Die gestresste Seele (eBook)
264 Seiten
Scorpio Verlag
978-3-95803-334-4 (ISBN)
Prof. Dr. med. Gustav Dobos ist einer der Wegbereiter der wissenschaftsbasierten Naturheilkunde in Deutschland. Über 20 Jahre leitete er die Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte. Heute führt er das neue Zentrum für Naturheilkunde und Integrative Medizin an der Universität Duisburg-Essen.
Prof. Dr. med. Gustav Dobos ist einer der Wegbereiter der wissenschaftsbasierten Naturheilkunde in Deutschland. Über 20 Jahre leitete er die Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte. Heute führt er das neue Zentrum für Naturheilkunde und Integrative Medizin an der Universität Duisburg-Essen.
1. Das Netz der Körpererinnerung
Am Anfang waren die Gefühle. Sie erst verwandeln unseren Körper aus biologischen Maschinen in reaktions- und anpassungsfähige Organismen. Wie sehr Gefühle mit dem Menschsein verbunden sind, zeigen Schöpfungsmythen, zum Beispiel der indische. Danach entsteht aus der Meditation des Urgottes Brahma heraus plötzlich eine Morgendämmerung – und er und die zehn Urväter, die er geschaffen hat, beginnen zu fühlen. »Du wirst die dauernde Schöpfung in Gang halten«, befiehlt Brahma dem Gott der Lebenslust, den er als Nächstes erschafft. Die moderne Biologie kann diese existenzielle Rolle der Gefühle nur bestätigen. Lange bevor unser Gehirn ganz ausgebildet ist, geschweige denn, wir denken können, haben wir bereits intensive Empfindungen. Diese Phase beginnt bereits im Mutterleib, ungefähr im Alter von 32 Wochen. Die meiste Zeit seines noch sehr jungen Lebens schläft der Fötus – manchmal fällt er in Tiefschlaf, oft aber weist er auch REM-Phasen auf, wie wir sie auch von Erwachsenen kennen. Dann zucken die Augen hinter den geschlossenen Lidern, und viele Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass er träumt – von den vielen Eindrücken, die er im Bauch seiner Mutter erlebt hat: dem Pulsschlag ihres Herzens, dem Gurgeln ihres Darms oder auch lauten Geräuschen um sie beide herum. Da kann es schon vorkommen, dass er beim Zuschlagen einer Tür erschrickt und reflexhaft in den Bauchraum der Mutter tritt.
Erste Bauchgefühle
In dieser frühen pränatalen Lebensphase entstehen bereits Urgefühle wie Furcht oder Freude, die in der Amygdala verankert sind, dem tief im Gehirn verborgenen »Mandelkern«, der entwicklungsgeschichtlich einer der ältesten Teile unseres Nervenzentrums ist. Er ist zentral für Nahrungsaufnahme, Geschlechtstrieb und das Überleben in der Auseinandersetzung mit Feinden.
Gleichzeitig speichert der Fötus bereits Empfindungen, auch wenn er sich noch nicht bewusst erinnern kann, und lernt dabei. Babys entspannen sich zum Beispiel beim Vorlesen, wenn es dabei um eine ganz bestimmte Geschichte geht, die sie auch schon im Bauch der Mutter gehört haben. Ihr Herzschlag verlangsamt sich dann. Auf fremde Stimmen hingegen, die sie noch nicht kennen, reagieren sie wachsam und weniger entspannt.
Auch Temperament und Verhalten werden bereits in der frühen vorgeburtlichen Phase geprägt. Janet DiPietro von der Johns Hopkins University in Baltimore hat sich mit pränatalen Persönlichkeitsmerkmalen beschäftigt. Das Leben der Mutter, zeigen ihre Studien, spielt dabei eine wichtige Rolle. Je nachdem, wie viel die Mutter schläft, ob sie angesichts der Schwangerschaft Freude oder Angst empfindet, aufgeregt oder gelassen ist, wird der Fötus über den gemeinsamen Blutkreislauf von Hormonen überschwemmt, die mit darüber entscheiden, wie schnell erregbar bzw. stressempfindlich er nach der Geburt sein wird. Diese Art von Einflüssen – Stress und Ernährung, aber auch Umweltgifte – spielt für die Entwicklung des Nervensystems und damit auch der Intelligenz möglicherweise eine wichtigere Rolle als die Genetik.
Lernen durch Spüren
Ganz am Anfang unseres Bewusstseins steht also das sinnliche Wahrnehmen, wenn wir sehen, hören, tasten oder schmecken. Diese audiovisuellen, taktilen oder auch viszeralen, aus dem eigenen Bauchraum vermittelten Reize – noch im Leib der Mutter – sind die Basis dessen, was wir Menschen als Gefühle empfinden.
In frühen Stufen der Evolution waren diese Zustände dem Organismus, der sie erzeugte, natürlich noch nicht bewusst. Die Wahrnehmungen erfüllten rein regulatorische Funktionen. Sie riefen Handlungen hervor – zum Beispiel, wenn ein Einzeller sich Richtung Licht bewegte oder eine Qualle der Nahrung folgte.
Auch wenn das noch kein Bewusstsein ist, so ermöglichten diese Wahrnehmungen im Nervennetz bereits einfache Formen des Lernens, wie Nobelpreisträger Eric Kandel an der Aplysia, einer Meeresschnecke, zeigen konnte. Je öfter man sie berührt, desto seltener reagiert sie mit einem Rückzugsreflex: Die Schnecke gewöhnt sich an den Reiz, sie »habituiert« sich. Praktisch heißt das, dass weniger Kalzium in die Nervenzelle einströmt und als Folge weniger Botenstoffe ausgeschüttet werden. Ganz ähnlich automatisieren sich auch bei uns Verhaltensweisen oder Handlungen, zum Beispiel beim Fahrradfahren, wenn wir das Gleichgewicht halten. Wichtig ist: Wir lernen durch Spüren, indem Nerven entweder gehemmt oder aktiviert werden.
Nicht zufällig können wir mit dem Verb »fühlen« sowohl den Tasteindruck beschreiben – zum Beispiel von Härte – als auch den emotionalen Zustand, zum Beispiel einer harten Kindheit. Trotzdem ist es wichtig, wenn wir die Rolle von Gefühlen in unserem Leben besser verstehen wollen, immer wieder präzise zu trennen – zwischen der sinnlichen Wahrnehmung der dafür bestimmten Nervenzellen und dem, was unser Gehirn auf einer anderen Ebene daraus macht. Denn das spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie wir unseren Gefühlshaushalt regulieren können, um unsere Gesundheit zu stärken.
Der portugiesische Neurowissenschaftler António Damásio, der an der University of Southern California forscht, unterscheidet deshalb zwischen »emotions«, den sinnlichen Wahrnehmungen, die im Körper als Nervenmatrix abgespeichert werden (wie bei der Aplysia). Diese bildet eine Art biografische Landkarte. Die andere Ebene sind die »feelings«, die im Gehirn verarbeitet werden – entweder als Erinnerung abgelegt oder in andere Areale des Gehirns verdrängt. Sie sind dann nicht mehr in unserem Bewusstsein, aber keinesfalls verschwunden. Diese »feelings« können, wie wir sehen werden, großen Einfluss auf unser Wohlbefinden, auf Krankheit und Gesundheit haben. Gleichzeitig macht es die enge Verbindung zwischen Körperempfindungen und Gehirn, betonte der französische Psychiater David Servan-Schreiber, leichter, über den Körper auf Gefühle einzuwirken als über die Sprache.
Dynamisches Gleichgewicht
Damásio ist es zu verdanken, dass in den Neuro- und Kognitionswissenschaften der Körper wieder stärker in den Vordergrund gerückt ist, denn er bestreitet, dass das Gehirn allein unsere individuelle Identität ausmacht. Dabei unterzieht er auch das Konzept des biologischen Gleichgewichts, nach dem Organismen streben, einer kritischen Revision. »Homöostase« bezeichnet die koordinierten und weitgehend automatischen Reaktionen, die den Körper in einem stabilen Zustand halten – zum Beispiel durch die Regulation von Temperatur, Sauerstoffgehalt im Blut und pH-Wert. Häufig werden die Prozesse, die zur Homöostase führen, relativ mechanisch beschrieben, ähnlich einem Thermostat, der ein Regelsystem beeinflusst. Damásio verweist jedoch immer wieder auf die enge und dynamische Vernetzung von Hormon-, Immun- und Nervensystem und betont die wichtige Rolle, welche die »emotions« und »feelings« dabei als Einflussfaktoren spielen.
Komplexe Organismen wie der Mensch, führt Damásio aus, leben in komplexen Umwelten, und sie benötigen deshalb umfangreiche Wissensrepertoires, um sich für unterschiedliche Handlungsoptionen entscheiden zu können. Das verleiht ihnen die Fähigkeit, vorauszuplanen, nachteiligen Situationen auszuweichen und aus positiven Umständen Nutzen zu ziehen. Das Streben nach Homöostase, so Damásio, existiert schon bei den einfachsten Lebewesen, aber erst ein komplexeres Nervensystem ermöglicht »feelings«, also ein spezielles Abbild unserer Körpereindrücke und Erfahrungen in unserem Gehirn. Das hilft uns nicht nur, mit (äußeren) Handlungen auf Herausforderungen unserer Umwelt zu reagieren, sondern auch, (innere) Vorstellungen zu aktivieren, die uns helfen können, als Reaktion auf Gefühle Problemlösungen zu entwickeln – uns allerdings auch, wie wir später sehen werden, belasten können.
»Emotions« sind nach außen gerichtet und öffentlich, wir zucken bei einer Berührung sichtbar zusammen, wenn wir erschrecken, oder wir werden rot, wenn wir uns schämen. »Feelings« sind hingegen nach innen gerichtet und sehr persönlich. Sie können unbewusst ablaufen oder aber auch in unser Bewusstsein dringen. Unser Innenleben ist also viel komplizierter als ein bloßes Nervennetz, das auf Reize reagiert.
Signale aus dem Selbst
Zwei anatomische und funktionelle Anordnungen dienen dazu, komplexe Organismen wie uns zu steuern: Da sind die Kerngebiete des Hirnstamms, des Hypothalamus und des basalen Vorderhirns, wo Botenstoffe ausgeschüttet werden, die Aufgaben im Organismus erfüllen. Und es gibt Informationsstrukturen, die diese Regionen fortlaufend mit Signalen aus allen Teilen des Organismus versorgen – Nervennetze als »Verkehrswege« der Informationen und auch die chemischen...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2020 |
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Co-Autor | Petra Thorbrietz Dr. |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Naturheilkunde |
Schlagworte | Angst • Emotionen • Gefühle • Gefühle und Gesundheit • körperliches Wohlbefinden • Körperliche Symptome • Naturmedizin • Schulmedizin und Naturheilkunde • Wut |
ISBN-10 | 3-95803-334-2 / 3958033342 |
ISBN-13 | 978-3-95803-334-4 / 9783958033344 |
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