»Kleine rote Fische, die rückwärtsgehen« (eBook)
336 Seiten
mareverlag
978-3-86648-836-6 (ISBN)
Heinz-Dieter Franke, geboren 1950, leitete bis zum Eintritt in den Ruhestand eine Arbeitsgruppe an der Biologischen Anstalt Helgoland/Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) und lehrte als apl. Professor für Zoologie an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte bildeten die Fortpflanzungsbiologie und Ökologie wirbelloser Meerestiere, insbesondere der Krebse.
Heinz-Dieter Franke, geboren 1950, leitete bis zum Eintritt in den Ruhestand eine Arbeitsgruppe an der Biologischen Anstalt Helgoland/Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) und lehrte als apl. Professor für Zoologie an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte bildeten die Fortpflanzungsbiologie und Ökologie wirbelloser Meerestiere, insbesondere der Krebse.
EINLEITUNG
Kaum entwirrbar sind die zahllosen Fäden, die alle Lebewesen mit ihrer belebten und unbelebten Umwelt verbinden. Geknüpft wurde dieses Beziehungsgeflecht in der langen Geschichte des Lebens, in der nur bestehen konnte, wem es gelang, sich den wechselnden Umständen ständig neu anzupassen oder diese zum eigenen Vorteil aktiv zu verändern. Mit der Kulturentwicklung des Menschen nahm diese Geschichte eine Wendung, die weit über alle bis dahin bekannten Formen existenzieller Abhängigkeiten und wechselseitiger Einwirkungen hinausführte. Ein wachsendes Verständnis naturgeschichtlicher Zusammenhänge machte es möglich, die – aus menschlicher Sicht – Übel der Natur zu mindern und ihre Wohltaten zu mehren. Und überall, wo Menschen der drängendsten existenziellen Sorgen enthoben waren, wurde die Natur auch Gegenstand von Betätigungen und Betrachtungen jenseits reiner Zweckmäßigkeit.
Das vorliegende Buch handelt von unseren Beziehungen zu einer bestimmten Gruppe von Tieren, den Krebsen. Auch wenn es im Wesentlichen aus der Sicht des Zoologen und Naturforschers geschrieben ist, geht es doch nicht vorrangig um die Biologie, also um Vielfalt, Bau und Lebensweise dieser Tiere. Eine solche Abhandlung gälte es noch zu schreiben, denn eine populäre deutschsprachige Darstellung der Biologie der Krebse in ihrer Gesamtheit fehlt bis heute. Thema dieses Buches sind vielmehr Natur- und Kulturgeschichte übergreifende Zusammenhänge – kurz: alles, was uns als Menschen mit Krebsen verbindet.
Warum gerade Krebse – die Crustacea der traditionellen wissenschaftlichen Terminologie? Der größte Teil meines Berufslebens war einer Forschung gewidmet, in der Krebse die Hauptrolle spielten. Ein Zoologe, der sich als Krebsforscher vorstellt, muss im selben Atemzug ein kaum vermeidbares Missverständnis aufklären. Er ist Crustaceologe, kein Onkologe, also kein Angehöriger jener angesehenen Zunft, die sich dem Kampf gegen die »Geißel der Menschheit« verschrieben hat und (anders als der Zoologe) niemals nach dem Sinn seiner Tätigkeit gefragt wird. Der Ursprung der irreführenden Namensgleichheit einer Tiergruppe und eines Krankheitsbildes, die in keiner erkennbaren Beziehung zueinander stehen, ist umstritten. Schon Hippokrates (460–370 v. Chr.) und später auch Galenos von Pergamon (129–199 n. Chr.) haben jedenfalls bösartige Gewebeveränderungen mit demselben griechischen Ausdruck karkinos (lat. cancer) bezeichnet, der auch für Krebstiere verwendet wurde.
Eine Reihe populärer Irrtümer ranken sich bis heute um Krebse. Davon handelt auch eine amüsante Anekdote über den großen französischen Naturforscher Georges Cuvier (1769–1832), die, sollte sie nicht wahr sein, doch gut erfunden ist. Eine Kommission der französischen Akademie der Wissenschaften hatte für die Herausgabe eines neuen Wörterbuchs die Krabbe als »einen kleinen roten Fisch, der rückwärtsgeht«, definiert. »Großartig, meine Herren!«, lobte Cuvier. »Aber mit Ihrer Erlaubnis möchte ich als Naturforscher eine kleine Bemerkung dazu machen: Eine Krabbe ist kein Fisch, sie ist nicht rot und geht auch nicht rückwärts. Davon abgesehen ist Ihre Definition absolut korrekt.«1
Noch viel weniger als etwa »den« Vogel oder »das« Insekt gibt es »den« Krebs. Keine vergleichbare Tiergruppe umfasst eine solche Fülle unterschiedlicher Bau- und Lebensformtypen wie die der Krebse. Das macht es unmöglich, Krebse mit wenigen Worten zu charakterisieren. Die wissenschaftliche Erforschung der Krebse, wie die wissenschaftliche Naturgeschichte überhaupt, begann im 4. Jahrhundert v. Chr. mit dem griechischen Naturforscher und Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.). Dessen empirische Untersuchungen der Meerestiere blieben nahezu zwei Jahrtausende unübertroffen. Wesentliche Fortschritte brachte erst wieder das späte 16. Jahrhundert, als man nach langer Zeit wieder begann, Tiere um ihrer selbst willen zu studieren. Im 18. Jahrhundert führte der Schöpfer der binären Nomenklatur Carl von Linné (1707–1778) in seiner Systema Naturae (10. Auflage von 1758) unter insgesamt 4590 Arten auch achtzig auf, die wir heute als Krebse ansprechen. Aktuell sind etwa 67 000 Arten von Krebsen beschrieben und viele vermutlich noch unbekannt.
Krebse (Crustacea, »verdeutscht« zu Crustaceen) bilden zusammen mit Insekten (Hexapoda), Spinnentieren (Chelicerata) und Tausendfüßern (Myriapoda) den Stamm der Gliederfüßer (Arthropoda), zu dem mit etwa 1,2 Millionen beschriebenen Arten etwa 80 Prozent aller bekannten Tierarten gehören. Die Geschichte der Gliederfüßer begann vor etwa 600 Millionen Jahren in den präkambrischen Meeren. Der Körper dieser Tiere setzt sich aus einer Anzahl aufeinanderfolgender Baueinheiten (Segmente) zusammen, die ursprünglich in gleicher Weise mit je einem Satz innerer Organe und einem Paar Extremitäten ausgestattet waren. Eine solche Modulbauweise ist dazu prädestiniert, eine Vielfalt unterschiedlicher Bautypen hervorzubringen: durch Vermehrung oder Reduktion der Anzahl der Segmente; durch eine arbeitsteilige Differenzierung der Segmente und ihrer Extremitäten; sowie schließlich durch die unterschiedliche Art und Weise, in der Segmente sich gruppenweise zu Körperabschnitten wie etwa Kopf, Thorax und Abdomen zusammenschließen.
Molekulargenetische Methoden der Verwandtschaftsanalyse haben in den letzten Jahrzehnten allen Zoologinnen und Zoologen zahlreiche Überraschungen bereitet. Dazu gehört auch die heute in Fachkreisen allgemein akzeptierte Pancrustacea-Hypothese, die Vorstellung, dass Krebse und Insekten nicht wie Geschwister genealogisch gleichrangig nebeneinanderstehen. Vielmehr bilden die Insekten eine weiter oben am Stammbaum der Krebse entstandene Entwicklungslinie und müssen daher im Sinne einer Systematik, die sich konsequent an den Verwandtschaftsverhältnissen der Lebewesen orientiert, den Krebsen zugeordnet werden.2 Während noch bis in das 19. Jahrhundert Krebse als »flügellose Insekten« (insecta aptera) geführt wurden (im Mittelalter auch als »Muscheln mit Füßen«, conchae crura habentes), käme nach heutiger Kenntnis die Charakterisierung von Insekten als »geflügelte Krebse« der Wirklichkeit wohl näher. Im Folgenden wird jedoch – wie es nicht nur umgangssprachlich noch weithin üblich ist – von Krebsen in deren traditioneller, also die Insekten ausschließender, Bedeutung die Rede sein.
Wie die Stammform der Gliederfüßer insgesamt, so lebte auch jene der Krebse im Meer. Heute finden wir die Nachfahren der »Ur-Krebse« aber nicht nur in allen marinen Lebensräumen von den Küsten bis hinab zu den Tiefseeböden, sondern auch in allen Arten von Süßgewässern. Und ähnlich den Insekten, wenngleich weit weniger erfolgreich, haben manche Krebse schließlich sogar das feste Land erobert.
Die populäre Vorstellung von Krebsen ist geprägt von ihren großen und auffälligen Vertretern wie Hummern, Flusskrebsen, Krabben, Garnelen und Langusten – also von Arten, die auch auf unseren Speisekarten stehen. Sie alle gehören zur Gruppe der Zehnfußkrebse (Decapoda). Und sie sind es auch, die in einer Kulturgeschichte der Krebse die Hauptrolle spielen. Die meisten Krebse sind jedoch eher kleine Formen im Zentimeter- oder sogar nur Millimeterbereich. Letztere sind es, die die Masse des tierischen Planktons bilden, in unvorstellbar hohen Individuenzahlen Meere und Süßgewässer besiedeln und eine kaum zu überschätzende Rolle in den Nahrungssystemen spielen, an deren Spitze unsere Speisefische stehen. Im Meer sind es vor allem Vertreter der Ruderfußkrebse (Copepoda), in Süßgewässern daneben auch Blatt- oder Kiemenfußkrebse (Branchiopoda) wie die Wasserflöhe: Diese filtrieren jeden Tag eine Menge des winzigen pflanzlichen Planktons aus dem Wasser, die etwa ihrer eigenen Körpermasse entspricht, überführen die von Mikroalgen produzierte pflanzliche in tierische Biomasse und machen sie so auch für größere Tiere verwertbar. Aber nicht nur an der Basis des tierischen Teils des Nahrungssystems, sondern auch bei der Rückführung der Nährstoffe in einen neuen Produktionszyklus spielen Krebse eine bedeutende Rolle.
Es ist ein kurioser Umstand, dass die einzigen Krebse, die wohl jeder Mensch häufiger zu Gesicht bekommt, von nur wenigen überhaupt als solche angesprochen werden. Es sind die in unseren feuchten Kellern, Garagen und Gartenhäusern allgegenwärtigen Keller- und Mauerasseln. Verborgen bleiben den meisten Menschen nicht nur die Vielfalt der Krebsarten und deren herausragende Bedeutung im Haushalt der Natur, sondern auch die zahlreichen direkten Berührungspunkte von Krebsen mit menschlichen Belangen. Ein dafür sensibilisierter Beobachter wird Krebsen in einer Vielzahl völlig unterschiedlicher und...
Erscheint lt. Verlag | 20.2.2024 |
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Zusatzinfo | mit zahlreichen Abbildungen |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Naturwissenschaften ► Biologie ► Zoologie |
Schlagworte | Arthropoda • Biologie • Dalí • Gliederfüßer • Hummer • Krebse • Krustentier • Kulturgeschichte • Legende • Mythen • Naturkunde • Sartre • scampi • Shrimp • Zoologie |
ISBN-10 | 3-86648-836-X / 386648836X |
ISBN-13 | 978-3-86648-836-6 / 9783866488366 |
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