Experienzielles Coaching (eBook)

Körper und Emotionen konstruktiv nutzen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
136 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61565-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Experienzielles Coaching -  Ulrich Siegrist
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Der Bedarf an Beratung in der Arbeitswelt wächst mit ihrer Komplexität. Dabei finden Konzepte wie z. B. Focusing, die den Körper ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen, eine zunehmende Beachtung. Wenn Emotionen ins Spiel kommen und der Körper sich meldet, wird vom Coaching häufig erwartet, die Emotionen zu beruhigen und zur Sachlichkeit zurückzukehren. Das gelingt umso besser, wenn körperliche Empfindungen und Gefühle nicht als lästige Begleitmusik abgetan, sondern als Ressource für das Erarbeiten von Lösungen genutzt werden. Ulrich Siegrist gibt in seinem Buch eine theoretisch fundierte und gleichzeitig praktische Anleitung zur experienziellen Vorgehensweise im Coaching.

Prof. Dr. Ulrich Siegrist lehrt Kommunikation und Beratung an der Katholischen Hochschule Freiburg i. Br. Er leitet die Weiterbildung "Supervision und Coaching" der Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung (GwG).

Prof. Dr. Ulrich Siegrist lehrt Kommunikation und Beratung an der Katholischen Hochschule Freiburg i. Br. Er leitet die Weiterbildung "Supervision und Coaching" der Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung (GwG).

3 Eugene Gendlins Focusing-Ansatz

Wer sich mit experienziellen Konzepten und mit dem Begriff des Felt Sense befasst, landet unweigerlich bei Eugene Gendlin (1926–2017), dem Begründer des Focusing. Gendlin war Schüler und späterer Nachfolger von Carl Rogers an der Universität von Chicago, wo er im Rahmen seiner Psychotherapieforschung vor allem der Frage nachging, wie Therapie zu langanhaltenden Veränderungen im Leben von Menschen beitragen kann. Eine zentrale Beobachtung dabei war die, dass Veränderungsschritte in der Therapie häufig hervorgerufen wurden durch etwas, was die Klientinnen innerlich, häufig intuitiv und unbewusst, taten. Auffallend war zudem, dass der innere Veränderungsprozess oft einher ging mit Phasen des Schweigens und des Suchens nach Metaphern oder Worten, um das eigene Erleben zu beschreiben oder ein Gefühl zu benennen. Ebenso auffallend waren die damit einher gehenden körperlichen Veränderungen, wie z.B. auffallendes Ausatmen oder plötzliches Zusammensacken (Wild-Missong, 1996).

Gendlin machte sich im Folgenden zur Aufgabe, diesen Prozess näher zu erforschen und gleichzeitig lehr- und lernbar zu machen. Hieraus entstand die Methode des Focusing. Maßgeblichen Einfluss hatte dabei neben dem engen Bezug zu Carl Rogers und dessen Personzentrierter Theorie auch Gendlins Studium der Philosophie, bei dem er sich intensiv mit der Strömung der Phänomenologie beschäftigte.

„Früh haben sich also in Gendlins Person und Leben philosophisches Denken und therapeutische Praxis gegenseitig gekreuzt und durchdrungen. Um diesen Prozess des Kreuzens von Denk- und Sprachformen mit der unmittelbaren Praxis geht es im Focusing […] Welcher Art ist die Wechselwirkung zwischen dem körperlichen Erleben der immer beziehungshaften Situation und den Formen des Denkens, Sprechens und Handelns? Oder, populär ausgedrückt: Wie vollzieht sich die Verbindung zwischen „Kopf“ und „Bauch“ (oder „Herz“)? An dieser Schnittstelle, an der sich Denken und Fühlen kreuzen, ist Focusing zu Hause.“ (Wiltschko im Vorwort zu Gendlin & Wiltschko, 2016, S. 7f.)

Grundlage des Focusing-Ansatzes wurde für Gendlin die von ihm entwickelte Philosophy of the Implicit und damit zusammenhängend das Konzept des Experiencing, das die Bedeutung von körperlichen Empfindungen bei innerpsychischen Prozessen und bei der Lösung von Problemen konkretisiert. Dabei war ihm wichtig, dass das experienzielle Konzept bzw. Focusing durch das Einbeziehen des sogenannten Felt Sense auch für andere, nicht explizit personzentriert oder experienziell ausgerichtete Therapieformen einen zusätzlichen Nutzen generieren kann.

War Focusing anfänglich noch als eine Art Pre-Therapy-Training gedacht, um Klientinnen zu ermöglichen, sich konstruktiv in den Therapieprozess einzubringen, wurde es für Gendlin bald ein Bedürfnis, seine Erfahrungen und sein Wissen über seelische Weiterentwicklung nicht nur einem Fachpublikum, sondern auch über den therapeutischen Rahmen hinaus allen Interessierten zur Verfügung zu stellen. Dies wurde für ihn zunehmend ein gesellschaftliches Anliegen. So wird heute ein Großteil seiner Studien und Artikel auf der Internetseite des Focusing Institute New York (www.focusing.org) kostenlos zur Verfügung gestellt. Als Problemlöse-Methode, die Denken und Fühlen systematisch in Beziehung bringt und das Unklare einer Situation körperlich erlebbar werden lässt, hat Focusing inzwischen in verschiedenen Lebensbereichen Einzug gehalten (Gendlin, 1998).

Im Blick auf Coaching und Supervision weisen einzelne Autorinnen zwar auf den Nutzen von Focusing bzw. von experienzieller Kommunikation hin (Feuerstein & Müller, 1998; Deloch & Feuerstein, 2013; Wahl, 2018), allerdings ist das Konzept im Coaching noch wenig verbreitet. Dies könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass Focusing als Methode eher die Anmutung eines therapeutischen oder selbsterfahrungsorientierten Settings hat, während Coachs sich im Kontext arbeitsweltlicher Beratung in der Regel von Therapie und Selbsterfahrung abgrenzen. Hinzu kommt, dass im Rahmen der Psychotherapieforschung zwar umfangreiche Erkenntnisse über Focusing und Experiencing gewonnen werden konnten, dass aber noch wenig spezifische Forschung darüber durchgeführt wurde, inwieweit diese Erkenntnisse auch für die Beratungsdienstleistung Coaching gelten.

Eine gewisse Unübersichtlichkeit entsteht auch, weil Gendlins Konzept und Methode mit unterschiedlichen, teilweise englischsprachigen und teilweise deutschsprachigen Begriffen beschrieben wird. Zwar sind die Begriffe Experiencing, Focusing und Felt Sense mittlerweile auch im deutschen Sprachgebrauch als Fachbegriffe eingeführt, sie bedürfen aber immer noch einer vertiefenden Erklärung. Zusätzlich sprechen manche deutschsprachigen Autorinnen auch vom experienziellen Konzept, von experienzieller Psychotherapie oder von der Theorie des Erlebens bzw. der erlebensbezogenen Methode. Die Vielfalt der Begriffe mag teilweise verwirren, und sicherlich ist sie auch der Schwierigkeit geschuldet, eine angemessene Übersetzung oder Umschreibung des Gendlin‘schen Konzepts zu finden. Gleichzeitig weist sie auf eine Unschärfe hin, die uns in den Ausführungen von Gendlin immer wieder begegnet: Wenn von Focusing die Rede ist, kann sowohl das theoretische Konzept gemeint sein als auch die konkrete methodische Herangehensweise.

Um bei der Verwendung der Begriffe etwas mehr Klarheit herzustellen, werde ich im Folgenden dann von Focusing sprechen, wenn die spezifische methodische Anwendung des von Gendlin entwickelten Konzepts im Vordergrund steht. Wenn es primär um das theoretische Konzept geht, werde ich die Begriffe erlebensbezogenes Konzept und experienzielles Konzept synonym verwenden, und als Oberbegriff, der sowohl das Konzept als auch das durch Focusing intendierte intrapersonale Prozessgeschehen einschließt, werde ich den Terminus Experiencing verwenden. Das entspricht auch dem englischen Original, in dem Experiencing sowohl für das Konzept an sich als auch für den zentralen inneren Prozess der Veränderung steht.

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Experiencing bezeichnet einen zentralen inneren Prozess, der durch eine Verbindung von Denken, Fühlen und körperlichem Erleben zustande kommt.

3.1 Personzentrierte Wurzeln

Dass das experienzielle Konzept eng mit personzentrierten Sichtweisen verbunden ist, ist sicherlich auch historisch durch die persönliche Verbindung zwischen Eugene Gendlin und Carl Rogers, dem Begründer des personzentrierten Ansatzes, zu verstehen. Zudem wurzelt das experienzielle Konzept in den gleichen humanistischen Menschenbildannahmen wie der personzentrierte Ansatz, der geprägt ist von einem tiefen Vertrauen in die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen und des Lebens. Rogers (2000; 2008) beschreibt dazu ein humanistisches Persönlichkeitskonzept, dessen wesentliches Element die Aktualisierungstendenz ist: die von Natur aus dem Menschen innewohnende Neigung, sich konstruktiv in Richtung Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit zu entwickeln. Impulse zur Entwicklung müssen also nicht primär von außen gesetzt werden, sondern entwachsen der Aktualisierungstendenz des Menschen. Vor diesem Hintergrund geht es bei Beratung und Therapie in erster Linie nicht darum,

„ein einzelnes Problem zu lösen, sondern dem Individuum zu helfen so zu wachsen, dass es mit gegenwärtigen und zukünftigen Problemen in irgendeiner Weise besser umgehen kann.“ (Hinz & Behr, 2002, S. 203)

Eine wesentliche Rolle spielen dabei das Erleben und das Selbstkonzept. Das Erleben bezieht sich auf die aktuelle inwendige Erfahrung, die eine Person macht, wenn sie sich mit einem Thema oder einem Problem beschäftigt. Um deutlich zu machen, dass diese inwendige Erfahrung den gesamten Organismus des Menschen betrifft, also umfassender ist als eine rein gedankliche Verarbeitung, ist oft auch vom organismischen Erleben die Rede. Teilweise verwendet Rogers (2000) hierfür auch den Begriff Experiencing. In der personzentrierten Theorie gehen wir davon aus, dass der Organismus über eine Art inneres Wertsystem verfügt, aufgrund dessen wir die äußeren Erfahrungen, die wir machen, einordnen und bewerten. Dieses Wertsystem wird auch als organismisches Wertsystem bezeichnet, und es bestimmt unser Erleben und Selbsterleben.

Das Selbstkonzept umfasst das generelle Bild, das eine Person von sich selbst hat. Es entwickelt sich auf der Grundlage der Erfahrungen, die sie mit sich und den Prägungen der Umwelt macht. Solange das Selbstkonzept im Einklang mit dem organismischen Erleben steht, ist die Person ohne inneren Konflikt, sie ist kongruent und kann sich weiter in Richtung Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit entwickeln. Tritt jedoch eine Diskrepanz zwischen dem Erleben des Organismus und dem bewussten Selbstkonzept auf, kommt es zur Inkongruenz, zu einem inneren Konflikt, der aber nicht unbedingt bewusst als solcher wahrgenommen werden muss. Dieser Konflikt beeinflusst die Wahrnehmung, behindert die Entfaltung des Organismus und führt zu psychischen und physischen Spannungen.

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Ziel des personzentrierten Prozesses ist es, das bewusste Selbstkonzept in möglichst großer Übereinstimmung mit dem Erleben des Organismus zu halten.

Im beraterischen oder therapeutischen Prozess gilt es für die Klientin deswegen, sich im Rahmen einer Selbstexploration des organismischen Erlebens und dessen kognitiven Bedeutungsinhalts gewahr zu werden, um eine Verbindung mit dem Selbstkonzept...

Erscheint lt. Verlag 17.1.2022
Reihe/Serie Personzentrierte Beratung & Therapie
Personzentrierte Beratung & Therapie
Mitarbeit Herausgeber (Serie): GwG - Gesellschaft für Personzentrierte
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Arbeits- und Organisationspsychologie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Beratung in der Arbeitswelt • Coaching • COACHINGDIALOG • Coaching Fallbeispiele • Emotionen • EMOTIONSARBEIT IM COACHING • EXPERIENZIELLE KOMMUNIKATION • EXPERIENZIELLE KONZEPTENTWICKLUNG • Fallbeispiele • Focusing • KOMPLEXE ARBEITSWELT • Komplexe Situationen • KÖPERARBEIT IM COACHING • Körper • körperliche Empfindungen • Personzentrierte Therapie • Psychologie • SUPERVERSION UND COACHING
ISBN-10 3-497-61565-X / 349761565X
ISBN-13 978-3-497-61565-0 / 9783497615650
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