Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung (eBook)

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2020 | 4. Auflage
237 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61368-7 (ISBN)

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Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung -  Corinna Scherwath,  Sibylle Friedrich
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Lange wurde das Thema 'Traumatisierung' in sozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern ausgeklammert und zum psychologisch-therapeutischen Hoheitsgebiet erklärt. Erkenntnisse aus der Trauma-, Hirn- und Bindungsforschung verdeutlichen die Notwendigkeit eines neuen traumaspezifischen Fallverstehens. SozialpädagogInnen und andere pädagogische Fachkräfte können stabilisierend und ressourcenorientiert mit traumatisierten Menschen arbeiten, die extrem belastende oder bedrohliche Situationen durchlebt haben, wie z.B. Gewalterfahrungen, Verletzungen, Verlust, Flucht. Neben Grundlagen zu Symptomen, Risiko- und Schutzfaktoren, Handlungsleitlinien, Methoden und Tipps zum Verhalten in konkreten Situationen gibt es auch Anregungen zum Thema Selbstschutz für HelferInnen.

Corinna Scherwath, Dipl.-Sozialpädagogin, Kinder/Jugendsozialtherapeutin, Fachberaterin für Psychotraumatologie und Traumapädagogik, freiberuflich als Fortbildnerin tätig, leitet das Institut für verstehensorientierte Pädagogik (IversoPaed) in Hamburg: <a href="http://www.verstehensorientierte-paedagogik.de" target="_blank" class="blue">www.verstehensorientierte-paedagogik.de Dr. Sibylle Friedrich, Dipl.-Psych., freiberufliche Dozentin und Moderatorin im Schul- und Sozialbereich in Hamburg und Norddeutschland sowie psychologische Beraterin in eigener Praxis.

Corinna Scherwath, Dipl.-Sozialpädagogin, Kinder/Jugendsozialtherapeutin, Fachberaterin für Psychotraumatologie und Traumapädagogik, freiberuflich als Fortbildnerin tätig, leitet das Institut für verstehensorientierte Pädagogik (IversoPaed) in Hamburg: <a href="http://www.verstehensorientierte-paedagogik.de" target="_blank" class="blue">www.verstehensorientierte-paedagogik.de Dr. Sibylle Friedrich, Dipl.-Psych., freiberufliche Dozentin und Moderatorin im Schul- und Sozialbereich in Hamburg und Norddeutschland sowie psychologische Beraterin in eigener Praxis.

1 Was ist ein Trauma?

Nicht nur in der gegenwärtigen Fachsprache der Pädagogik und Psychologie ist Trauma ein zunehmend häufig verwendeter Begriff. Auch alltagssprachlich wird er oft inflationär genutzt. Sätze wie „Die Mathearbeit gestern war voll das Trauma!“ oder „Unser letzter Urlaub war wirklich traumatisch!“ werden zum Ausdruck gebracht, um dem Gegenüber die Dramatik oder Schwere einer Situation zu verdeutlichen. Hierbei handelt es sich jedoch normalerweise um Situationen, die vom Erzählenden zwar als besonders konflikthaft, ärgerlich oder belastend wahrgenommen wurden, jedoch weder im Ereignis noch in seinen Folgen dem fachlichen Verständnis des Traumabegriffs entsprechen. Problematisch bei dieser umgangssprachlichen Begriffsverwendung ist gerade aus Sicht traumatisierter Menschen die Bagatellisierung dessen, was in ihrem eigenen Leben in höchstem Maße zu Zerrüttung mit häufig langfristigen bis lebenslangen Folgen geführt hat.

Ursprünglich kommt der Traumabegriff aus dem Altgriechischen und bedeutet Verletzung oder Wunde. Während sich diese Verwundung im medizinischen Feld zunächst auf eine Schädigung des Körpers bezieht, bezeichnet sie in der Psychologie die Verletzung der menschlichen Psyche, das sogenannte Psychotrauma.

Im klinischen Kontext wird das Traumaverständnis erst einmal über das ICD 10 (WHO/Internationale Klassifikation von Krankheiten) und das im Mai 2019 verabschiedete DSM-V (US-amerikanisches – international genutztes – diagnostisches Handbuch für psychische Krankheiten) definiert.

So versteht das ICD 10 Trauma als „ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaßes (kurz oder langhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (WHO 2000, 169). Auffällig ist, dass in dieser Definition Trauma ausschließlich auf das Ereignis bezogen wird, während die Begriffsbestimmung des Traumas als Wunde ursprünglich deutlicher auf die Bedeutung und Folgen für den Betroffenen hinweist. Entsprechend wird diese der Diagnostik zugrunde gelegte Definition in der modernen Traumaliteratur zwar als leitend aufgegriffen, aber entlang jeweils aktueller Forschungen und Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychotraumatologie von führenden FachkollegInnen erweitert und modifiziert. Im weiteren Verlauf des Buches beziehen wir uns deshalb vor allem auf die nachfolgenden definitorischen Aspekte.

Der Psychiater und Traumaexperte Lutz Besser bezeichnet Traumata als plötzliche oder langanhaltende oder auch sich wiederholende objektiv und subjektiv existenziell bedrohliche und auswegslose Ereignisse, bei denen Menschen in die Schutzlosigkeit der ‚Traumatischen Zange‘ geraten (Besser 2019). Diese Definition verdeutlicht, dass ein Trauma sich aus der Korrelation objektiver Faktoren und subjektiver Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsaspekte zusammensetzt. Mit einer deutlichen Akzentuierung auf die traumatische Erfahrung erläutern Fischer und Riedesser in ihrem Lehrbuch der Psychotraumatologie das psychische Trauma als „vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (Fischer / Riedesser 2009, 84).

In Abgrenzung zu schweren oder belastenden Lebensereignissen kann eine traumatische Situation von dem betroffenen Menschen hiernach nicht mehr im Rahmen seiner üblichen Anpassungs- und Bewältigungsstrategien gelöst werden, sondern stellt für ihn ein Ereignis oder eine (Lebens)situation dar, die – von absoluter Unabsehbarkeit, Heftigkeit und Ausweglosigkeit geprägt – das übliche Selbstwirksamkeits- und Verarbeitungsvermögen außer Kraft setzt. Der menschliche Organismus hat in diesen Situationen nur die Wahl, auf diejenigen genetisch determinierten Notprogramme umzuschalten, die dem Überleben dienen. Das Auslösen und Aktivieren dieser Notprogramme bleibt jedoch häufig nicht ohne Folge und führt zu langfristigen Störungen in der neuronalen Hirnstruktur. Gerald Hüther, einer der führenden deutschen Hirnforscher, definiert Trauma entsprechend als

„eine plötzlich auftretende Störung der inneren Struktur und Organisation des Gehirns, die so massiv ist, dass es in Folge dieser Störung zu nachhaltigen Veränderungen der von dieser Person bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten neuronalen Verschaltung und der von diesen Verschaltungen ausgehenden und gesteuerten Leistungen des Gehirns kommt. Eine solche Traumatisierung kann durch physische oder psychische (psychosoziale) Einwirkungen ausgelöst werden“ (Hüther 2012, 29).

Diese Erkenntnisse der neuen Hirnforschung heben die hirnorganische Bedeutung des Themas hervor und verdeutlichen, dass ein biografisch erlebtes Trauma nicht einfach vorbei geht, sondern neuronal verankert in uns liegt und so seine Spuren tief und weit in der Persönlichkeitsentwicklung hinterlässt.

1.1 Psychobiologische Reaktionen auf ein Trauma

Die traumatische Zange

Das Spezifische an einem traumatischen Ereignis oder einer traumatischen Situation ist also, dass die normalen psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten, die ein Mensch bis hierher für sich erworben hat, vollständig überstiegen werden. Bettina Bonus bezeichnet ein Trauma entsprechend als ein „Erlebnis, das größer ist als man selbst“ (Bonus 2006, 33). Um mit dieser Größenordnung äußerer Bedingungen fertig zu werden, muss das Gehirn andere Wege gehen, um zur Bewältigung der Situation beizutragen. Bewertet das Gehirn also eine Situation als übermächtig und existenziell bedrohlich, verändert es sofort sein neurophysiologisches Gleichgewicht. Herzfrequenz, Atemfrequenz und Muskeltonus werden erhöht oder verändert und es kommt zu einer verstärkten Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin und Cortisol. Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin sorgen dafür, dass die notwendige Körperspannung und Beweglichkeit für Flucht- oder Kampfhandlungen aufgebaut wird. Das Cortisol steigert das Angstempfinden und lässt den Organismus hochwachsam reagieren (Uttendörfer 2009). Gleichermaßen werden Funktionen der Großhirnrinde (Frontalhirn, Sprachzentrum, Hippocampus), die normalerweise unser Denken und Handeln steuern und ordnen, außer Betrieb gesetzt und alle Energie des Organismus bereitgestellt, die im Hirnstamm angesiedelten Notfallprogramme zu aktivieren. Die Amygdala, das Angstzentrum des Organismus, schlägt Alarm und sorgt so für die Auslösung der archaisch angelegten Überlebensprogramme:

Flüchten – der Situation entkommen können – oder

Kämpfen – sie aus eigener Kraft heraus durch Gegenwehr abwehren zu können.

Gelingt dies und kann dadurch zur Bewältigung der Situation beigetragen werden, kann im Normalfall eine Traumatisierung verhindert werden. Können diese Handlungsoptionen jedoch nicht zur Lösung der Situation genutzt werden, gerät der betroffene Mensch in die sogenannte traumatische Zange (Huber 2009). Die reflexartig aufgerufenen Handlungsimpulse bleiben im Ansatz stecken und können nicht vollzogen werden. Es entsteht die ein Trauma kennzeichnende Situation – No flight, no fight – die jetzt diejenigen Maßnahmen des Gehirns aufruft, die notwendig sind, um in der aktuellen Situation psychisch überleben zu können, jedoch zugleich die Grundlage vielfältiger traumabasierter Symptombildung darstellen.

Wenn es also innerhalb der traumatischen Situation nicht gelingt, durch reales Handeln der Situation zu entkommen, kann das Gehirn dieses Entkommen nur durch eine Veränderung seiner Wahrnehmungsleistungen herstellen. Dieses geschieht zunächst durch die sogenannte Freeze-Reaktion. Freeze bedeutet einfrieren und kann als eine Art Lähmung verstanden werden, die bewirkt, dass der Mensch sich vom Geschehen innerlich distanzieren kann und in den Zustand einer Unterwerfungsreaktion (Submission) wechselt. Ausgelöst durch eine Flut von Endorphinen sind Gefühle und Körperzustände im Freeze-Zustand wie betäubt (Huber 2009). Dissoziative Phänomene wie Derealisation (die Umgebung wird als fremd und unwirklich wahrgenommen) und Depersonalisation (die eigene Person oder den eigenen Körper nicht spüren und sich unbeteiligt fühlen) werden ausgelöst (Huber 2009). Während dieses Prozesses werden die einzelnen Wahrnehmungsdetails (sensorisches, emotionales, körperliches, kognitives Erleben) fragmentiert und die

„räumlich-zeitliche Einordnung (Hippocampus) und die assoziativen Fähigkeiten des Bewusstseins (Frontalhirnfunktionen), die normalerweise den sensorischen Input zu einem zusammenhängenden Erlebnis und einer später abrufbaren Erinnerung verknüpfen, außer Kraft gesetzt“ (Hüther et al. 2010, 22).

Lutz Besser vergleicht diesen fragmentarischen Speicherungsprozess mit der Zersplitterung eines Spiegels, dessen Einzelteile unverbunden im Gedächtnis abgelegt werden (Besser 2013). In dem bekannten Werk ‚Das Attentat‘ beschreibt Harry Mulisch in eindrucksvoller Weise diesen Fragmentierungsprozess aus der Perspektive des kleinen Antons, als dieser miterleben muss, wie seine Familie gewaltvoll von Nazioffizieren bedroht wird:

„Anton sah und hörte alles, war aber irgendwie abwesend, ein Teil von ihm war...

Erscheint lt. Verlag 13.7.2020
Zusatzinfo 5 Abb. 7 Tab.
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Sozialpsychologie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
Schlagworte Flucht • Gewalterfahrungen • Psychotraumatologie • Soziale Arbeit • Trauma • Traumaarbeit • Traumapädagogik • Traumatisierung • Verlust
ISBN-10 3-497-61368-1 / 3497613681
ISBN-13 978-3-497-61368-7 / 9783497613687
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