Der Geschmack der Freiheit -  Ute Cohen

Der Geschmack der Freiheit (eBook)

Eine Geschichte der Kulinarik

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
250 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962278-1 (ISBN)
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Mit der Erfindung des Restaurants wandelte sich das Kochen vom bloßen Sattmachen zu einer Kunst - ausgerechnet im Umfeld der Französischen Revolution begannen experimentierfreudige Köpfe, um die hungrigen Gäste zu wetteifern und einander mit köstlichen Kreationen zu übertreffen. Das Essengehen ist aus unserer heutigen Welt nicht mehr wegzudenken und hat uns immer neue Formen der Zubereitung und auch der sinnlichen Wahrnehmung gelehrt - von der Opulenz des 18. Jahrhunderts bis zur Molekularküche.

Ute Cohen, geb. 1966, lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin und Paris. Die Interviews und Essays der promovierten Linguistin erscheinen in renommierten Zeitungen und Zeitschriften. Ihre Romane Satans Spielfeld, Poor Dogs und Falscher Garten sind im Septime Verlag erschienen. 2021 erschien ihr Gesprächsband mit Ingrid Caven, Chaos? Hinhören, singen, im Kampa Verlag.

Einleitung


Die herbe Süße eines Quittengelees, der erdige Geschmack einer Morchel oder die Klarheit einer Quellforelle – wer Freiheit kosten will, sollte sie sich nicht nur um die Nase wehen, sondern auch auf der Zunge zergehen lassen.

Die Geschmacksknospen zu öffnen und die Sinne zu befreien von gesellschaftlichen Zwängen, gelingt ganz formidabel in Paris. Der französischen Hauptstadt werden nicht nur amouröse Tändeleien angedichtet. Paris verzückt auch die Papillen. Nicht der Blick geleitet die Flaneurin durch die Stadt, die Nasenflügel weisen den Weg, weiten sich für Gerüche und Aromen, die aus den zahlreichen Bäckereien und Rotisserien dringen. Unwillkürlich wendet man den Kopf den Schaufenstern zu, wo mit delikater Schokolade umhüllte Törtchen zum Verzehr locken, Fruchtspiegel aus Passionsfrucht und Himbeere auf Zuckergebäck in den Auslagen leuchten. Zu süß? Zu üppig? Ein Macaron, mit Jasmintee, Rosenblüten und Zitrusfrüchten aromatisiert, hat weder Marie-Antoinette noch der Flaneurin geschadet. Wenn man einmal davon absieht, dass die Nascherei die Gattin Ludwigs XVI. letztlich den Kopf kostete, etwas verkürzt formuliert freilich.

Dass Gourmandise, hierzulande auch als Schlemmerei bekannt, Gefahr bedeuten kann für Leib und Leben, macht auch ihren Reiz aus. Die Exzesse der Herrschenden, das Darben der Armen und puritanische Verzichtspredigten befinden sich in einem Spannungsverhältnis, das die Gesellschaft auf eine Zerreißprobe stellen kann. Hinzu kommt die penible Vermessung jedweder körperlicher Reaktion. Bodymonitoring erfasst nicht nur den Puls, sondern vermisst auch Gefühle. Sensorarmbänder verzeichnen Hautleitfähigkeit und -temperatur, woraus Rückschlüsse auf den Gefühlshaushalt des Probanden gezogen werden können. Die Angst ist ein schlechter Ratgeber intensiven Fühlens. Schneller, als einem lieb ist, unterjocht man sich Zahlen und Ziffern und lässt sich schurigeln von Kontroll-Gadgets. Freude, Neugier, Genuss und Entspannung sollen im Rahmen bleiben, jeder Ausschlag nach oben oder unten tunlichst vermieden werden. Experimentelle Gelüste und ästhetische Spielereien drohen dabei auf der Strecke zu bleiben.

Was aber sind das Experiment und die Erforschung von Ich und Umwelt anderes als das Begehr nach Freiheit? Diese Freiheit, seit der Französischen Revolution Grundthema bürgerlicher Gesellschaften, ist schon zahlreichen Philosophen auf den Magen geschlagen, denn Revolutionen sind nicht nur politische Ereignisse. Sie vermögen auch die Welt, und mit ihr unser gesamtes Denken, Handeln und Genießen, aus den Angeln zu heben. Eine Rückkehr in die Unfreiheit scheint ausgeschlossen, und doch schwebt über Libertas stets ein Damoklesschwert, denn, das wusste bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel, eine freie Gesellschaft führt immer in die extreme Ungleichheit, wenn sich Freiheit nicht auf ihre historische Einbettung besinnt. Gleiches gilt für die Kulinarik. Zwischen Luxusrestaurants und Fast-Food-Buden kämpfen Mittelstandsgastronomen um ihre Existenz, da sie sich finanziell kaum mehr über Wasser zu halten vermögen. Inflation, Personalmangel, Mieterhöhungen – die Gastronomie ist kein Zuckerschlecken. Eine Rückbesinnung auf die historische Bedeutung der Restaurants als Kulturgüter, als Orte des gesellschaftlichen Austausches und des utopischen Denkens, könnte auch den Wirtschaftsbereich Kulinarik neu beleben und wachsende Unfreiheit ökonomischer Art verhindern.

Selbst die exklusivsten Restaurants vermögen inzwischen dem Druck kaum mehr standzuhalten. Der dänische Gourmettempel Noma schloss seine Türen, nicht ohne bitteren Nachgeschmack: Der Ausbeutung von Mitarbeitern wurde erst ein Ende gesetzt, als die Öffentlichkeit von dem Skandal erfuhr. Da Rentabilität ohne Sklavenmoral im Sektor der Haute Cuisine wohl kaum mehr gewährleistet werden kann, entschieden sich die Gastronomen für eine strategische Neuausrichtung: Schluss mit Küchenrevolutionen ausgetragen auf dem Rücken billiger Suppenknechte, ad acta die hochtrabenden kulinarischen Manifeste. Langfristiger gastronomischer Erfolg kann im Zeitalter der Nachhaltigkeit und sozialen Verantwortlichkeit nicht mit Ausbeutung des Personals und sinnentleerten Firmenpolicies erzielt werden. Hochpreisige Restaurants wie das Noma stehen daher künftig als weniger personalintensive kulinarische Labore in den Diensten gastronomischer Innovation. Der spanische Starkoch Ferran Adrià hatte bereits 2011 den Weg gewiesen und die Türen seines legendären Restaurants El Bulli geschlossen. Die großen kulinarischen Avantgardisten sind aufgrund des ökonomischen Drucks und des unersättlichen Hungers nach Neuerungen gezwungen, sich dem schwindelerregenden Wandel in der Gastronomiebranche zu entziehen, um nicht unterzugehen. Die Revolution frisst ihre Kinder. Unappetitlich, aber wahr.

Was aber bleibt von unserem kulinarischen Erbe, wenn Gastlichkeit und Geselligkeit, Miteinander und Genuss zersplittern in utopische Forschung und schnöde Massensättigung? Was passiert mit dem Paris der Flaneure und der Freiheit? Gibt es eine Resistenz und Resilienz kulinarischer Gelüste?

Saint-Germain-des-Prés strahlt noch den Glanz aus, den wir mit den ruhmreichen Zeiten der Hauptstadt verbinden. Man hört die Stimmen junger Amerikanerinnen, die den Trip nach Europa in ihren Lebensplan einbauen. An den Tischen des Restaurants La Closerie des Lilas sind die Namen französischer Kulturgranden eingraviert: Louis Aragon, Paul Éluard, André Gide. Meeresfrüchteplatten mit bretonischen Austern, Taschenkrebs und Langustinen locken die Gäste ebenso wie klassische, mit Grand Marnier flambierte Crêpes Suzette.

Unerschütterlich scheint Paris Nomadentum und Vergänglichkeit zu trotzen, dem Kratzen am kulinarischen Nationalstolz zu widerstehen. Mühsam allerdings und nicht immer erfolgreich: Die Bistros befinden sich in einer Krise. Die Lust an sündiger Geselligkeit schwindet, das Rauchverbot wurde eingeführt, die Blutwurst wird verschmäht und der Blick des anderen als unerträglich empfunden. Corona brachte diese Orte französischer Lebensart schließlich in eine solche Bedrängnis, dass das Boulevardblatt Le Parisien zur Rettung und finanziellen Unterstützung der Bistros aufrief. Immerhin besteht Hoffnung! Die Gastronomie scheint die größte Widerständigkeit gegen den Verfall des Savoir-vivre zu zeigen. Liegt es an der Schulung des Gaumens schon im Kindesalter? In der ›Woche des Geschmacks‹ verkosten schon Grundschüler französische Spezialitäten und lernen den kulinarischen Reichtum des Hexagons kennen. Spielerisch werden die Sinne stimuliert mit Blindverkostungen salziger und süßer Speisen. Die kleinen Bürger werden mit alten Apfelsorten vertraut gemacht und sollen das Verkosten genauso erlernen wie das Lesen und Schreiben. Die Kulinarik ist in Frankreich eine Kulturtechnik, eine ernste Angelegenheit, obschon oder gerade weil der Genuss an erster Stelle steht.

Nicht ohne Grund nahmen die islamistischen Attentäter 2015 auch ein Bistro ins Visier. Denn dort wird geschwatzt und parliert, vor diesem Tresen, in den Cafés und Cabarets, die Honoré de Balzac das »Parlament des Volkes« nannte. Wer dort zuschlägt, trifft das Herz Frankreichs. Der öffentliche Raum leert sich und schrumpft hinein in eine furchtsame Privatheit.

Saint-Germain-des-Prés glänzt, doch morgens um sieben sind die Straßen verwaist. Verlässt man das Herz der Stadt, dann stumpft nicht nur der Glanz ab, und Rimbauds gescholtene Schönheit ergreift die Flucht. Auch der Geruch der Stadt ändert sich, die Straßen sind übersät mit Müll, und die Polizei macht einen großen Bogen um die Elendsviertel, aus denen sie womöglich nicht mehr heil herausfinden würde. Der Regisseur Ladj Ly legte in seinem Film Die Wütenden (2019) den Finger auf die schwelende soziale Wunde einer Gesellschaft, die exemplarisch ist für eine immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Er zeigte, auf welch tönernen Füßen Menschlichkeit steht, wenn Existenzen auf dem Spiel stehen und jede Hoffnung flöten geht. Wenn Bistros attackiert werden, was bleibt dann noch von diesem Geist der Freiheit? »Rauch, Träumerei von Feuer«, wie der Schriftsteller Jules Renard wohl gesagt hätte. Die Flamme der Freiheit muss sorgsam gehegt werden, um weder zu erlöschen noch rasende Feuer zu entfachen.

Oder birgt das Chaos auch Chancen? Versagt die Vernunft und droht eine diskursive Sackgasse, gilt es Wege abseits eingefahrener Bahnen zu entdecken und auf andere Sinne zu vertrauen. In der Geschichte der Kulinarik liegt ein Verwandlungspotential, das auch gesellschaftlich entfaltet werden will. Das Verbindende im Genuss zu entdecken und persönliche Vorlieben zu erproben, verspricht eine Stimmung zu schaffen, die auch dem versöhnlichen Gespräch förderlich ist. Die kulinarische Verheißung einer von gesellschaftlichen Vorgaben losgelösten Gesellschaft klingt verlockend. Ist es ein allzu gewagter Gedanke, sich auf das Sinnliche zu besinnen, dem traditionellen Schmaus, dem exotischen Genuss, dem herrlichen Mischmasch eine utopische Kraft zuzusprechen?

Denkt man an Burger, Porridge und Bowls, wirkt der Gedanke abwegig. Aufgetischt wird, was fix verzehrt und leicht verdaulich ist. Wenn Gastronomie Indikator gesellschaftlichen Wandels ist, dann möchte man beim Blick auf das Verschwinden gastronomischer Vielfalt Prost Mahlzeit! rufen. Kein Grund jedoch, sauertöpfisch zu werden! Ein Blick in die Historie beweist: Die Lust am Denken wächst mit der Vielzahl an Genüssen. Wer sich mit der Zubereitung eines luftigen Soufflés befasst, Saucen zu montieren weiß und Getreidebrei durch bekömmliche Bouillons ersetzt, verfeinert auch den...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2024
Sprache deutsch
ISBN-10 3-15-962278-9 / 3159622789
ISBN-13 978-3-15-962278-1 / 9783159622781
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