Gehen verstehen (eBook)
216 Seiten
Thieme (Verlag)
978-3-13-220994-7 (ISBN)
1 Abenteuer Evolution – Geschichte des aufrechten Gehens
Abb. 1.1 Affe und Mensch.
Die aufrechte Haltung und die obligatorische Bipedie des Homo sapiens ist sowohl unter den Säugetieren als auch den anderen gegenwärtig lebenden Primaten einzigartig. Dabei sind aufrechte Haltung und bipeder Gang keineswegs neue Errungenschaften unserer Abstammungslinie, sondern schon etliche Millionen Jahre alte Merkmale (Keki 1999).
Wissenschaftler auf der gesamten Welt arbeiten an der Frage, wie es dazu kam, dass sich der Mensch eines Tages aufrichtete. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlichster Theorien, von denen einige heftig umstritten sind. Besonderer Streitpunkt dabei ist die Art der verwandtschaftlichen Beziehung zwischen dem Menschen und den heute lebenden Menschenaffen. Es führte jedoch zu weit, an dieser Stelle hierauf genauer einzugehen (▶ Abb. 1.1).
Gesichert erscheint derzeit die Annahme, dass sich die menschlichen Vorfahren im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte aus einer waagerechten zunächst in eine schräge und letztlich in die senkrechte Haltung aufrichteten. Dafür musste die Körperstruktur wesentlich verändert werden. Bei Betrachtung der verschiedenen Schädelformen und der sich daraus ergebenden Lage der Nackenmuskulatur lässt sich Folgendes erkennen: Im Homonisationsprozess näherte sich der Schwerpunkt des Schädels (▶ Abb. 1.2, Pfeil) der okzipitalen Gelenköffnung (▶ Abb. 1.2, Dreieck), welche die Verbindung des Schädels mit der Wirbelsäule darstellt.
Ein bedeutender Schritt in der Entwicklung des Menschen ist die Anpassung des gesamten Körperbaus an die Fähigkeit, aufrecht auf 2 Beinen zu gehen. Dabei wird oft behauptet, diese Anpassung habe bei den Füßen begonnen und der Homonisationsprozess solle dadurch eingeleitet worden sein.
Die aufrechte Körperhaltung bedingte weiterhin auch eine Umformung des Gebisses. Im Pliozän passte es sich einer körner- und allesfressenden Ernährungsweise an. Es wird davon ausgegangen, dass der aufrechte Gang auf die Vorgänger der Menschenaffenlinie zurückzuführen ist, d.h. Primaten ohne Züge brachiatorischer Spezialisation. Die Brachiatoren hingegen benutzten – angepasst an ein Leben auf den Bäumen – die vorderen Gliedmaßen zum Schwinghangeln. Nach Facchini (1991) stellt dies eine Spezifizierung dar, die keine Rückentwicklung mehr zuließ.
Abb. 1.2 Schädel und Nackenmuskeln.
a Gorilla. b Australopithecus. c Homo erectus. d Homo sapiens.
Abb. 1.3 Becken.
a Schimpanse. b Australopithecus. c Buschmann.
Dem heutigen Wissen nach waren die Vorfahren der Homoniden weder auf dem Boden lebende Vierfüßler noch Brachiatoren. Ihr Bewegungsapparat gestattete die Fortbewegung auf Bäumen ebenso wie auf dem Boden. Zudem besaßen sie die Fähigkeit, sich kurzzeitig aufzurichten bzw. sich halb aufrecht zu halten. Die notwendige Voranpassung entstand durch ein Aufrichten der Wirbelsäule sowie durch die Erweiterung und Vorwärtsdrehung des Beckens (▶ Abb. 1.3). Diese Veränderungen entstanden jedoch nicht zur selben Zeit.
Fossilienfunde belegen Zwischenformen wie die des archaischen Australopithecinen. Sie waren zur aufrechten Haltung fähig und hatten zum Klettern geeignete, lange vordere Gliedmaßen, mit denen sie leicht (z.B. bei Gefahr) Schutz auf Bäumen suchen konnten. Damit wurde die für die Bipedie noch unvollkommene Körperstruktur ausgeglichen.
Letztendlich setzte sich die Bipedie durch. Nach Facchini (1991) brachte sie die meisten Vorteile. Sich zum Gehen auf den hinteren Gliedmaßen aufrichtende Primaten hatten in einer offenen – oder zumindest nur spärlich bewaldeten – Umgebung eine Reihe von bedeutenden Vorteilen. Das Sichtfeld erweiterte sich erheblich und ermöglichte so eine frühzeitige Warnung vor gefährlichen Raubtieren. Gleichzeitig ließ sich das Rudel bzw. die Gruppe besser überblicken. Die Hände, die bisher zur Auflage und zur Stütze dienten, waren nun frei geworden und konnten zu Verteidigungs- und Jagdzwecken genutzt werden (z.B. Stöcke schwingen, Steine werfen). Zu dieser Zeit verlernten die Arme das Gehen.
Die Bipedie förderte die sozialen und familiären Bindungen. Es wurde möglich, Nahrung zu sammeln und ins Lager zu transportieren. Frau und Mann teilten sich die Nahrung, wobei der Mann die Aufgabe der Nahrungsbeschaffung übernahm und die Frau sich um den Nachwuchs kümmerte. Dieser musste zunächst einmal das aufrechte Gehen mithilfe der Eltern erlernen, was die sozialen und familiären Bindungen vertiefte. Bis auch die Hand planmäßig zur Herstellung von Werkzeugen eingesetzt wurde, verging noch viel Zeit. Erst nach und nach entstand so Kultur und mit ihr höhere Stufen in der Entwicklungsgeschichte des Menschen. Die Vorteile der aufrechten Körperhaltung und der Bipedie fordern jedoch ihren Tribut. Die hohe Belastung der Wirbelsäule führt zu einer Abnutzung, die heutzutage bei vielen Menschen früher oder später Rückenschmerzen verursacht.
Wann genau die bipede Fortbewegung entstand, kann die Wissenschaft derzeit nicht genau sagen. Bislang hatte der Australopithecus afarensis (ein bipedes Wesen) als »erster Mensch« gegolten. Seine berühmteste Vertreterin heißt Lucy und lebte ca. 3,6 Millionen Jahre vor unserer Zeit. Ihre Knochen wurden 1974 in der Afar-Region Äthiopiens gefunden. Die Spuren von Laetoli, die Mary Leakey 1978 in Tansania entdeckte, werden ebenfalls dem Australopithecus zugesprochen.
Fußabdrücke dieser dem Menschen ähnlichen Individuen wurden im Vulkantuff entdeckt. Die Spuren sind unterschiedlich groß und zeigen eine gute Fußsohlenwölbung. Die große Zehe liegt in einer Reihe mit den übrigen Zehen und hinterließ einen tiefen Abdruck, wie er typisch für das Abrollen des Fußes beim zweibeinigen Gehen des Menschen ist. Bei einer fotogrammetrischen Analyse der Fußabdrücke zeigte sich außerdem, dass das Muster der Gewichts- und Kraftübertragung über den Fuß jenem Muster sehr ähnlich ist, das den bipeden Gang des modernen Menschen kennzeichnet (Day u. Wickens 1989).
Vor einigen Jahren entdeckte ein internationales Forscherteam in der Nähe des Dorfes Aramis nordöstlich der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba die zur Zeit ältesten Knochen menschlicher Vorfahren. Die Fossilien sind mit etwa 4,4 Millionen Jahren 800000 Jahre älter als die Überreste von Lucy. So lässt sich die Geschichte des aufrechten Gehens um viele Jahrtausende weiter zurückverfolgen als bisher. Die Wissenschaftler gaben der neu gefundenen Art den Namen Australopithecus ramidus. Dieser Urahn der Menschheit lebte einst in bewaldeten Gebieten, ging bereits aufrecht, schlief aber auf Bäumen. Forscher berichten, dass der Körperbau eine größere Ähnlichkeit mit dem der Schimpansen aufweist als mit dem von Lucy (WZ 23. 9. 1994).
Durch die vielen Funde scheint heute erwiesen, dass unsere Urahnen schon vor mindestens 3,5–4 Millionen Jahren unmissverständliche Anpassungsmerkmale an die Bipedie besaßen. Wann aber hat die Entwicklung der Bipedie tatsächlich begonnen? Wenn sie wirklich schon vor fast 4 Millionen Jahren so spezialisiert war, wie es die Fußabdrücke von Laetoli nahe legen, muss davon ausgegangen werden, dass der eigentliche Beginn ihrer Entwicklung schon vor 5–10 Millionen Jahren stattgefunden hat, d.h. im späten Miozän (Jablonski u. Chaplin 1993). Damit ist sie älter als die Verwendung von Steinwerkzeugen oder die Entwicklung eines großen Gehirns.
Bei den Gründen für die Evolution der Bipedie spielten möglicherweise globale klimatische Veränderungen im späten Miozän eine Rolle. In dieser Zeit kam es zu einem Rückgang des tropischen Regenwaldes in Ostafrika, der Region mit den meisten Fundstätten früher Hominoiden. Dadurch entstanden verschiedene neue Lebensräume von Wald und Baumland bis hin zu Grasland mit vereinzelten Bäumen. Die Anpassung an diese neuen Lebensräume könnte die antreibende Kraft sowohl für die Entwicklung der ...
Erscheint lt. Verlag | 18.11.2015 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe |
Schlagworte | Bewegungsanalyse • Ganganalyse • Gangbilder • Gangphasen • Gangsequenzen • pahologisches Gangbild • Physiologie • Ursachen |
ISBN-10 | 3-13-220994-5 / 3132209945 |
ISBN-13 | 978-3-13-220994-7 / 9783132209947 |
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