Albert Schweitzer (eBook)
272 Seiten
Gabriel Verlag
978-3-522-63077-1 (ISBN)
Alois Prinz, geboren 1958, gehört zu den hochkarätigen und viel beachteten Autoren im Bereich Biografien. Er studierte Literaturwissenschaft, Politologie und Philosophie, parallel dazu absolvierte er eine journalistische Ausbildung. Bekannt wurde er durch seine Biografien über Georg Forster, Hannah Arendt, Hermann Hesse, Ulrike Meinhof, Franz Kafka, den Apostel Paulus und Jesus. Er wurde mehrfach ausgezeichnet u.a. mit dem Evangelischen Buchpreis für die Arendt-Biografie, dem Deutschen Jugendliteraturpreis für seine Biografie über Ulrike Meinhof sowie dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. 2023 erhielt er den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für sein Gesamtwerk.
I. Das »Weh der Welt«
Schweitzers Bekenntnis zu seiner Weigerung, ein vernünftiger Erwachsener zu werden, stammt aus seinem Buch über seine Kindheit und Jugend.11 Was man über diese frühe Zeit in seinem Leben weiß, kennt man hauptsächlich aus diesen persönlichen Erinnerungen. Er schrieb sie nieder, als er fast fünfzig Jahre alt war, kurz bevor er zum zweiten Mal nach Afrika aufbrach.
Damals ging eine schwere Zeit für ihn zu Ende, vielleicht die schwerste in seinem Leben. Seinen ersten Aufenthalt in Lambarene hatten er und seine Frau unfreiwillig aufgeben müssen, weil der Weltkrieg ausgebrochen war. Als Deutsche in der französischen Kolonie Gabun galten sie als feindliche Ausländer. Im September 1917 hatten sie das Land verlassen müssen und verbrachten Monate in französischen Lagern, ehe sie nach Kriegsende in ihre Heimat heimkehren durften. Im Elsass war die Situation für die Familie, zu der nun auch die Tochter Rhena gehörte, bedrückend. Schweitzer war krank und hatte viele Schulden bei der Pariser Missionsgesellschaft. Er konnte zwar als Vikar und Assistenzarzt in Straßburg arbeiten, aber das war nicht das Leben, das er auf Dauer führen wollte. Ob er je wieder nach Afrika würde gehen können, war ungewiss, ja eigentlich unwahrscheinlich.
Es war ein Licht am dunklen Horizont, als er eine Einladung nach Schweden, an die Universität Uppsala bekam. Die Vorlesungen, die er dort hielt, waren so erfolgreich, dass er weitere Angebote zu Vorträgen und Konzerten bekam. Schließlich konnte er mit den Einnahmen seine Schulden zurückzahlen, und er hatte so viele Unterstützer für sein afrikanisches Spital gewonnen, dass er seine zweite Reise vorbereiten konnte.
In dieser Zeit, im Mai 1922, war er in der Schweiz unterwegs. In Zürich, wo er den Zug wechseln musste, hatte er zwei Stunden Aufenthalt, den er nutzte, um seinen Freund Oskar Pfister zu besuchen. Pfister war Psychoanalytiker und Pfarrer, und er überredete seinen Freund dazu, mit ihm eine Art therapeutische Sitzung abzuhalten. Albert sollte von seiner Kindheit und Jugend erzählen, ganz spontan, ohne groß nachzudenken. Pfister wollte diese Erinnerungen dann in einer Jugendzeitschrift veröffentlichen. Schweitzer war zuerst einverstanden. Später jedoch bat er Pfister, von einer Veröffentlichung abzusehen und ihm die Notizen, die er gemacht hatte, zuzusenden. Etwas so Intimes wie diese Erinnerungen wollte er selbst erzählen. Und nicht in einer Zeitschrift, sondern ausführlich in einem Buch. Da dieses auch für junge Leser gedacht war, sollte das Buch einen »moralischen Schluss« haben. Kurz vor seiner Abreise nach Afrika, Anfang 1924, schrieb er die letzten Sätze.12
Diese Sätze gehören zu einem Schlusswort, in dem Schweitzer einen Konflikt schildert, den er schon als Kind verspürt und unter dem er auch gelitten hat. Es ist der Konflikt zwischen Ideal und Realität. Für Schweitzer entwickeln sich in jedem Kind Vorstellungen davon, was richtig und was falsch ist. Im Umgang mit anderen Menschen und durch den Widerstand äußerer Umstände werden diese Ideen auf eine harte Probe gestellt. Entscheidend ist, ob sie aufrechterhalten oder aufgegeben werden. Erst beim Erwachsenen zeigen sich dann die lebensbestimmenden Folgen dieser Entscheidung. Werden die Ideale von der Realität erdrückt, dann liegt es für Schweitzer nicht daran, dass die Realität zu stark war, sondern die Ideale zu schwach. Sie waren eben nur »gedachte Gedanken«. Man müsse aber in diese Gedanken »hineinwachsen«, sodass sie zu festen Überzeugungen werden, die den ganzen Menschen erfüllen und sein Handeln und Denken bestimmen. Erst dann entwickeln sie eine geistige Kraft, die Zweifel, Enttäuschungen und Widerstände überwinden und die Wirklichkeit verändern kann.
Es ist diese geheimnisvolle Kraft, auf die Albert Schweitzer immer wieder hingewiesen hat. Sie war der entscheidende Antrieb in seinem Leben. Der erwachsene Schweitzer hat sie schon beim Kind Albert entdeckt. Die Erlebnisse in seinen Erinnerungen erzählen davon. Die geschichtlichen und politischen Verhältnisse, unter denen er aufgewachsen ist, spielen dabei eher eine Nebenrolle. Dabei hat ihn seine Herkunft stärker geprägt, als er es wahrgenommen hat.
Das Elsass, jener Landstrich zwischen dem Rhein im Osten und dem Gebirgszug der Vogesen im Westen, wo Albert Schweitzer am 14. Januar 1875 geboren wurde, gehört heute zu Frankreich. Das war nicht immer so. Diese Region war aufgrund ihrer Grenzlage ein »Zankapfel« zwischen Deutschland und Frankreich. Wenn diese lange verfeindeten Nationen ihre Konflikte mit Waffengewalt austrugen, wurde diese Gegend meist als Erstes zum Schlachtfeld. Der Sieger beanspruchte Land und Leute für sich. So wurden das Elsass und das zugehörige Lothringen hin- und hergerissen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten einige Bewohner behaupten, dass sie nicht weniger als viermal ihre Staatszugehörigkeit wechseln mussten. Das war nicht unbedingt immer ein Nachteil. Seit jeher verstanden es die Menschen im Elsass, aus der Not eine Tugend zu machen und sich von beiden Seiten das Beste zu nehmen – sprachlich, kulturell und auch kulinarisch. So behauptete ein Sprichwort, dass die Elsässer so viel essen wie die Deutschen und so gut wie die Franzosen.
Hätte Albert Schweitzer nur fünf Jahre früher das Licht der Welt erblickt, wäre er als Franzose zur Welt gekommen. Grund dafür war, dass im Krieg zwischen Deutschland und Frankreich am Ende die Deutschen gesiegt hatten und damit die zweihundert Jahre währende Zugehörigkeit zu Frankreich beendet war. Am 9. Juni 1871 war das Elsass und Teile des angrenzenden Lothringens dem Deutschen Reich angegliedert worden. Es war nun »Reichsland«, das heißt, ihm wurde keine Eigenständigkeit zugestanden wie Bayern oder Preußen, sondern es unterstand direkt dem deutschen Kaiser, der vor Ort durch einen »Reichsstatthalter« vertreten war. Der hatte die Aufgabe, die Bevölkerung zu »germanisieren«, also das französische Erbe allmählich zurückzudrängen und deutsche Verhältnisse einzuführen.
Besonders in den Städten wurden die Deutschen von vielen als ungeliebte Besatzer gesehen. In Straßburg, der Hauptstadt, marschierten preußische Soldaten mit Marschmusik durch die Straßen, und die Bewohner ärgerten sich über arrogante deutsche Beamte, die die französische Sprache in den Schulen verbieten wollten und Straßen und Plätze umbenannten. Dass sich unter der deutschen Herrschaft auch einiges zum Besseren änderte, musste man später allerdings zugestehen.
Auf dem Land ging das normale Leben weiter. Auch in Kaysersberg, dem Geburtsort Albert Schweitzers. Sein Vater, Ludwig oder Louis Schweitzer, war dort der evangelische Pastor. Louis stammte aus Pfaffenhofen, einem kleinen Ort im Unterelsass. Sein Vater Philipp Schweitzer, also Alberts Großvater, war dort Lehrer gewesen. Weil er sich aber geweigert hatte, den Amtseid auf den französischen Kaiser Napoleon III. abzulegen, wurde er aus dem Schuldienst entlassen. Er erwarb einen Kaufladen und ließ sich zum Bürgermeister wählen.
Philipp Schweitzer hatte drei Söhne: Auguste, Charles und Louis. Auguste und Charles verließen das Elsass und suchten ihr Glück in Paris. Auguste wurde ein reicher Kaufmann, Charles ein angesehener Lehrer und Großvater von Jean-Paul Sartre, dem berühmten Philosophen. Sartre hat später behauptet, dass Louis, der jüngste der drei Brüder, von seinem Vater mehr oder weniger zum Pfarrerberuf gedrängt worden sei.13 Ob das stimmt, kann man nicht mehr nachprüfen. Jedenfalls konnte sich niemand, der Louis Schweitzer kannte, einen anderen Beruf für ihn vorstellen. Er war mit Leib und Seele Pfarrer und bei allen beliebt. Seine praktische Ausbildung machte er als Vikar beim Pfarrer Johann Jakob Schillinger in Mühlbach, einem weithin geachteten Original. Louis verliebte sich in die vier Jahre ältere Tochter seines Lehrpfarrers, Adele, und heiratete sie. Das erste Kind des jungen Paares war ein Mädchen und wurde nach der Großmutter väterlicherseits Louise Anne Marie benannt. Das zweite war ein Junge und erhielt die Namen seines Vaters, seines Großvaters väterlicherseits und des Bruders seiner Mutter: Ludwig Philipp Albert.
Der kleine Albert, den man später zärtlich Bery nannte, war ein sehr schwächliches Kind, und man fürchtete, es werde nicht lange leben. Schon ein halbes Jahr nach seiner Geburt zog die Familie ins nur zwanzig Kilometer entfernte Günsbach um, wo Louis Schweitzer die Pfarrstelle übernahm. Bei der feierlichen Einführung des neuen Pfarrers konnte Adele die mitleidigen Blicke der anderen Frauen auf ihren mageren, gelbgesichtigen Sohn nicht mehr ertragen und flüchtete weinend in ihr Schlafzimmer. Eine weinende Mutter sollte Albert noch öfter erleben. Doch ein Jahr später brauchte sich Adele nicht mehr für ihr Kind schämen. Albert war ein starker und gesunder Junge geworden, der nach und nach weitere Geschwister bekam. Zwei Schwestern, Julie Adele und Marguerite, und den kleinen Bruder Paul. Ein drittes Mädchen, Emma, starb früh.
Während Albert dank der guten Günsbacher Luft und der frischen Milch vom...
Erscheint lt. Verlag | 28.11.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
ISBN-10 | 3-522-63077-7 / 3522630777 |
ISBN-13 | 978-3-522-63077-1 / 9783522630771 |
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