lief nur stundenlang durch die Stadt und kaufte ein. Essen, Kleider, Kram. Danach war ich natürlich immer noch müde und erschöpft. Ich hatte eine Therapeutin. Ich hatte die meiste Zeit in meinem Leben eine Therapeutin. Es gab so vieles, das nicht funktionierte. All diese Ängste, die Essstörungen, immer wieder diese tiefen Traurigkeitsphasen. Die Therapeutin gab irgendwann auf: »Ich kann nichts mehr für Sie tun, Sie brauchen andere Hilfe.« Die Hausärztin schlug mir eine psychosomatische Kur vor. Das lehnte ich empört ab und nahm stattdessen Antidepressiva, die mir nicht halfen. Irgendwann schickte sie mich zu einem Psychiater. Ein Psychiater! Ich war doch nicht verrückt! Der Psychiater war zwar erstaunlich verständnisvoll, stellte mir aber schon nach der dritten Sitzung ein Ultimatum. Die von der Ärztin vorgeschlagene Kur oder eine andere. Ich dürfe erst wiederkommen, wenn ich mich entschieden hätte. Natürlich bin ich nie wieder zu diesem Psychiater gegangen. Ich brauche doch keine Deppenkur! Ich rannte im Hamsterrad, immer schneller, immer hektischer, bis ich eines Tages zusammenbrach. Ich kann mich heute nicht mehr daran erinnern, in welchem Zustand ich war, ob ich ohnmächtig geworden war oder in Tränen ausgebrochen bin. Ich habe das verdrängt. Aber man schickte mich von der Arbeit zu meiner Hausärztin, und dort sagte ich nun: »Ich kann nicht mehr. Ich will diese Kur machen.«

»Endlich«, sagte die Hausärztin, lächelte warm und schrieb mich krank.

Wochen später, Mitte Dezember, war ich dann im Krankenhaus am Rande des Ruhrgebiets angekommen. Ich war so erschöpft, dass ich all die anderen Menschen, die mit mir auf dieser Station waren, nur am Rande wahrnahm. Sie waren seltsam, das merkte ich. Es wurde gestrickt, gesungen und Scherze gemacht wie bei einem Betriebsausflug. Das war mir zu viel. Ich verstand es auch nicht. Waren wir nicht alle hier, weil es uns nicht gut ging? Ich hatte monatelang so getan, als sei alles in Ordnung, ich wollte endlich einmal zeigen, dass nichts in Ordnung ist. Ich schwieg. Ich lächelte nicht. Ich zog mich zurück. Ich wollte niemandes Krankengeschichte wissen. Ich wollte auch meine nicht jedem erzählen. Ich wollte meine Ruhe. Ich hatte genug zum Nachdenken. Man nahm es mir übel. Arrogant sei ich. Man wollte nicht mit meiner Motzfresse am selben Tisch sitzen. Ich hatte gedacht, hier dürfe ich sein, wie ich bin, aber es war nicht so einfach.

»Wenn das mein Leben ist, dann will ich es nicht«, raunzte ich meinen Pfleger gleich am ersten Tag an.

Ungerührt drückte er mir ein kleines Büchlein mit Gedanken von Blaise Pascal in die Hand. »Lesen Sie mal«, sagte er, »das könnte etwas für Sie sein!« Ich hatte noch nie von Blaise Pascal gehört, blätterte blasiert und lustlos darin herum und blieb dann doch an einem Satz hängen: »Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point«. »Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht versteht Dieser oft zitierte Satz ist Ihnen vielleicht bekannt, für mich war er damals neu und die Idee dahinter auch. Mehr als neu. Unerhört geradezu. Kann das sein? Darf das sein? Ich hatte gelernt, dass man Entscheidungen mit dem Kopf trifft. Da hört man nicht auf seinen Bauch oder auf sein Herz. Auch nicht bei wichtigen Entscheidungen. Da schon gleich gar nicht.

Mein Pfleger war ein Glücksgriff, auch wenn ich es nicht gleich erkannte. Wie ich mir mein Leben denn wünschen würde, fragte er mich eines Tages. Was würde ich machen, wenn ich ganz frei wäre? Frei von allem. Frei von Geldsorgen. Frei von Ängsten. Auch frei von Ängsten, einen Prestigeverlust zu erleiden. Wenn ich mich um nichts und niemanden kümmern müsste, was würde ich dann tun?

In meinem Kopf ratterte es. Was würde mein Herz sagen, wenn es entscheiden könnte, was ich gerne leben wollte? »Ein Jahr nach Frankreich«, flüsterte es mir zu. »Sag es!« Und nein, es hatte nicht nur mit dem Franzosen zu tun, wenn auch die Vorstellung, dass ich die gleiche Luft atmen könnte wie er, mir klammheimlich gefiel. Nach Frankreich hatte ich immer schon gewollt.

Frankreich war früh in mein Leben gekommen, schon als ich klein war und wir dort, ganz nah an der luxemburgischen Grenze, ein paarmal Freunde der Großeltern besuchten. Maria und Joseph. Sie dick und rund, er mager und kettenrauchend. Daran erinnere ich mich und an die Stallkaninchen hinter dem Haus. Ich erinnere mich an einen kleinen Lieferwagen, der direkt vor dem Haus hielt und in den man richtig hineingehen konnte, um einzukaufen. Und daran, dass ich in dem engen Wohnzimmer, wo alle laut redeten, aßen, tranken, rauchten und zusätzlich der Fernseher lief, auf dem Sofa selig schlief. Ich, das empfindliche Kind, das solche Probleme mit dem Einschlafen hatte.

Ich erinnere mich an eine riesige Sammlung von Schlüsselanhängern, eine sehr kleine, feine und besondere Schreibschrift auf Visitenkärtchen und für ein paar Wochen ein französisches Au-pair: Joëlle. Und ich erinnere mich an Marc-Albert, den kleinen Bruder von Joëlle, in den ich ein bisschen verliebt war, wie man eben verliebt ist mit fünf oder sechs Jahren.

In unserer Familie wurde mit Französisch ohne Mühe ziemlich mühevoll Französisch gelernt. Mir scheint im Nachhinein, die Schallplatte ist bei der Lektion »Wecken im Hotel« hängen geblieben. Ich kann sie immer noch aufsagen: »Levez-vous, Mademoiselle, il est l’heure«, sagt der Zimmerservice und klopft an die Tür. »Ah, je suis tellement fatiguée«, antwortet eine junge Dame und verschluckt gähnend die Endsilbe. »Schö sswieh tellmooh fohtig«, wiederholte mein Vater daher so oft, dass ich meiner Französischlehrerin Jahre später nicht glauben wollte, dass es eigentlich fatigué heißt, mit einem betonten accent aigu am Ende. Irgendwann verlor sich trotz all des erlernten Französisch der Kontakt dorthin, aber ich war schon ein bisschen süchtig geworden nach Frankreich.

Als Jugendliche entdeckte ich in einem kleinen Programmkino in Darmstadt die Filme von François Truffaut und war fasziniert von Fanny Ardant und Gérard Depardieu in La femme d’à côté. (Die Frau nebenan) oder noch einmal Fanny Ardant und Jean Louis Trintignant in Vivement Dimanche (Auf Liebe und Tod). Wie Großartig! Noch nachhaltiger hat mich aber Pourquoi pas? (Warum nicht?), ein Film von Coline Serreau, beeindruckt. Ich war so verliebt in Samy Frey und in die unerhörte Geschichte einer Liebe zu dritt in diesem Film. In diese freche Leichtigkeit. Ach, Frankreich!

Nach dem Abitur hätte ich gerne ein Jahr in Frankreich gelebt, in einem Dachkämmerchen in Paris vielleicht oder meinetwegen auch als Au-pair-Mädchen in Lyon. Ein Auslandsjahr war damals aber noch nicht üblich, und ich konnte nicht mal richtig begründen, warum ich so gerne in Frankreich leben wollte, sodass meine Eltern, trotz ihrer eigenen Frankreichliebe und vieler im Nachbarland verbrachter Ferien, fanden, so ein Auslandsjahr sei reine Zeitverschwendung.

Herumgammeln hieß das damals. Und herumgammeln sollte ich nicht. Sondern was Vernünftiges lernen und arbeiten. Das habe ich dann auch gemacht. Ich habe vernünftig so allerhand gelernt und gearbeitet und studiert und wieder gearbeitet. Und nach Frankreich kam ich nur noch auf Zeit, im Urlaub.

Diese Sehnsucht, in Frankreich »richtig« zu leben, wurde wieder groß, als der Film Le Fabuleux Destin d’Amélie Poulain (Die fabelhafte Welt der Amélie) in die Kinos kam. Damals kam ich komplett deprimiert aus dem Kino, gerade hatte mich mein Franzose verlassen, und es schien mir, als könnte ich nicht mehr glücklich sein in Deutschland.

Ich suchte das Französische jetzt überall, kaufte mir morgens Croissants und trank abends französischen Wein, kochte mit Olivenöl und Kräutern der Provence und war begeistert, wenn ich irgendwo gesalzene französische Butter oder original Kekse aus der Bretagne fand. Ich hörte französische Musik: Benjamin Biolay zum Beispiel, als ihn noch kaum einer kannte. Und Carla Bruni. Ihr Liedchen Quelqu’un...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Europa
Reisen Reiseführer Europa
Schlagworte Aussteiger • Auswandern • Auswanderung • Autorin Duval • Cote d Azur • Cote d'Azur • Frankreich • Goodbye Deutschland • Kommissar Duval • Leben im Ausland • Leben in Frankreich • Lebensgeschichte • Schriftstellerin • Selbstverwirklichung • Suche nach dem Glück
ISBN-10 3-462-32074-2 / 3462320742
ISBN-13 978-3-462-32074-9 / 9783462320749
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