Lehrbuch Sexualtherapie (eBook)
258 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10057-0 (ISBN)
Reinhard Maß, Prof. Dr., ist approbierter Psychologischer Psychotherapeut, Verhaltenstherapeut und Sexualtherapeut und arbeitet als Leitender Psychologe am Zentrum für Seelische Gesundheit Marienheide.
Reinhard Maß, Prof. Dr., ist approbierter Psychologischer Psychotherapeut, Verhaltenstherapeut und Sexualtherapeut und arbeitet als Leitender Psychologe am Zentrum für Seelische Gesundheit Marienheide. Renate Bauer ist approbierte Psychologische Psychotherapeutin, Verhaltenstherapeutin und Sexualtherapeutin und ist in eigener Praxis in Gummersbach niedergelassen.
2.6 Systemische Sexualtherapie
2.6.1 Vorbemerkungen
Die Systemische Sexualtherapie nach Clement (2004) kann als Anwendung der Systemischen Therapie (vgl. Retzer, 2007; von Schlippe & Schweitzer, 2007) auf Paare mit sexuellen Problemen aufgefasst werden, wobei neben dem breiten Fundus allgemeiner systemischer Techniken auch einige spezifische Interventionsformen Anwendung finden, unter denen das sog. »Ideale Sexuelle Szenario« eine zentrale Bedeutung hat. Der defizitorientierte Blick auf gestörte Funktionen wird zugunsten einer Betrachtung des sexuellen Begehrens verworfen. Dabei wird ausdrücklich auf den Differenzierungs-Ansatz von Murray Bowen (Kerr & Bowen, 1988) und das Crucible-Konzept von Schnarch (1991) Bezug genommen. (Man kann somit einwenden, dass auch der Systemischen Sexualtherapie eine Defizit-Perspektive zugrunde liegt: Es geht hier um ein Defizit an Selbstdifferenzierung.)
Die gegenwärtige Geschlechterordnung ist nach Clement (2004) ein postpatriarchalischer und postfeministischer Übergangszustand, in dem die Gleichwertigkeit der beiden Geschlechter und die sexuelle Selbstbestimmung Konsens sind. Sexuelle Tabus seien abgebaut worden, mit Ausnahme des Gewalttabus und des pädosexuellen Tabus, welche heute eher stärker als früher akzentuiert werden. Das Beziehungsleben sei flexibler geworden, Männer wie Frauen hätten heute mehr feste Beziehungen als früher, Ehen seien kürzer, es gebe Platz für » . . . Beziehungen vor der Ehe, nach der Ehe, zwischen den Ehen und statt der Ehe« (Clement, 2004, S. 12). In der postmodernen Sexualität dürfe man alles und müsse nichts, die alten Koordinaten seien nicht mehr gültig (vgl. das Konzept der neosexuellen Revolution von Sigusch, 1998). Trotz dieser neuen Freiheiten nähmen sexuelle Unzufriedenheit und mangelndes sexuelles Verlangen eher zu. Eine »Verhandlungsmoral« sei heute als zentrale interaktionelle Orientierung an die Stelle der alten, inhaltlich definierten Werte (das Normale, Natürliche, Angemessene) getreten: Akzeptabel sei nun das, worauf beide sich einigen können; was einer der Partner ablehnt, werde nicht akzeptiert. Die Verhandlungsmoral sei zwar einerseits potentiell kreativ, weil sie konventionelle Skripte und Routinen in Frage stelle. Andererseits könne sie aber auch Ängste mobilisieren und so ausgelegt werden, dass sie einengt und jegliche Spontaneität abtötet, weil das Tempo stets der langsamere, vorsichtigere, ängstlichere Partner bestimmt. Verhandlungsmoral könne deswegen nur funktionieren, wenn auch die andere Seite ins Spiel kommen kann. Retzer (2007, S. 249) schreibt dazu:
» . . . Seit Mitte der 80er Jahre stand dann die Etablierung von Sexualität als friedliche, berechenbare und herrschaftsfreie zwischenmenschliche Umgangsform auf dem Programm. Sexuelle Korrektheit war angesagt, und die Entsexualisierung von Paarbeziehungen war nun das Ziel. Es entstand die Verpflichtung zu eindeutigem Fragen und eindeutigem Antworten. Sexualität wurde zu einer Form korrekter Kommunikation. Diese Entwicklung der sexuellen Enttabuisierung mit anschließender Pazifizierung sexueller Beziehungen geht mit einer Veränderung der Klagen über sexuelle Schwierigkeiten einher: Die Klagen der 90er Jahre und der Gegenwart sind nicht mehr vorrangig Vaginismus, Orgasmusstörungen oder Ejakulationsprobleme, sondern mangelndes sexuelles Verlangen und Erektionsstörungen.«
Hier setzt Clement (2004) mit seiner Kritik der klassischen sexualtherapeutischen Konzepte an. Klassisch meint in diesem Zusammenhang das Programm von Masters & Johnson (1970) und alle seine späteren Modifikationen, insbesondere auch das Hamburger Modell. Clement erklärt alle diese Konzepte zur Vergangenheit. Der Erfolg des Masters-Johnson-Konzepts sei auf eine besondere Passung mit den damals gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (insbesondere der sexuellen Liberalisierung) zurückzuführen. Heute aber sei das Konzept erschöpft. Seine therapeutischen Handlungsmöglichkeiten würden durch die Orientierung an einer Norm des natürlichen sexuellen Funktionierens, dem von Masters & Johnson (1966) beschriebenen Human Sexual Response Cycle (Erregung – Plateauphase – Orgasmus – Refraktärphase), unweigerlich eingeengt. Das Modell funktioniere nur bei sexuellen Störungen, die mit Versagens- oder Gewissensängsten verbunden sind. Sexualität werde dabei verharmlost. Das könne bestenfalls zu einer »mittelmäßigen« Sexualität führen, nicht aber zu einer leidenschaftlichen Sexualität, die ohne Angst kaum möglich sei. Sexuelle Wünsche und sexuelles Begehren würden bei Masters & Johnson (1970) unterbewertet, wodurch es insbesondere für die Behandlung mangelnden sexuellen Verlangens nicht tauge. In der Praxis führe das Master-Johnson-Konzept oft zu zähen Therapieverläufen, was an der bereits genannten Zielorientierung auf den Human Sexual Response Cycle liege, der bei den Paaren zu Widerstand führen könne.
Clement (2004) übt auch dezidiert am Hamburger Modell Kritik, speziell an dessen Grundregel (Egoismus- und Vetoregel), wegen deren paardynamischen und geschlechterparteilichen Implikationen: Das Nein zum Sex werde stärker betont als das Ja; nicht Nein zu sagen werde als Unfähigkeit konnotiert; sexuelles Unterlassen werde positiver bewertet als sexuelles Tun und besonders bei Frauen werde davon ausgegangen, dass die Verantwortung für das eigene sexuelle Unterlassen erst noch zu lernen sei. Es werde ein »gutes« Nein i. S. einer bewussten Wahrung der eigenen Grenzen mit einem »bösen« Nein gleichgesetzt, welches den Partner ausbremsen, kränken oder unterwerfen soll, womit Manipulationen und Vermeidungsstrategien legitimiert würden. Außerdem unterstütze die Grundregel partnervalidierte Intimität anstatt selbstvalidierter Intimität.
Dem Hamburger Modell (bzw. den Masters-Johnson-Therapien im Allgemeinen) liege ein Defizit-Modell zugrunde: Die sexuellen Probleme würden durch ein Defizit an Entspannung, Abgrenzungsfähigkeit, rücksichtsvollem Egoismus und Selbstbewusstsein verursacht, und dieses Defizit solle behoben werden. Hieraus entstehe das Problem, dass der Partner, der am glaubwürdigsten zeigt, dass er Träger von Mängeln ist, das Therapiegeschehen am stärksten bestimmt und zugleich vor der Aktualisierung der sexuellen Differenz geschützt sei. Hierin werde er von den Therapeuten unterstützt, die somit Teil des Problems würden. Der nichtsymptomatische Partner habe kein Recht auf Empörung, solange der symptomatische Partner sich bemüht, aus seinem Defizit herauszukommen. Clement (2004) spricht hier sogar von einer » . . . Bosheit im Gewande des Nicht-Könnens . . . « (ebd., S. 40). Damit ist eine Art passiv-aggressiven sexuellen Versagens gemeint. Therapeuten, die im Defizitmodell bleiben, verharmlosen nach Clement die Sexualität und die Dynamik zwischen Paaren. Ein solches Fallverständnis führe deshalb zu langweiligen Verläufen, die bestenfalls mit dem Resümee enden würden, dass das Paar gelernt habe, sich mit dem Mangel zu arrangieren.
2.6.2 Beschreibung
Die Systemische Sexualtherapie nach Clement (2004) kennt kein festes Therapieschema und kein vorgegebenes Programm. Eine Therapie wird als nicht genau vorhersehbarer Veränderungsprozess betrachtet. Weil das Symptom Ausdruck des Nicht- bzw. Anders-Wollens sei, müsse zunächst erkundet werden, was stattdessen gewollt wird. Alle Interventionen bekommen nach Clement ihren Sinn nur im Zusammenhang mit dem therapeutischen Prozess; erst das Timing, das Thema, der Ton und der interaktionelle Kontext machen die Interventionen produktiv. Grundsätzliches Ziel aller Interventionen sei die Entwicklung des sexuellen Begehrens und die Differenzierung. Es wird zwischen »Spiel-Interventionen« und »Ernst-Interventionen« unterschieden. Spiel-Interventionen sollen helfen, festgefahrene Sichtweisen zu hinterfragen, die Perspektive zu wechseln und neue Handlungsoptionen zu eröffnen. Ernst-Interventionen sollen demgegenüber bei der Entscheidungsfindung helfen. Im therapeutischen Prozess soll zwischen dem Spiel-Betriebsmodus und dem Ernst-Betriebsmodus gewechselt werden, je nach...
Erscheint lt. Verlag | 25.8.2016 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Crucible-Ansatz • David Schnarch • Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung • DGfS • Einzelübungen • Ejaculatio praecox • Erektionsstörung • Geschlecht • Hamburger Modell • Hypnose • Hypnotherapie • Interventionen • Kaplan • Masters und Johnson • Medizinische Psychologie • Orgasmusstörung • Paar • Paarberatung • Paarbeziehung • Paardynamik • Paarkonflikt • Paar-Setting • Paartherapie • Paarübungen • Partnerschaft • Psychologie • Psychologische Beratung • Psychologische Psychotherapie • Psychosomatische Medizin • Psychotherapie • Revenstorf • Seelische Gesundheit • Sex • SexoCorporel • Sexualforschung • Sexualität • Sexualmedizin • sexualtherapeutische Konzepte • Sexualwissenschaft • Sexuelle Funktionsstörungen • sexuelle Störung • Sexuelle Störung • Sexuologie • Syndiastische Sexualtherapie • Systemische Familientherapie • Systemische Sexualtherapie • Systemische Therapie • Ulrich Clement • Vaginismus • Verhaltenstherapie • Vorzeitiger Samenerguss |
ISBN-10 | 3-608-10057-1 / 3608100571 |
ISBN-13 | 978-3-608-10057-0 / 9783608100570 |
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