Pillen-Poker (eBook)
240 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77442-7 (ISBN)
Medikamente sollen uns wieder gesund machen oder unsere Beschwerden lindern. Doch in erster Linie sind Medikamente ein Renditeobjekt, denn das Geschäft mit Pillen und Patient:innen ist extrem profitabel. Der Pharmamarkt hat viel von einem Poker-Spiel: Wer am besten bluffen kann, gewinnt.
Das auffälligste Symptom: Die meisten neuen Medikamente bringen den Patient:innen keine relevanten Vorteile. Erst recht gilt das für die Alternativmedizin, die ihren zahllosen Produkten oft völlig evidenzfrei Wirkungen andichtet. Dagegen werden dringend benötigte Medikamente wie neue Antibiotika erst gar nicht entwickelt - sie versprechen zu wenig Profit. Hinzu kommt, dass die Vermarktungsstrategien der Pharmaindustrie, ihre Verkaufs- und Informationstricks immer ausgefeilter werden, bei klinischen Studien immer raffinierter geschummelt und getäuscht wird, während man gleichzeitig den Verbraucher- und Patientenschutz schwächt.
Pillen-Poker liefert nicht nur eine differenzierte Analyse des Geschäfts mit unserer Gesundheit, es zeigt auch Lösungsmöglichkeiten auf. Denn das Gute ist: Man kann es besser machen, und billiger wird es für die Allgemeinheit auch noch - man muss es nur wollen.
Jörg Schaaber ist Soziologe und Gesundheitswissenschaftler. Er arbeitet für die BUKO Pharma-Kampagne, die seit über 40 Jahren die globalen Geschäftspraktiken von Big Pharma beobachtet, und er ist weltweit mit unabhängigen Expert:innen bestens vernetzt. Er hat das globale Netzwerk Health Action International (HAI) mitbegründet und war acht Jahre Präsident der internationalen Gesellschaft der unabhängigen Arzneimittelzeitschriften(ISDB).
Willkommen im Pharma-Pokerclub
Eigentlich sollten Medikamente ja wieder gesund machen oder Beschwerden lindern. Doch da sie auch ein Renditeobjekt sind und Aktionäre und Manager jedes Jahr Milliarden am Geschäft mit unserer Gesundheit verdienen, sind die Interessen von Herstellern und Kranken oft nicht deckungsgleich. Warum das schädlich sein kann und was sich ändern muss, davon handelt dieses Buch.
Besonders viel Geld lässt sich mit neuen Medikamenten verdienen. Sind sie erst einmal patentgeschützt, besitzt die Firma ein Monopol und kann fast beliebig hohe Preise verlangen, weil die Konkurrenz ausgeschaltet ist. Neu – das klingt im Grunde gut, doch neu ist leider nicht immer gut. Denn längst nicht jede Neuerung bringt Vorteile, wenn man erkrankt ist.
Der Pharmamarkt hat dabei viel von einem Pokerspiel, wer am besten bluffen kann, gewinnt: Gerade wenn das neue Medikament trotz eines neuen Wirkstoffs nicht wirklich besser ist als die bekannten Therapien, wird die Werbemaschinerie angeworfen. Es ist kein Zufall, dass die Pharmaindustrie mehr Geld für Marketing als für Forschung ausgibt.
Zu den Werbestrategien gehören Hochglanzanzeigen in Medizinjournalen oder Pharmavertreter*innen, die jede Arztpraxis aufsuchen. Viel wichtiger jedoch ist die versteckte Beeinflussung durch »Key Opinion Leader« (KOL), also Ärzt*innen, die in ihrem Fachgebiet ein gewisses Ansehen genießen. Gegen eine fürstliche Entlohnung spannen die Firmen sie systematisch für Werbezwecke ein und lassen sie Vorträge auf wissenschaftlichen Kongressen und Fortbildungen halten. Die KOL stehen quasi hinter dem Pharmaspieler und loben dessen Karten über den grünen Klee – auch wenn das Blatt das gar nicht hergibt.
Selbst Artikel in medizinischen Fachzeitschriften sind nicht geschützt vor Beeinflussung: Dienste von Schreibbüros, die sich auf das Aufpeppen von blassen bis miserablen Studienergebnissen spezialisiert haben, werden nur allzu gerne in Anspruch genommen. Denn wenn ein Artikel den richtigen »Dreh« hat und das Medikament überzeugend angepriesen wird, greifen die Ärztin oder der Arzt eher zum Rezeptblock. So lässt sich auch mit schlechten Karten erfolgreich bluffen.
Mitunter sind die Karten schlicht gezinkt. Zum Beispiel wenn wissenschaftliche Studien manipuliert oder unvorteilhafte Ergebnisse verschwiegen werden. Ein bis heute weitverbreitetes Phänomen.
Eher selten hält eine der Pharmafirmen auch mal ein richtig gutes Blatt in der Hand: einen Wirkstoff, der den Patient*innen wirklich besser hilft. Das ist dann für beide Seiten erfreulich (sieht man von den hohen Preisen ab). Anders als beim Poker kann man sich auf dem Pharmamarkt diese guten Karten aber auch einfach kaufen: Viele erfolgversprechende neue Präparate wurden nämlich ursprünglich gar nicht von den großen Pharmakonzernen entwickelt, sondern von kleinen Start-ups. Diese sind zumeist Ausgründungen von Universitäts-Wissenschaftler*innen, die oft jahrelang auf Staatskosten geforscht und experimentiert haben.
Hat die Forschung der Wissenschaftler*innen zu vielversprechenden Ergebnissen geführt, muss überprüft werden, ob das potenzielle Produkt die Erwartungen erfüllt. Doch den Universitäten fehlt meist das Geld für die kostenträchtigen Studien an Menschen, die am Ende der Medikamentenentwicklung stehen. Also suchen sich Forscher*innen Kapitalgeber und gründen eigene kleine Firmen, um erste klinische Studien mit Patient*innen durchzuführen.
Weist so ein Start-up Erfolge vor, dann klopfen Großkonzerne an und machen Angebote, die kaum auszuschlagen sind. Manche Wissenschaftler*innen werden so über Nacht zu Milliardär*innen. Big Pharma hat bis dahin rein gar nichts zur Entdeckung beigetragen, verdient aber nach dem Aufkauf am Ende am allermeisten. Um so einen märchenhaften Deal geht es gleich im ersten Kapitel.
Die Zeche für diese Deals zahlen wir alle mit exorbitant hohen Medikamentenpreisen. Das sollte uns nicht egal sein. Selbst wenn wir hierzulande in der glücklichen Lage sind, dass die Krankenkassen die Kosten für Arzneimittel bis auf eine geringe Zuzahlung (noch) voll übernehmen, egal wie teuer sie sind – ein Blick über den Tellerrand zeigt: Die Mehrheit der Weltbevölkerung kann es sich schlicht nicht leisten, ernsthaft krank zu werden, weil die Behandlung oft unbezahlbar ist.
In armen Ländern Afrikas oder Asiens führen die drastischen Versorgungsmängel nicht selten zum Tod von Menschen. Sie haben nicht einmal die sprichwörtlich schlechten Karten, da sie erst gar nicht am Spiel teilnehmen dürfen. Aber auch in den USA hat ein Fünftel der Bevölkerung keine Absicherung im Krankheitsfall. Und in den östlichen EU-Mitgliedstaaten bieten Pharmakonzerne ihre teuren neuen Mittel oft nicht an, da es sich aus ihrer Sicht schlicht nicht lohnt. Diese dort preiswerter zu veräußern, könnte ja die hohen Preise in lukrativen Märkten wie Deutschland, Frankreich oder den USA verderben.
Patient*innen, die nicht viel zahlen können, sind schlecht fürs Geschäft. Sie lässt man um des Profits willen links liegen. Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat hierzu pointiert folgende Kausalkette erstellt: Seit jeher sei das wichtigste Anliegen der Pharmakonzerne, Gewinne zu maximieren. Das sei ihr Geschäftsmodell. Gewinnmaximierung bedeute Angebotsverknappung. Weil mit der Verknappung die Preise stiegen. Und Preiserhöhungen steigern den Profit.1 Mit diesem Geschäftsmodell ist die Pharmaindustrie äußerst erfolgreich, steigert beständig den Umsatz und erzielt dauerhaft hohe Gewinnraten. Auf diese Weise bleiben neuere lebensrettende Medikamente für weite Teile der Weltbevölkerung unbezahlbar. Bekanntestes Beispiel ist hier Aids: Hohe Preise verhinderten über ein Jahrzehnt die Behandlung der Mehrzahl der Betroffenen – sie hatten das Pech, im südlichen Afrika oder anderen armen Regionen zu leben.
Allerdings ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch in reichen Ländern die Grenze der Belastungsfähigkeit erreicht sein wird. Daher sollte frühzeitig die Diskussion darüber beginnen, was sich ändern muss, um bezahlbare neue Medikamente zu entwickeln und gleichzeitig die Breite der Krankenversorgung sicherzustellen.
Die künstliche Verknappung von Medikamenten ist nicht das einzige Problem dieses profitgesteuerten Modells. Für bestimmte Erkrankungen, die vorwiegend in armen Ländern auftreten, wie zum Beispiel Malaria oder Tuberkulose, wird erst gar nicht an neuen Medikamenten geforscht. Angesichts der Erwartungen der Aktionäre lohnt sich dies schlicht nicht. Arme Erkrankte sind einfach »raus aus dem Spiel« – mit oft tödlichen Folgen.
Proteste gegen diesen zynischen Ausschluss vieler Menschen vom wissenschaftlichen Fortschritt flackern meist erst auf, wenn Patient*innen hierzulande betroffen sind. So kam es in der medizinischen Fachwelt gar nicht gut an, als die Firma Genzyme 2012 das Krebsmedikament MabCampath® (Wirkstoff: Alemtuzumab) in Europa »aus kommerziellen Gründen« vom Markt nahm.2 Die Muttergesellschaft Sanofi machte den Wirkstoff 40-mal so teuer und führte das Mittel gegen Multiple Sklerose (MS) gleich wieder neu ein.
Warum dieser Schritt? Die Form von Blutkrebs, gegen die der Wirkstoff Alemtuzumab hilft, ist sehr selten. MS ist dagegen eine verbreitete Erkrankung, und die Betroffenen müssen über lange Zeit behandelt werden. Für MS wird aber nur ein Zehntel der Wirkstoffmenge wie für die Krebserkrankung benötigt. Mit dem Stopp des Medikaments gegen Blutkrebs wollte die Firma verhindern, dass die preiswertere vorhandene Version kostensparend auch gegen MS eingesetzt wird. Denn das hätte die Gewinnerwartungen des Konzerns beschnitten. Erst nachdem der Rückzug von MabCampath® vollzogen war, wurden die Ärzt*innen informiert: »Uns ist bewusst, dass diese Entscheidung eine Einschränkung Ihrer Therapieoptionen in den Bereichen bedeutet, in denen Sie MabCampath® bislang erfolgreich zur Behandlung eingesetzt haben. Sollten Sie nun Patienten behandeln, bei denen die Therapie mit MabCampath® aus medizinischer Sicht alternativlos ist, wenden Sie sich bitte für weiterführende Informationen an die Firma Clinigen.«3 Also konnte das – für diesen Zweck nicht mehr zugelassene – Medikament für Krebskranke nur noch in einem umständlichen Einzelfallverfahren...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2023 |
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Reihe/Serie | medizinHuman | medizinHuman |
Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Bernd Hontschik |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Naturheilkunde |
Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • krank • Krankenkasse • Medikamente • Medizin • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Patientenschutz • Pharmaindustrie • pharmalobby • Pillen • Rezept • ST 5241 • ST5241 • suhrkamp taschenbuch 5241 • Tabletten • Verbraucherschutz |
ISBN-10 | 3-518-77442-5 / 3518774425 |
ISBN-13 | 978-3-518-77442-7 / 9783518774427 |
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