Afghanische Reise (eBook)

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2012 | 1. Auflage
224 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402546-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Afghanische Reise -  Roger Willemsen
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Nur wenige Monate nachdem in Afghanistan eine über 25-jährige Kriegsgeschichte zu Ende ging, begleitet Roger Willemsen eine afghanische Freundin auf ihrem Weg in die Heimat: von Kabul nach Kunduz und durch die Steppe zum legendenumwobenen Oxus, dem Grenzfluss zu Tadschikistan - die abenteuerliche Reise durch ein erwachendes Land. Willemsen spricht mit einfachen Frontsoldaten, Kommandanten und Generälen, trifft Drogenschmuggler, Nomaden und Weise, begegnet Verstörten und Traumatisierten, Menschenrechtlerinnen und Häftlingen, ehemaligen Mudschaheddin und Taliban-Funktionären, Fußballerinnen und Musikern. Er besucht Fabriken, Märkte, Schulen und den Ältestenrat eines Dorfes, ist Gast bei einer Verlobungsfeier und inszeniert eine Kinovorführung für Frauen und Kinder. Er überquert den lebensgefährlich verminten Salang-Pass, besucht die schwer zugänglichen Dörfer der Tadschiken, trifft turkmenische Kamelhirten in der Steppe und gelangt schließlich an die Ufer des mythischen Flusses Oxus, der die Grenze Afghanistans zu Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan bildet. Am Ende ist Roger Willemsens Buch weit mehr als der persönliche Bericht von einer faszinierenden Reise, sondern eine literarische Betrachtung der Grundlagen allen Reisens und eine Suche nach dem Eingang in die Fremde. »Dieses Buch ist ein Geschenk, verfasst von einem deutschen Intellektuellen, der mit neugierigem Kinderblick hinter die News-Front schaut. [...] Dabei erweist sich der Autor als wunderbarer Beobachter. Wenn er von seinen Begegnungen mit Generälen oder Drogenschmugglern, Menschenrechtlerinen oder Taliban-Funktionären schreibt, bekommt das Nachkriegsland - jenseits der ?Tagesschau?-Fratze - endlich ein Gesicht.« stern

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«. Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin.  Literaturpreise: Rinke-Preis 2009 Julius-Campe-Preis 2011 Prix Pantheon-Sonderpreis 2012

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«. Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin.  Literaturpreise: Rinke-Preis 2009 Julius-Campe-Preis 2011 Prix Pantheon-Sonderpreis 2012

Im Dunkeln höre ich den Gärtner, der die Veranda mit einem Reisigbesen fegt. Wenig später wird der Wagen der Müllentsorgung halten, und aus dem Nebenzimmer dringt das Geräusch eines schleifend geöffneten Fensterladens. Das dreckige Licht, das durch den halb geöffneten Laden fließt, ist mit Nebel vermischt. Es ist feuchtes Licht.

So war der Samstagmorgen am letzten Wochenende im Oktober. Ich sollte abends in Locarno auftreten, war aber schon am Vortag angereist, um meine Afghanistanreise im legendären »Grand Hotel« vorzubereiten, drei Tage, bevor es vielleicht für immer schloss. Die Tage waren so sonnig, dass man im Mantel draußen sitzen konnte. Das Hotel lag riesig und düster da, die langen Korridore, die Salons und Kaminzimmer bereits ihrem Ende zugewandt, staubig und wie mit Firnis überzogen.

Im Treppenhaus der größte Lüster der Welt aus farbig-zuckrigem Murano-Glas, die Knospen darauf wuchernd wie Tumore. An den Wänden dunkel patinierte Seestücke und Stiche, die Möbel biedermeierlich über den verschossenen Teppichen mit ihren Sonnenkanten, auf den Deckenfresken in den Salons nackte Athletinnen, geflügelt. Eine bleichhäutige Europa wird auf dem Stier ins Himmelblau gezogen, das auch schon grünstichig dämmert, hinein ins große Welken und Vergehen, das auch die Balkons draußen rissig und moosig hat werden lassen.

Ich breitete die Reiseberichte auf dem Tisch aus, Robert Byron, Bruce Chatwin, Peter Levi, Nicolas Bouvier, Doris Lessing, William T. Vollmann, Saira Shah und andere, auch Fotos, Bildbände, einen Stadtplan, eine Landkarte, dazu die Schnappschüsse, die mir meine afghanische Freundin Nadia überlassen hatte: die Schwestern in einem Garten in Kunduz oder beim Volleyballspielen, Menschen, die lachend ihre Tracht tragend den Frühling begrüßten, Momentaufnahmen aus den glücklichen Jahren des Landes.

Die Terrasse im ersten Stock schloss der Direktor noch einmal auf, damit ich dort einen letzten Kaffee trinken konnte. Nicht alle Läden waren noch intakt, nicht alle Fenster noch zu schließen, und die Speisen, die zum Frühstück gereicht wurden, hatten eine längere Lebenserwartung als das Hotel.

Hier beginnt die Reise in ein Land, das erst vor wenigen Wochen wieder eröffnet hat, Jahrzehnte, nachdem es zum Abbruch freigegeben schien.

 

Jede Reise beginnt in der Erinnerung, in der Wolke, die den Namen umhüllt, »Afghanistan«, umschwärmt von Rauch und Staub, umstellt von Bildern in Sandstein und Lapislazuli, von theatralischen Hochgebirgen und Steppen, von der Geographie der Gesichter, die Aposteln gehören könnten.

Auch sehe ich noch die stürmischen kleinen Reiter auf den indischen Miniaturen, die ich als Kind wie eine Illustration der Fremde betrachtete, wo grimmige Mongolen und Turkmenen mit athletischen Afghanen in Reiterspielen kämpften. Frauen mit geschwungenem Lidstrich und eleganten Nackenlinien reichten Höflingen die Hand, Falkner waren da zu sehen, Pomeranzengärtner, afghanische Noble, »rau, edel, stolz und unabhängig«, mit »dem Turban auf dem kahl geschorenen Kopf«, so hieß es.

Und dann der »Hippie Trail«, auf den gut hunderttausend junge Leute aus dem Westen zogen, genährt von grünem und schwarzem Afghanen, später dann Heimkehrer mit verfilzten Haaren, die »das Kraut der Armen« rauchten und etwas vom Unbeschreiblichen stammelten. Ich sehe ihn noch, »meinen« Heimkehrer, wie er ratlos durch die Wohnung seiner Eltern ging mit dem einen Satz im Mund: »So lebt ihr also, so lebt ihr also.« Und nichts hielt stand.

Das Zimmer im »Grand Hotel« ist riesig, aber ausgestattet mit zwei Feldbetten. Jetzt habe ich darauf die neueren Bücher ausgebreitet, auf deren Cover man fast immer Frauen in der Burka sieht – offenbar erkennt man Afghanistan nur an plissierten Ganzkörperschleiern, Panzerwracks und Reiterspielen. Wenn man das Fremde so betont, werden die Identifikationswege länger.

Ich lese über Hippies, Taliban und Warlords, über Paschtunen, Tadschiken, Usbeken und turkmenische Nomaden. Es fallen Namen wie »Salang-Pass« und »Panschir-Tal«, historische Reisende bewegten sich auf den legendären Grenzfluss im Norden, den Oxus, zu, zeitgenössische waren bei den gesprengten Buddha-Statuen in Bamyan. Eine Gewürzmischung aus Namen.

Andere rekapitulieren die Außenpolitik Englands, Russlands, der USA, auch die Pakistans und des Iran gegenüber Afghanistan, eigentlich eine Militärpolitik. Denn teils unwissend, teils skrupellos, machten die weltpolitischen Akteure aus dem Land, dem historischen Lebensraum, eine strategische Größe. Zur gleichen Zeit blicken die literarischen Reisenden mit schwärmerischen Augen in eine Vergangenheit, von der gesprochen wird wie vom verlorenen Paradies.

Bei Bruce Chatwin klingt das noch im Rückblick von 1980 so: »1962 – sechs Jahre bevor die Hippies das Land ruinierten (indem sie gebildete Afghanen den Marxisten in die Arme trieben) – konnte man mit der Vorfreude etwa eines Delacroix aufbrechen, der nach Algerien reist. In Herat sah man Männer Hand in Hand daherschlendern, Turbanberge auf dem Kopf, eine Rose im Mund, das Gewehr in bunten Chintz gehüllt. In Badakhschan konnte man auf chinesischen Teppichen picknicken und der Nachtigall lauschen.«

Die politischen Strategen und die literarischen Reisenden, sie unterwarfen sich nicht dasselbe Land. Sie unterwarfen es gar nicht, es gab nur Scheitern – militärisch an der Guerilla-Mentalität, ästhetisch am Erratischen des Landes. Die Beteiligten wissen es. Militärische und literarische Aussagen über die Unfähigkeit, Afghanistan gewachsen zu sein, klingen verwandt. Kapitulationen, wohin man blickt.

Am glücklichsten verkörperte sich mir das Land in Nadia, der ich vor fünfzehn Jahren am Rande eines Dokumentarfilmfestivals begegnete: Groß, mit schwarz gezeichneten Brauen und Wimpern, dichtem Haar, gehüllt in bunte Tücher, mehr noch in ihr Charisma, ihre Vergangenheit, stand sie da, eine Erscheinung. Man konnte sehen, wie sie durch ihre Anwesenheit die Umstehenden verunsicherte: Wie redet man mit so einer?

 

Jede Reise, die man beschreibt, beginnt mit der Frage: Wo war ich? Im Doppelsinn: Wo wurde der Erzählfaden des alltäglichen Lebens unterbrochen, und wie findet man heraus, wo man wirklich war?

Es beginnt mit der Erkundung dieses einen, unverwechselbaren, charaktervollen Landes, es endet mit der allgemeineren Frage danach, wie sich Menschen überhaupt an Orten befestigen, wo sie den Eingang in die Fremde suchen. Der Maler Odilon Redon schwärmte in seinem »Selbstbekenntnis« von einer Zeit, in der die Menschen nur noch »aus Bewunderung oder Mitgefühl in ein anderes Land« eindringen würden. Afghanistan hat in den letzten dreißig Jahren nicht viele solcher Eindringlinge erlebt, vielmehr haben vier Millionen Exilanten Afghanistan als Blaue Blume in die Welt getragen. Überall lebt dieses Land in einer Sphäre des Heimwehs.

»Es war einmal – oder nicht?« So beginnen die afghanischen Märchen. Es war einmal diese legendäre Stadt Kabul, wo eine Bohème entstand, in der die Frauen Miniröcke trugen und die uralte Kultur sich durchlässig zeigte für die jüngste: Afghanistan und Anarchie.

»Erblickt der Reisende, von Süden kommend, Kabul«, schrieb Nicolas Bouvier, »seinen Pappelgürtel, seine malvenfarbenen Berge, auf denen eine dünne Schneeschicht dampft, und die Papierdrachen, die im Herbsthimmel über dem Basar flattern, ist er davon überzeugt, am Ende der Welt angekommen zu sein. Doch er hat im Gegenteil deren Zentrum erreicht.«

Oder nicht? Bilder umschwärmt von Bildern.

Ich war noch in Locarno.

 

Der Taxifahrer auf dem Weg zum Flughafen verfährt sich: »Ich bin nicht so der Hotel- und Flughafentyp. Ich hab mich eher auf die Behinderten und die Omas spezialisiert.«

Rot geht die Sonne unter.

»Sieht das schön aus!«, entfährt es mir.

»Ja«, erwidert der Fahrer. »Danke.«

Er sagt das, als gehöre die Sonne zur Innenausstattung des Wagens. »Und Ihre Fluglinie?«

»Ab Dubai mit der Ariana – die Never-come-Back-Linie?«, rutscht es der Dame am Schalter für den Zubringerflug heraus. »Mit der würde ich ja nicht fliegen.«

Es scheint, als seien selbst die Luftwege nach Kabul Schotterpisten.

 

Wohin reist du: In einen Blick. Wo willst du ankommen? In einem Blick. Was siehst du, was treibt dich? Das Bild eines Kopfes, der sich auf einem Arm ablegt. Das Bild einer schmalen, abgearbeiteten Hand, die den Tee reicht, ein Gelächter, unterlegt mit den Geräuschen von Autohupen, kalt blasende Klimaanlagen, kleine Rum-Räusche, lange bunte Fingernägel. Eine Grabbelkiste der Stereotypen. Wohin reist du? Aus dem Warten hinaus, an das Ende aller Interimszustände, in ein Schweigen der Schlagzeilen und Slogans hinein, in die selbstständige Bewegung, dem geborgten Selbstverlust, einem anderen Zeitgefühl entgegen.

***

Im Streulicht der Frankfurter Wartehalle für die arabische Welt: Politisierende Orientalen, alte Mütterchen, die ganze Kulturräume mit sich schleppen, Rückkehrer mit vollen Aldi-Tüten, Exilanten mit Mangelwaren, einer riesigen Baumschere, einem Vogelbauer, dazwischen ein Mädchen auf Krücken, frisch operiert, auch deutsche Polizisten und Ausbilder, auch Trauernde, die einen Sarg in die Heimat überführen. Dazwischen windige europäisierte Afghanen und Perser, die sich »Vermittler« nennen, silbermetallige Import-Export-Schriftzüge auf ihren Visitenkarten haben und flüstern:

»Wenn Sie meine Dienste brauchen… In Kabul nehmen Sie sich einen Paschtunen als Dolmetscher. Alle anderen lügen oder sind vom Geheimdienst.«

Die Schlange stottert voran, auf »Attraction« zu, der Werbung...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2012
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
Reisen Reiseberichte Naher Osten
Schlagworte Afghanistan • Anspruchsvolle Literatur • Bericht • Grenzfluss • Interview • Kabul • Kriegsgeschichte • Kunduz • Reise • Reportage • Tadschikistan • Taliban • Turkmenistan • Usbekistan
ISBN-10 3-10-402546-0 / 3104025460
ISBN-13 978-3-10-402546-9 / 9783104025469
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