Diagnostik und Therapie bei Bandscheibenschäden (eBook)
Thieme (Verlag)
978-3-13-240190-7 (ISBN)
3 Ärztliche Diagnostik und Therapie bei Bandscheibenvorfällen
Die zweifelsfreie Zuordnung von Nacken- und Rückenschmerzen zu einem Krankheitsbegriff ist häufig nicht möglich. Muskeln, Sehnen, Bänder, Knochen, Gelenke, Bandscheiben und Nervenwurzeln werden für die Entstehung solcher Schmerzen verantwortlich gemacht. Die große Mehrheit der Patienten mit Rückenschmerzen erhält unspezifische Diagnosen. Nur selten werden Bandscheibenvorfälle, Spinalkanalstenose oder andere zugrunde liegende Erkrankungen wie Aortenaneurysma oder Tumoren diagnostiziert. Als Diagnosen werden ansonsten häufig Symptom- oder Syndrombezeichnungen benutzt, die keinen Rückschluss auf die mutmaßliche Ursache erlauben. Zervikalsyndrom, Schulter-Nacken-Syndrom oder Zervikalgie sind Diagnosen für Störungen im Bereich der HWS. Lumbalgie, Lumboischialgie oder Ischiasschmerz sind Diagnosen für Störungen im Bereich der LWS. Polytopes Schmerzsyndrom, Fibromyalgie oder chronisches Schmerzsyndrom sind Diagnosen, die für Schmerzen im Bereich des ganzen Körpers stehen können. Neben strukturellen Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule wird auch die Somatisierung psychosozialer Probleme oft für Schmerzen, insbesondere Rückenschmerzen, verantwortlich gemacht ( ▶ [313]; ▶ [315]; ▶ [317]; ▶ [32]; ▶ [120]; ▶ [113]; ▶ [269]) (s.a. Kapitel ▶ 11). Viele Diagnosen bleiben somit hypothetisch und erlauben keine spezifische krankheitsorientierte Therapie. An dieser Situation haben auch die modernen Methoden der Schnittbildgebung wie CT und Kernspintomografie (Magnetresonanztomografie, MRT) wenig geändert.
Bei der Computertomografie (CT) handelt es sich um ein computergestütztes röntgenologisches Verfahren, das auf der Tatsache basiert, dass Röntgenstrahlen durch verschiedene Gewebe unterschiedlich stark abgeschwächt werden. Durch Aufsummierung solcher Abschwächungseffekte lassen sich verschiedene Gewebe in einer Art und Weise abgrenzen, die weit über die Möglichkeiten der konventionellen Röntgendiagnostik hinausgeht. Die MRT beruht nicht auf dem Einsatz von Röntgenstrahlen, sondern ist ein elektromagnetisches Verfahren, das darauf beruht, dass Veränderungen der Ausrichtung von Wasserstoffkernen im Körper, die sich nach Einwirkung eines starken äußeren Magnetfeldes ergeben, durch die Aussendung elektromagnetischer Wellen erfasst werden können. Bei beiden Verfahren kann Kontrastmittel eingesetzt werden, das den Informationsgehalt dieser Untersuchungstechniken deutlich verbessert, z.B. wenn es um den Nachweis von Entzündungen oder Tumoren geht. Bei der MRT kommen verschiedene Abbildungsformen zum Einsatz, die z.B. als T1-gewichtete oder T2-gewichtete Sequenzen bezeichnet werden. T1-gewichtete Sequenzen werden vor allem benutzt, wenn Kontrastmittelaufnahme nachgewiesen werden soll, T2-gewichtete Sequenzen sind geeignet, um Veränderungen des Wassergehalts von Geweben bzw. der Binnenstruktur von Geweben zu beurteilen. Laien auf dem Gebiet der Radiologie, wie z.B. die meisten Physiotherapeuten und Patienten, können auf T2-gewichteten sagittalen Sequenzen Bandscheibenverlagerungen gut erkennen.
CT und MRT haben neue Dimensionen für die Diagnostik vieler neurologischer Krankheitsbilder eröffnet. Die Aussagekraft dieser neuroradiologischen Untersuchungen ist jedoch begrenzt, wenn kein klarer Bezug zwischen den klinischen Beschwerden und dem bildgebenden Befund hergestellt werden kann. Auch CTs und MRTs asymptomatischer Personen zeigen Bandscheibenvorwölbungen und degenerative Veränderungen der Facettengelenke, insbesondere bei älteren Patienten. Bei über 60-jährigen Personen ohne anamnestische Hinweise auf Symptome vonseiten der lumbalen Wirbelsäule fanden sich in 36% der Fälle Bandscheibenvorfälle und eine Spinalkanalstenose in 21% ( ▶ [27]). Eine ähnliche kernspintomografische Untersuchung von 60 asymptomatischen Personen im Alter von 20–50 Jahren zeigte, dass Bandscheibenprotrusionen und T2-Signalveränderungen der Zwischenwirbelräume so häufig waren, dass sie als Korrelat klinischer Beschwerden ungeeignet sind. Demgegenüber fanden sich bei den asymptomatischen Personen dieser Altersgruppe nur selten Bandscheibenvorfälle mit Sequestrierung und Wurzelkompression sowie Veränderungen der Endplatten ( ▶ [325]). Auch im Bereich der HWS zeigen sich bei jungen asymptomatischen Personen oft Veränderungen, und nur Bandscheibenvorfälle, nicht aber Protrusionen oder degenerative Veränderungen korrelierten mit der anamnestischen Angabe von Nackenbeschwerden ( ▶ [270]). Somit kann bei Patienten mit neuroradiologisch nachgewiesener Bandscheibenprotrusion oder degenerativen Veränderungen der Facettengelenke nicht immer davon ausgegangen werden, dass diese Befunde auch für die Symptome verantwortlich sind. Deshalb stehen sorgfältige Anamneseerhebung und klinisch-neurologische Untersuchung bei der Abklärung von Wirbelsäulensyndromen nach wie vor an erster Stelle, und die Möglichkeiten der physiotherapeutischen mechanischen Diagnostik könnten, wenn sie mehr genutzt würden, einen wesentlichen Beitrag leisten.
3.1 Anamnese und klinische Untersuchung
3.1.1 Anamnese
Die sorgfältige Anamneseerhebung erlaubt in aller Regel, die Diagnose eines Bandscheibenvorfalls zu stellen und die wichtigsten Differenzialdiagnosen abzugrenzen. Liegt kein Vorfall, sondern nur eine Protrusion oder ein Bandscheibenschaden vor, der fluktuierende Beschwerden in Form von Lumbalgie oder Lumboischialgie verursacht, kann die Diagnose schwieriger sein. Der Beginn der Beschwerdesymptomatik lässt erkennen, ob ein klassisches Beugetrauma vorliegt, d.h. Tragen von Getränkekisten, Helfen beim Umzug, langes Sitzen etc. Die Verstärkung lumboischialgiformer Beschwerden durch Husten, Niesen oder Pressen gilt als charakteristischer Hinweis auf das Vorliegen eines Bandscheibenvorfalls. Diesem Phänomen liegt vermutlich eine lokale intraspinale Druckerhöhung durch venösen Rückstau zugrunde, der wiederum durch den erhöhten intraabdominellen Druck erklärt werden kann, der diesen Manövern gemeinsam ist. Andererseits kommt es vermutlich bei vielen Patienten bei Husten, Niesen oder Pressen auch zur Flexion der Wirbelsäule und dadurch zu einer Verstärkung der Symptomatik. Lange anhaltender Husten kann das Auftreten von Bandscheibenvorfällen begünstigen.
Die differenzielle Ausprägung der Beschwerden in Abhängigkeit von der Körperposition und von körperlicher Belastung liefert wertvolle Informationen über die Ursache. Patienten mit lumbalen und zervikalen Bandscheibenvorfällen erfahren im Liegen bzw. in Ruhe eher eine Linderung der Schmerzen, Patienten mit lumbalen Bandscheibenvorfällen berichten von einer Schmerzzunahme beim Sitzen und beim Aufstehen vom Sitzen. Langes Sitzen ist auch für Patienten mit Gleitwirbelbildung (Spondylolisthese), bei denen es durch Lockerung und Gefügeveränderung im Bereich der kleinen Wirbelgelenke zu einem Verrutschen eines Wirbels über den anderen kommt, in der Regel des vierten über den fünften Lendenwirbelkörper oder des fünften Lendenwirbelkörpers über den ersten Sakralwirbelkörper, meist eine unangenehme Position. Diese Patienten berichten zudem oft über eine Zunahme der Beschwerden bei längerem Stehen und Bergabgehen, also bei jeder statischen Belastung und bei Streckung der Wirbelsäule. Eine deutliche Belastungsabhängigkeit von Lumboischialgien mit nahezu Beschwerdefreiheit im Liegen und im Sitzen und Zunahme von Schmerzen vor allem beim Stehen und längeren Gehen ist charakteristisch für Patienten mit lumbaler Spinalkanalstenose. Limitierend für die Gehstrecke sind entweder Schmerzen oder ein Schwächegefühl. Beim Sitzen oder z.B. an einem Geländer nach vorne angelehntem Stehen können diese Patienten eine Linderung ihrer Beschwerden erfahren, bevorzugt wird jedoch das Liegen. Treten vor allem Schmerzen auf, so ist differenzialdiagnostisch an eine periphere arterielle Verschlusskrankheit der Beine zu denken. Lassen sich anamnestisch weder der Beginn der Symptomatik noch ein wesentlich fluktuierender Verlauf erfragen, so liegt einer Schmerzsymptomatik eher ein chronisch degeneratives Leiden des Bewegungsapparats oder ein Tumorleiden zugrunde. Bei unerwünschtem Gewichtsverlust, allgemeinem Unwohlsein, allgemeinem Schwächegefühl und einer Tumorerkrankung in der Vorgeschichte sollte der Verdacht auf eine Manifestation eines Tumorleidens ausgeräumt werden. Bei anamnestischen Hinweisen auf einen Sturz oder eine andersartige Verletzung muss röntgenologisch eine Fraktur...
Erscheint lt. Verlag | 20.9.2017 |
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Reihe/Serie | Physiofachbuch | Physiofachbuch |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe |
Schlagworte | Bandscheiben • Bandscheibendiagnostik • Bandscheibenschäden • Bandscheibenverletzungen • Extinktion • Facettengelenkstörung • ICF • McKenzie Konzept • Neurologie • Physiotherapie • Rückenschmerzen • Schwindel • Wirbelsäule • Wirbelsäuleninstabilität |
ISBN-10 | 3-13-240190-0 / 3132401900 |
ISBN-13 | 978-3-13-240190-7 / 9783132401907 |
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