Systemische Tanztherapie (eBook)

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2021 | 2. Auflage
366 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61531-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Systemische Tanztherapie -  Susanne Bender
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In der Systemischen Tanztherapie erfahren KlientInnen, wie sie selbstbestimmt handeln und Lebenskrisen besser bewältigen können. Die Systemische Aufstellung gerät in Bewegung, die Choreografie der Systeme kann neu gestaltet werden. Im Tanz entsteht ein neues Körpergefühl, neue Lebensschritte werden erprobt. Die Autorin verknüpft wichtige Theoriebausteine aus System- und Tanztherapie und zeigt, wie sie sich in der Therapiestunde umsetzen lassen. Wichtig ist die Rolle des Therapeuten, der sensibel auf den systemischen Kontext, individuelle Ressourcen und die Persönlichkeit der KlientInnen eingeht: Anschaulich werden Verhaltensweisen und Interventionen beschrieben, die im therapeutischen Prozess zum Erfolg führen.

Susanne Bender, Tanztherapeutin, M.A., Ausbilderin, Lehrtherapeutin, Supervisorin BTD (Berufsverband der TanztherapeutInnen Deutschlands), Sonderpädagogin, Familien- und Paartherapeutin und zur Zeit 1. Vorsitzende des BTD, arbeitet in privater Praxis. Sie leitet das Europäische Zentrum für Tanztherapie EZETTHERA mit berufsbegleitender Ausbildung in Systemischer Tanztherapie. Weitere Informationen unter <a href="http://www.tanztherapie-zentrum.eu/" target="_blank" class="blue">www.tanztherapie-zentrum.eu

Die systemische Therapie entwickelte sich genau wie die Tanztherapie aus einer Vielfalt theoretischer und praktischer Ansätze und Konzepte. In der Entstehungsgeschichte der systemischen Therapie spielten sehr unterschiedliche Konzepte aus der Kybernetik, Soziologie, Biologie und Erkenntnistheorie eine Rolle. In der Entstehung der Tanztherapie beeinflussten sowohl Erfahrungen und Kenntnisse aus dem Tanz als auch aus verschiedenen psychologischen Richtungen das Handeln und Denken der Pionierinnen. Im Folgenden sollen einige Kernkonzepte der heutigen systemischen Therapierichtung beschrieben werden und für die Tanztherapie nutzbar gemacht werden.

Die Systemtheorie ist eine rekursive Theorie, deren Begriffe und Annahmen allesamt aufeinander vor- und zurückverweisen, sodass sie sich in einem linearen Text schwer darstellen lässt. Daher habe ich mich dazu entschieden, die Begriffe der Systemtheorie einfach in alphabetischer Reihenfolge zu erklären. Zunächst gehe ich aber auf die historische Entwicklung systemischen Denkens ein.

3.1Überblick über die Geschichte der Familien- und Systemtheorie

Um die Systemische Tanztherapie zu verstehen, ist es notwendig, die Ursprünge der Systemtheorie in der Biologie und Physiologie zu erkennen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Systemtheorie mit dem Begriff der Kybernetik in die Soziologie übertragen. Die Kybernetik, zu Beginn ein Begriff aus der Physik, ist die „Wissenschaft von den belebten und unbelebten dynamischen Systemen, in denen Informationen verarbeitet werden und die zur Regelung oder Steuerung von Prozessen dienen“ (Wahrig, 1991, 420). Diese Forschungsrichtung geht davon aus, dass auch komplexe Prozesse vorhersehbar sind und damit eine Steuerung möglich ist. Es können Aussagen darüber getroffen werden, welche Strukturen, Grenzen und Hierarchien ein System hat. Mit diesen Begrifflichkeiten und Vorstellungen arbeiteten die ersten Familientherapien ab ca. 1950: die strukturelle (Minuchin, 1990, 1993) und die strategische (Haley, 2003; Selvini Palazzoli, 1988) Familientherapie. Die therapeutischen Interventionen zielten darauf ab, aus dem dysfunktionalen ein funktionales Familiensystem zu „zaubern“, was allerdings nicht gelang und dem systemischen Gedankengut widerspricht. Denn wenn ich etwas als „dysfunktional“ beschreibe, dann muss es eine normative Regelung für „funktional“ geben, womit sich der Therapeut nicht nur moralisch über die KlientInnen stellt, sondern sogar vorgibt zu wissen, wie Funktionalität herzustellen ist.

Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften, der Chemie und der Physik kamen der Weiterentwicklung der Familientherapien zugute. Die Erkenntnisse aus der Chaostheorie, der Synergetik und chemischer Prozesse, die eigenständig neue Strukturen bildeten, führten zur Kybernetik Zweiter Ordnung. Diese Weiterentwicklung des ersten Theorieansatzes löste den bisherigen Zentralbegriff der Homöostase (Selbstregulation in einen Gleichgewichtszustand) durch den Begriff der Selbstorganisation ab. Da ich aber den Begriff der Homöostase für die systemische Therapie nach wie vor für wichtig erachte, werde ich später genauer darauf eingehen. Systeme können selbstorganisiert neue Strukturen entwickeln, was für den Beobachter unvorhersehbare und nicht planbare Veränderungen des Systems zur Folge hat. Dies zwingt jede Therapeutin in eine Demut der Unplanbarkeit. Jede Tanztherapeutin kennt die Situation, dass sie sich aus einer gewissen Thematik und Stimmung für ein Musikstück entscheidet, dies heraussucht und einlegt. Wenn sie sich wieder der Gruppe zuwendet, hat sich die Gruppe bereits neu organisiert, und die Musik ist plötzlich völlig unpassend. Die Umwelt erscheint nun nicht mehr als interventionsmächtige Planungsinstanz. Somit können TherapeutInnen Systeme nur anstoßen, anregen, verstören und in Eigenschwingung versetzen. Die Idee, dass sie kontrollieren könnten, was im System passiert, wurde aufgegeben (Schlippe / Schweitzer, 2002).

Hinzu kam die Entwicklung einer philosophischen Erkenntnistheorie, dem radikalen Konstruktivismus. Den Kern dieser komplexen Theorie kann man damit zusammenfassen, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt, sondern dass diese erst vom Beobachtenden konstruiert und erschaffen wird. Bilder der Wirklichkeit sind damit nur Produkte unseres Gehirns. Dadurch ist es unmöglich, Aussagen über wahr oder falsch zu treffen, da es keine Wahrnehmung ohne subjektive Färbung gibt.

Seit Anfang der 1980er Jahre hatten die Kybernetik Zweiter Ordnung und der radikale Konstruktivismus großen Einfluss auf die Familientherapie und brachten neue Ansätze hervor: die systemisch-konstruktivistische Therapie (Boscolo et al., 1994; Stierlin, 1975, 1978), Reflecting Team (Andersen, 1990) und andere (Schlippe / Schweitzer, 2002).

Die Vielschichtigkeit der systemischen Therapie und der Familientherapie spiegelt sich bereits darin wider, dass es nicht einen Begründer gibt, sondern viele Personen, die die Theorie und die Praxis systemischen Arbeitens beeinflusst haben. Für die Entstehung der Tanztherapie gilt dasselbe. Daher eint diese beiden therapeutischen Vorgehensweisen eine Multioriginalität.

Die Forschungen, die zur Gründung der Familientherapie geführt haben, wurden in den 1950er Jahren durchgeführt. In dieser Zeit beeinflussten auch noch andere Theorien als nur der psychoanalytische Ansatz die psychotherapeutische „Szene“. Sigmund Freud (1856–1939) lieferte den grundlegenden Gedanken, dass menschliches Verhalten durch enge Beziehungen beeinflusst wird. Jedoch schloss seine Theorie der Übertragungsneurose die Behandlung von mehr als einer Person aus (Freud, 1924–1934). Alfred Andolfi (1870–1937) nahm zu dem psychoanalytischen Denken die Wichtigkeit der Umgebung und der sozialen Umstände mit hinzu. Einer seiner Schwerpunkte war die Bedeutung von Geschwistern. Dieser Ansatz hat die Familientherapie beeinflusst, aber erst in letzter Zeit findet die Bedeutung der Geschwister mehr Beachtung (Brisch, 2020). Harry Stack Sullivan (1882–1949) entwickelte eine Psychiatrietheorie, die auf interpersonellen Beziehungen beruht und in der kulturelle Einflüsse für psychische Erkrankungen verantwortlich gemacht werden. Seine Forschung in der Schizophrenie veränderte den Therapiefokus von einer innerpsychischen, biologischen Funktion zu einer interpersonalen, psychologischen (Sullivan, 1980). Don Jackson, einer der Begründer der Familientherapie, ist stark von Sullivan beeinflusst worden.

Die Initialzündung zum Übergang von der Familientherapie zur Systemischen Therapie ergab sich durch den Neurobiologen Humberto Maturana (*1928), der von 1954 bis 1960 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) arbeitete und anschließend nach Santiago ging. 1968 kam er zu Heinz von Foerster (1911–2002) nach Illinois und formulierte dort die operationelle Geschlossenheit des Nervensystems und die Autopoiese (Foerster, 1999, 2001; Foerster / Pörksen 1998; Maturana / Varela, 1982, 1987).

Psychotherapie wurde nicht mehr als kausale, problembezogene Intervention verstanden, sondern als Durchführung eines Dialogs, der sich für die Veränderung autonomer Individuen als am günstigen erweist. Zu diesen theoretischen Konzepten gesellten sich die Lösungsorientiertheit und die unspezifischen Interventionen von Steve de Shazer (1940–2005), das Transparenz gewährleistende Reflektierende Team des Norwegers Tom Andersen (1936–2007) und der narrative Ansatz.

An die Stelle von strukturalistischen Konzepten wie „dysfunktionales Muster“ oder „pathologische Kommunikation“ trat das kommunikationsbezogene Konzept des problemdeterminierten Systems. Mit Hilfe dieser Konzepte war man endlich in der Lage, auf Termini der gängigen Psychopathologie zu verzichten. Während in der Psychopathologie versucht wird, einen objektiven Befund zu erheben, um diesen anschließend mit einem objektiven Störungsbild zu vergleichen, geht man in einer systemischen Vorgehensweise davon aus, dass der Klient als Problemexperte besser als der Therapeut weiß, wie die Lösung für ein Problem aussehen kann. Die Expertenkompetenz des Therapeuten liegt im Denken von komplexen Zusammenhängen, im Ausscheren aus eingefahrenen Denkmustern, im Erkennen und Nutzen jeder Theorie als ein Konstrukt der Wirklichkeitsreduktion. Wenn man bedenkt, dass Marian Chace von der Tanztherapie als Tanz der Kommunikation spricht (Chaiklin, 1975), so zeigt sich hier deutlich, dass eine systemtheoretische Grundlage dem Grundgedanken der Tanztherapie sehr entspricht.

In der Theoriebildung gewann die Auseinandersetzung mit Phänomenen wie Sinn, Sprache, Dialog und somit auch mit Prozessen der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit zunehmend an Gewicht. Der Versuch, die Wahrheit durch umfassende Entwürfe mit universellem Anspruch abbilden zu können, weicht einer Vielfalt koexistierender Konzepte und Praxen.

Kernstück eines systemischen Therapieansatzes ist die Kommunikation. Mit verbaler und nonverbaler Sprache können wir unser Verhalten bewusst reflektieren. Verbale und nonverbale Sprache wird also zu einem therapeutischen Werkzeug.

Die Konzepte der Systemischen Therapie der Gründerjahre wurden von einzelnen Arbeitsgruppen und Instituten in weitgehender Unabhängigkeit voneinander entwickelt. So entstanden zum Teil recht unterschiedliche Ansätze, da eine konstruktivistisch verstehende systemische Therapie auf universellen Geltungsanspruch verzichtet und so die Entstehung einer Pluralität von Erklärungsansätzen und Handlungsentwürfen fördert. Noch reicht aber das Dach der Systemischen Therapie aus, um diese Orientierungen unter sich zu...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Familien- / Systemische Therapie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Familienaufstellung • Körperpsychotherapie • Systemische Therapie • Tanz • Tanztherapie
ISBN-10 3-497-61531-5 / 3497615315
ISBN-13 978-3-497-61531-5 / 9783497615315
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