Musiktherapie (eBook)
178 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61067-9 (ISBN)
Prof. Dr. Susanne Bauer leitet den Masterstudiengang Musik-therapie an der Universität der Künste Berlin und ist in der Gruppen- und Einzelmusiktherapie an der Wiegmann Klinik für Psychogene Störungen, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie tätig.
Prof. Dr. Susanne Bauer leitet den Masterstudiengang Musik-therapie an der Universität der Künste Berlin und ist in der Gruppen- und Einzelmusiktherapie an der Wiegmann Klinik für Psychogene Störungen, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie tätig.
Musik bewegt. Sie beeinflusst den Menschen und bewirkt Veränderungen auf physiologischer, sozio-emotionaler und mental-kognitiver Ebene: Physiologische Einwirkungen haben Tonhöhe (hoch bis tief), Rhythmus (regelmäßig bis unregelmäßig), Dynamik (leise bis laut) und Tempo (langsam bis schnell), sie können vegetative, endokrine und hormonelle Veränderungen hervorrufen. Affektive Erregungszustände werden durch rhythmisch-akustische Reize „nach oben“ oder „nach unten“ hin reguliert, wirken beruhigend oder erregend. Darüber hinaus können Töne oder Melodien den Menschen auch so bewegen und berühren, dass tiefe Gefühle wie Trauer, Freude, Wut oder Zuneigung spürbar werden. Und schließlich bewegen uns Musikstücke auf eine Weise, dass Gedanken ausgelöst, Assoziationen hervorgerufen und Erinnerungen geweckt werden. Musik wirkt ganzheitlich, sie versetzt Körper, Seele und Geist in Schwingung, löst Resonanzen aus und beeinflusst die Befindlichkeit eines Menschen. Klänge, Geräusche, Melodien und Musikstücke werden vom intrauterinen Stadium und der präverbalen Zeit an „leibhaftig“ wahrgenommen und im impliziten Körpergedächtnis abgespeichert. Diese frühen Klangeindrücke aus der intrauterinen Zeit bis einschließlich zum zweiten Lebensjahr, werden zwar nicht bewusst erinnert, gehen aber auch nicht verloren. Sie können ein Leben lang im Unbewussten vor sich her schlummern und im impliziten Gedächtnis verweilen. Sie können aber auch egal, in welchem Alter, plötzlich und unverhofft ins Bewusstsein gelangen. Bei älteren Menschen kann es durch das Vorspielen und Singen von Liedern aus der frühen Kindheit zu emotionaler Rührung kommen, selbst bei an Demenz erkrankten Personen. Musik kann starke Emotionen auslösen und Erinnerungen wecken, über die eine Person dann sprechen möchte; sie kann aber auch bei denen Emotionen auslösen, die nicht mehr über Sprache und Sprachverständnis verfügen (Muthesius 2010). Musik und Mensch scheinen zusammenzugehören. Was sie miteinander zu tun haben und wozu der Mensch sich der Musik bedient, habe ich in den nächsten Kapiteln versucht, darzustellen. Denn auch Musiktherapeuten bedienen sich ihrer, um sie in den unterschiedlichsten Anwendungsbereichen zum Einsatz zu bringen. Das Zusammenspiel von Mensch und Musik ist ein einmaliges, das nicht mit einer einzigen Theorie verstanden werden kann.
Gehört Musik zur Natur des Menschen oder ist sie ein künstlich erzeugtes, überflüssiges Zusatzprodukt, das niemand vermissen würde, wenn es sie nicht gäbe? Wenn Menschen von sich behaupten, sie könnten ohne Musik nicht leben oder Musik habe ihnen das Leben gerettet, handelt es sich dabei um außergewöhnliche Schicksale und Alleingänge oder steht etwas Tieferes, Allgemeingültigeres dahinter? Wieso erschaffen Menschen Musikinstrumente, warum singen, komponieren und spielen sie Musik, seit jeher und immer weiter, überall auf der Welt? Diesen Fragen kann hier nur bruchstückhaft nachgegangen werden, Musikethnologen, -anthropologen, -wissenschaftler, und -psychologen bemühen sich um Antworten und füllen ganze Bücher damit, das Phänomen Musik und ihre Wirkung und Bedeutung auf den Menschen zu verstehen.
Dafür, dass es eine Notwendigkeit und eine Lust gibt, sich musikalisch auszudrücken, wie der gleichnamige Titel des Buches von Friedrich Klausmeier (1978) besagt, sprechen die archäologischen Funde von Musikinstrumenten. Sie sprechen sogar für eine „Ur-Lust“ auf Musik, denn das Bedürfnis scheint so alt zu sein wie der Mensch selbst. Wir werden leider nie erfahren, wie die Musik der Neandertaler geklungen hat, da wir weder grafische noch akustische Aufzeichnungen besitzen (während wir ihre Wandzeichnungen bis heute betrachten können), was wir aber wissen ist, dass die von ihnen gespielten Melodien aus mindestens drei Tönen bestanden. Die im Jahr 1973 von Tübinger Forschern in einer Höhle bei Blaubeuren gefundene Knochenflöte hatte genau drei Grifflöcher. Sie wurde aus den Flügelknochen des Singschwans gebaut und ist geschätzte 35.000 Jahre alt. Zur rhythmischen Begleitung konnten keine Hinweise gefunden werden. Eine bei Ausgrabungen in Slowenien entdeckte Flöte ist aus Oberschenkelknochen eines Bären; sie hat ebenfalls drei Löcher und ist ca. 43.000 Jahre alt. Es dürfte sich bei den beiden um die ältesten bisher gefundenen Instrumente der Menschheit handeln. Was, wie und warum gespielt wurde, steht nirgends geschrieben. Dass es bei den beiden Flöten drei Töne waren, die sich zu Melodien verbanden und „in Beziehung“ traten, ist insofern interessant, als dass die Dreierkonstellation an das Grundprinzip menschlicher Beziehungsgestaltung erinnert und die „Drei“ im Sinne der Triangulierung eine der Voraussetzungen für eine psychologische Differenzierung ist. Auf alle weiteren symbolhaften Bedeutungen der Zahl Drei soll hier nicht eingegangen werden.
Ging es den frühen Menschen darum, sich emotional mitzuteilen oder darum, einem ästhetischen Bedürfnis nachzugehen und Kulturgut zu entwickeln? Ging es um Kommunikation und um Verständigung als Mittel zum Zweck im Sinne von Signalen oder trug Musik weitgehend zum Überleben bei, indem man mit Tönen und Rhythmen vor Feinden und Angriffen warnen konnte? Waren die Töne der oben genannten Flöten dafür laut genug? Oder ging es um den Gemeinschaftssinn, darum, dass Gruppen, die gemeinsam musizierten, ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl entwickelten und ihre Mitglieder ein sicheres Bindungsverhalten? Erhöhte das die Überlebenschancen? Ist Musik sozusagen (über)lebensnotwendig?
Hajime Fukui, ein japanischer Evolutionsforscher, untersuchte die Bedeutung des gemeinsamen Singens zur Minderung von Angst und Spannung. Er fand heraus, dass das gemeinsame Musizieren identitätsbildend und solidaritätsfördernd ist und für soziale Bindung sorgt. Beim gemeinsamen Singen wird das Bindungshormon Oxytocin vermehrt produziert, dasselbe, das die frühe Mutter-Kind-Bindung stärkt. Sein Fazit: Gemeinsames Musizieren „schweißt zusammen“ und gibt Halt, phylogenetisch könnte es ein wichtiges Mittel zum Überleben gewesen sein. Der englische Forscher und Professor für Musikwissenschaften Ian Cross von der Universität Cambridge vermutet, dass Musik dazu beigetragen hat, dass das menschliche Gehirn sich immer weiter entwickeln und zu seiner heutigen Reifung gelangen konnte. Insbesondere die kreativen Anteile des Musizierens, das Zulassen und Entwickeln musikalischer Gedanken und Fantasien, seien für die Reifung und Entwicklung geistlicher Beweglichkeit ausschlaggebend gewesen. Des Weiteren spiele Musik eine wichtige Rolle im Hinblick auf zielgerichtetes Handeln und zur Regulierung sozialer Interaktionen (Cross 2009). Forscher scheinen sich einig zu sein, dass Musik sowohl individuelle persönlichkeitsstiftende als auch sozial-kommunikative Bedürfnisse abdeckt. Die Ergebnisse lassen sich bestätigen, wenn wir verstehen, welchen Stellenwert das Musizieren im Leben eines Menschen einnehmen kann, der mit körperlichen Einschränkungen zur Welt gekommen ist oder diese im Laufe seines Lebens erlitten hat. Musik scheint keine Grenzen zu kennen. Beispiele gibt es viele, eines sei der in frühen Jahren erblindete spanische Komponist und Pianist Joaquin Rodriguez, ein anderes der deutsche Hornist Felix Kieser, der ohne Arme zur Welt kam und der das Instrument mit den Fußzehen statt mit den Fingern spielt. Es scheint, als würde sich die Frage nach dem Sinn von Musik und dem Bau von Musikinstrumenten erübrigen, danach, welchen Sinn es macht, Klänge zu erzeugen, die, kaum sind sie erklungen, schon wieder verschwunden sind. Die körperliche Nähe von Mensch zu Instrument ist auch daran ersichtlich, dass der Mensch zur Klangerzeugung alle ihm zur Verfügung stehenden Gliedmaßen und Körperorgane benutzt, so können wir blasen, zupfen, streichen, schlagen, drücken und vieles mehr. Musik ist menschlich, anders können wir uns ihre Anziehungskraft auf Menschen nicht erklären.
Dennoch, und dem ersten Anschein nach entgegen dieser Annahme, gibt es auch Personen, die von sich sagen, dass Musik sie nicht berühre oder sie gleichgültig lasse. Ich bin solchen Personen in meiner musiktherapeutischen Praxis in Ausnahmefällen begegnet und habe verstanden, dass das scheinbare Desinteresse oder die fehlende Sensibilität Musik gegenüber häufig eine Schutz- oder Abwehrreaktion ist, deren Ursprung in traumatischen Ereignissen in Bezug auf Musik im weitesten Sinne des Wortes zu suchen ist. Traumatische Szenarien, die zur Ablehnung von Musik im Allgemeinen führen, können sein:
a. ein stimmungs- und stimmenloses Umfeld, verbunden mit emotionaler Vernachlässigung bis hin zum „stummen Missbrauch“ und affektloser Ansprache, oder
b. ein unberechenbares stimmungsgeladenes Umfeld, verbunden mit emotionaler Vernachlässigung und grenzüberschreitenden Verhaltensweisen, auch in Bezug auf Stimme, bis hin zum Missbrauch.
Musiktherapeuten, die mit Kindern arbeiten, die Missbrauchserfahrungen gemacht haben, berichten, dass die Kinder zu Beginn der Behandlung von den Klängen der Instrumente und der Musik im Allgemeinen überfordert und gestresst sind und dass sie es vermeiden, Instrumente in die Hand zu nehmen. In diesen Fällen muss abgewogen werden, ob Musiktherapie hilfreich und indiziert oder schädigend und kontraindiziert ist.
Töne sind in Schwingung versetze...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2018 |
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Reihe/Serie | Wege der Psychotherapie | Wege der Psychotherapie |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | musiktherapeutische Beziehung • Musiktherapie • Psychotherapie |
ISBN-10 | 3-497-61067-4 / 3497610674 |
ISBN-13 | 978-3-497-61067-9 / 9783497610679 |
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