Pssst...AINS-Secrets! (eBook)
240 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-243958-0 (ISBN)
1 Opioide
Lars Holzer, Martin Bergold, Daniel Gill-Schuster
Dr. T. freut sich, da er nach 6 Monaten heute Nacht seinen ersten Dienst hat. Hoffentlich wird der Tagdienst zunächst nicht so anstrengend. Pünktlich um 7:30 Uhr steht er in der Einleitung, um seinen ersten Patienten für eine Narkose in der Urologie zu betreuen. Anästhesiepfleger Felix hat schon alles für die Narkose vorbereitet.
„Ok, was für ein Eingriff wird denn als Erstes durchgeführt und welche Narkose machen wir dafür?“, fragt er Felix. „Der erste Eingriff ist der Wechsel einer Doppel-J-Schiene bei einer Harnleiterenge. Die Patientin ist 49 Jahre alt.“ Dr. T. sieht sich das Protokoll genauer an: Die Patientin ist 160 cm groß und wiegt 80 kg. Als Vorerkrankungen bestehen eine arterielle Hypertonie, ein Diabetes mellitus Typ 2 und eine bekannte Epilepsie.
Felix zeigt auf die Medikamente. Ordentlich aneinandergereiht liegen dort Fentanyl, Propofol und Mivacurium, daneben in einer Perfusorspritze Propofol und Remifentanil. Na gut! Die Patientin kann kommen.
Einleitung
Um 1804 isolierte der deutsche Chemiker und Apotheker Sertürner das Opiat Morphin aus dem eingetrockneten Milchsaft der Früchte des Schlafmohns Papaver somniferum. Als Opiate werden die natürlich vorkommenden Opiumalkaloide bezeichnet. Als Opioide werden dagegen alle Substanzen zusammengefasst, die an die bekannten Opioidrezeptoren binden. Das sind die Opiumalkaloide, die teil- oder vollsynthetisierten Opioidsubstanzen und auch die im Körper vorkommenden Opioidpeptide.
Fentanyl wurde erst 1959 durch P. Janssen synthetisiert. Es ist das erste potente 4-Anilinopiperidin. Schon eine Plasmakonzentration zwischen 1–3 ng/ml induziert eine analgetische und atemdepressorische Wirkung und bei über 20 ng/ml tritt ein Bewusstseinsverlust ein ▶ [298]. Fentanyl ist stark lipophil und kann in allen möglichen parenteralen Applikationsformen verabreicht werden. Epidurale Gaben von Fentanyl sind nicht erlaubt.
Die Synthetisierung von Sufentanil erfolgte 1974 als Thiamyl-Derivat des Fentanyls. Es hat eine 5- bis 10-fach stärkere Wirkung als Fentanyl. Eine Plasmakonzentration von 0,5–2,5 ng/ml wirkt analgetisch und atemdepressiv. Bei mehr als 5 ng/ml erfolgt eine langsame Bewusstseinseintrübung ▶ [298]. Bei hoher Lipidlöslichkeit wird die Blut-Hirn-Schranke schnell passiert. Sufentanil ist für eine epidurale Gabe zugelassen.
Remifentanil gehört zu den Phenylpiperidin-Derivaten mit einer labilen Methylpropanoatester-Bindung ▶ [298] und den Eigenschaften eines vollen μ-Rezeptoragonisten. Die extrem kurze Wirkdauer erklärt sich aus der nach Injektion sofort einsetzenden Metabolisierung durch unspezifische Plasma- und Gewebsesterasen. Damit hat es eine sehr gute Steuerbarkeit und macht eine kontinuierliche Applikation nötig. Es kumuliert auch bei hochdosierter Gabe nicht und setzt kein Histamin frei. Wichtige Punkte sind die emetische, bradykarde und blutdrucksenkende Wirkung. Vorsichtig muss man v.a. bei der schnellen i.v. Gabe sein, da hier eine Thoraxrigidität ausgelöst werden kann, die in einem erhöhten Atemwegswiderstand enden kann. Man sollte deshalb bei der Narkoseeinleitung auf Boligaben verzichten.
Im Einleitungsraum klingelt das Telefon. Felix nimmt ab und legt ein paar Sekunden später wieder auf. Er sagt: „Oberarzt Dr. M. kommt gleich dazu.“ „Oh nein“, denkt Dr. T. „Der Oberarzt stellt mir immer so viele Fragen.“ Sein Blick fällt auf die Medikamente, die immer eine gute Möglichkeit für Nachfragen sind.
Wirkmechanismus
Opioidrezeptoren gehören zur Gruppe der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren. Man unterscheidet die Untereinheiten µ, δ und κ. Das N-terminale Ende ist extrazellulär, das C-terminale Ende intrazellulär lokalisiert und dazwischen liegen 7 transmembranöse hydrophobe Domänen ▶ [480].
Bindet der Agonist an den Rezeptor, erfolgt eine Aktivierung und Spaltung eines G-Proteinkomplexes. Damit kommt es zu einem Abfall der intrazellulären cAMP-Konzentration und einem Einstrom von Ca2+. In der Folge wird die Zellmembran durch die Aktivierung spezifischer K+-Kanäle hyperpolarisiert ▶ [110]. Diese Veränderung führt zur Inhibition der neuronalen Schmerzerregung und -fortleitung.
Im Körper unterscheidet man zwischen zentralen und peripheren Opioidrezeptoren. Die zentralen Rezeptoren findet man im Kortex, Thalamus, Hypothalamus, limbischen System und im Hirnstamm sowie im Rückenmark, vorwiegend im Hinterhorn, wo eine Umschaltung der peripheren Neurone auf die Zentrale stattfindet. Die Rezeptoren sind zu ⅔ auf den prä- und zu ⅓ auf den postsynaptischen Neuronen verteilt ( ▶ [1], ▶ [189]). Damit ist auch die klinische Anwendung und Wirkung von Opioiden in der Spinal- oder Epiduralanästhesie erklärt.
Die peripheren Rezeptoren werden in den Zellkörpern der sensorischen Neurone synthetisiert und an das periphere Nervenende transportiert. Liegen in den Bereichen der Nervenenden pathologische Gegebenheiten vor (Entzündung), nimmt der Transport zu. Dieser Mechanismus könnte dafür verantwortlich sein, dass eine lokale Gabe von Opioiden eine gute Wirkung entfaltet ohne zentrale Nebenwirkungen wie Sedierung, Atemdepressionen, Euphorie und Abhängigkeit hervorzurufen ▶ [280].
Wie angekündigt, betritt der OA kurze Zeit später den Einleitungsraum. Im Schlepptau hat er eine gut aussehende Studentin im Praktischen Jahr. „Guten Morgen Dr. T. Wie geht es Ihnen heute? Warum haben Sie denn schon das Fentanyl in der Hand? Es ist ja noch kein Patient da! Sie wollen das gute Zeug doch nicht etwa an sich selbst ausprobieren?“ Dr. T. schaut etwas verdutzt. Das war jetzt keine Frage, die er erwartet hat. „Frau Kollegin“, der OA wendet sich an die Studentin, „können Sie mir verraten, was alles mit Dr. T. passieren würde, wenn er sich das Opioid Fentanyl i.v. verabreichen würde?“ Na, der OA war am Morgen mal wieder gut drauf.
i.v. Gabe und Wirkung
In der Anästhesie gilt die i.v. Gabe als die häufigste Anwendung, da sie am zuverlässigsten wirkt und eine ausreichende Plasmakonzentration am schnellsten aufgebaut wird. Man unterscheidet 2 Halbwertszeiten:
-
α-Halbwertszeit: steiler Anstieg der Plasmakonzentration nach i.v. Gabe und Abfall entsprechend der Verteilungsphase.
-
β-Halbwertszeit: es entsteht ein steady state zwischen schlecht perfundiertem Gewebe und Plasma und die Plasmakonzentration fällt in Abhängigkeit von der Elimination ab.
Das Zielorgan der Opioide ist das ZNS. Je nach Lipophilie, Ionisierungsgrad und der freien Plasmafraktion penetriert das Opioid schneller oder langsamer durch die Blut-Hirn-Schranke. Bei Fentanyl liegt eine Blut-Hirn-Äquilibration bereits nach 5–6 min vor ▶ [472].
Durch den Abbau der Substanzen entstehen aktive und inaktive Metabolite, die kürzer oder länger im Plasma verweilen. Deshalb muss nach repetitiver Applikation oder kontinuierlicher Gabe auf eine Akkumulation geachtet werden.
Der OA nickt. „Aber da gibt es noch eine weitere Halbwertszeit.“ Die PJ-Studentin denkt nach, kommt aber nicht darauf. Der OA schaut Dr. T. an. Etwas, das er weiß! „Die kontextsensitive Halbwertszeit“, sagt er.
Kontextsensitive Halbwertszeit
Bei der kontextsensitiven Halbwertszeit handelt es sich um die Zeitdauer, die benötigt wird, um die Plasmakonzentration eines Wirkstoffes nach einer bestimmten Infusionsdauer mit konstantem Plasmaspiegel auf die Hälfte zu reduzieren.
Bei Fentanyl besteht bei repetitiver Gabe die Gefahr der Akkumulation. Die kontextsensitive Halbwertszeit nimmt deshalb v. a. bei kontinuierlicher Gabe stetig zu. Dagegen hat Sufentanil aufgrund der hohen Plasmaeiweiß-Bindung, geringer Gewebssequestrierung und der hohen hepatischen Extraktionsrate bei kontinuierlicher Infusion eine geringere kontextsensitive Halbwertszeit als Fentanyl.
Remifentanil hat eine ultrakurze kontextsensitive Halbwertszeit, die auch nach mehrstündiger Applikation linearstabil bleibt.
„Und warum ist die kontextsensitive Halbwertszeit bei Fentanyl und Sufentanil so verlängert?“, fragt der OA.
Kontextsensitive Halbwertszeit von Fentanyl und Sufentanil
Fentanyl und Sufentanil besitzen ein großes Verteilungsvolumen. Das bedeutet, dass sie zunächst in den peripheren Kompartimenten wie Fettgewebe und Muskulatur sequestriert werden. Sie entziehen sich somit der Biotransformation durch die Leber und die Eliminationshalbwertszeit wird verlängert. Da Remifentanil durch unspezifische Plasma- und Gewebstransferasen metabolisiert wird, hat es das kleinste Verteilungsvolumen, die höchste Clearance und die kürzeste Eliminationshalbwertszeit.
Eine Leberinsuffizienz führt wegen der reduzierten Glucuronidierung und eine...
Erscheint lt. Verlag | 13.1.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete |
Schlagworte | AINS • Anästhesie • Anästhesiologie • CIRS • Critical Incident Reporting System • Fallbuch AINS • Fehlermanagement • Intensivmedizin • Kasuistik • Notfallmedizin • Schmerzmedizin • Schmerztherapie |
ISBN-10 | 3-13-243958-4 / 3132439584 |
ISBN-13 | 978-3-13-243958-0 / 9783132439580 |
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Größe: 5,1 MB
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