Dreh den Mond um (eBook)

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2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Ventil Verlag
978-3-95575-641-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dreh den Mond um -  Tex Rubinowitz
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Tex Rubinowitz bereist Raum und Zeit, plaudert Geheimnisse aus, die er nicht kennen kann, und rückt historische Fakten in ein melancholisches Licht: Er spaziert mit David Lynch durch Salzburg, assistiert Marvin Gaye in Belgien beim Schreiben von »Sexual Healing«, wird mit Demis Roussos in einem Flugzeug entführt und erklärt Ludwig Wittgenstein zum eigentlichen Erfinder des Smileys. Mit stupender Wucht und humoristischer Wendigkeit werden essenzielle Themen, Menschen und Orte unzuverlässig behandelt, getroffen und abgereist. Jede dieser Geschichten schafft eine Parallelwelt voller Überraschungen und genialer Volten, ein Antidot, das Augen öffnet, und sei es die der Familie Feuerstein. In »Dreh den Mond um« zeigt sich der Meister der »Fröhlichen Unzuverlässigkeit« (Friedrich Nietzsche) und niveauvollen Kolportage auf der Höhe seines Könnens. Rubinowitz entwirft fantastische Erzählungen, die vor Originalität und sprachlicher Vitalität glühen und einen irren Sog erzeugen. Ein Buch wie eine Wundertüte. Man will sie nicht öffnen, weil man fürchtet, süchtig davon zu werden, und macht es dann doch.

Tex Rubinowitz, geboren 1961 in Hannover, lebt seit 1984 in Wien, zeichnet Cartoons für verschiedene Zeitungen, schreibt, macht Musik mit seiner Band Mäuse und stickt auf Stoff. 2014 Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises, zahlreiche Bücher, mehrere Platten, noch mehr Stickstoffe.

Tex Rubinowitz, geboren 1961 in Hannover, lebt seit 1984 in Wien, zeichnet Cartoons für verschiedene Zeitungen, schreibt, macht Musik mit seiner Band Mäuse und stickt auf Stoff. 2014 Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises, zahlreiche Bücher, mehrere Platten, noch mehr Stickstoffe.

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WELTMEISTER IM SCHEISSEREDEN


Mir ist aufgefallen, dass im englischen Sprachraum alles sehr schnell mal underrated ist, während bei uns ebenso viel überschätzt ist. Unterschätzt ist bei uns eigentlich nie etwas, so wie im Englischen nichts überschätzt ist, woran das wohl liegt? Gibt es dort eine kokette Tiefstapelkultur und bei uns sind lauter Hochstapler unterwegs? Oder hat das mit unserer historisch weitergegebenen Unterwürfigkeit und einer falschen Bescheidenheit zu tun? Nur nicht immer so groß tun, bloß keinen Staub aufwirbeln und immer schön den Ball flach halten?

Bob Dylan – total überschätzt, hat auch viel Mist gebaut. ABBA – völlig überbewerteter Kitsch für die breite Masse. War Joseph Beuys ein Genie oder wird er maßlos überschätzt? Sowas liest man doch ständig und überall, auf der anderen Seite indes: »The most underrated bands: Roxy Music, Soft Machine, Portable People«. Das ist kein Witz, das spuckt Google als allererste Antwort aus, wenn man danach fragt. Danach fragt man sich selbst: Wie kommt das? Alle drei Bands sind doch von allergrößter Wichtigkeit und zwingender Bedeutung.

Unter einem YouTube-Video von Depeche Mode, nämlich zu »See You«, entspannte sich diesbezüglich folgendes kleines Gespräch. Jemand namens Dave Todd konstatierte: »This song is devastating, minor key, a song of yearning and loss, composed with a perfect sense of drama. Massively underrated.« Woraufhin ein Doc Ogen Clon zurecht fragte: »Underrated by whom?«, und Bou Bou Schröder die konzise Antwort lieferte: »By Eric Ramsbottom, 36 Eritrea Gardens, Ruislip.«

Ob wohl Tulpen im Senegal unterschätzte Blumen sind und in Holland überschätzte? Und bei Flaschenkürbissen verhält es sich genau umgekehrt? Oder werden Tulpen im Senegal überschätzt, resignativ nach dem Fuchs/Traube-Prinzip, weil es dort kaum welche gibt? Man hört so viel von ihnen, aber können Tulpen wirklich »was«? Gesichert hingegen ist, dass die Gruppe derjenigen Schweden, die ABBA für unterschätzt halten, etwa gleichgroß wie die der Slowenen ist, die finden, dass Laibach (die Band) überschätzt ist. Nämlich in beiden Ländern etwa sieben Prozent.

Das sind Fragen, oder Themen, über die ich mich mit Elfriede Jelinek per Mail ausgetauscht habe.

Gelegentlich stellte ich ihr Fragen literarischer Natur, weil ich an etwas schrieb, von dem ich noch nicht genau wusste, was es werden könnte, vielleicht ein unzuverlässiger Reiseführer, Bulgarien mit den Augen eines Bolivianers etwa? Dabei ging es aber eben auch immer wieder um die Frage, ob der häufige Gebrauch des adjektivischen »überschätzt« so unterschätzt ist, wie es unterschätzt ist, auf »überschätzt« zu verzichten. Ich stellte ihr die Frage, weil sie gerade etwas von Thomas Pynchon übersetzt hatte, der in Amerika als unterschätzt gilt (»I think ›Gravity’s Rainbow‹ is vastly underrated«), während die Übersetzung bei uns überschätzt wird (»Ich halte die gute Frau Jelinek als Übersetzerin für maßlos überschätzt«), beides Beispiele auf der ersten Seite bei Google nach diesbezüglicher Suche.

Immer schloss die Poetin ihre Mails mit »stets die Ihre« und einem aus Sonderzeichen zusammengebastelten Schwein. Unser letzter kleiner Austausch fand kurz vor ihrem Nobelpreis für Literatur statt, man sah sie hin und wieder in der Stadt, um das »Café Korb« schnürend, leicht erkennbar an dem roten Haarkoffer auf ihrem Kopf und dem Zeug von Issey Miyake am Leib. Ich habe für sowas ein Auge, erkenne ein Label sofort, reflexhaft muss ich dann, mit gekünstelt bulgarischem Deutsch, in mich hineinmurmeln: »Is sich schene Jacke von Issey Miyake.« Sie fand das gut, als ich ihr das später mal schrieb, trug aber von da an nur noch Yamamoto. In irgendeinem späten Text von ihr wird sogar behauptet, Miyake sei ein bulgarischer Modeschöpfer. Ich kenne und erkenne Mode, aber mache mir nicht (mehr) viel aus ihr, ich habe ein DKNJ (Donna Karan New Jersey) T-Shirt von Roz Chast, auf dem Knie habe ich mir mit 16 die Initialen von Karl Lagerfeld tätowiert, ich wollte sogar bei ihm studieren, als er mal in Wien unterrichtete. Ich bewarb mich mit einem selbstgenähten Hemd mit asymmetrischem Kragen – eine Kragenecke ragte, bei geschlossener Knopfleiste, über die andere – und auf der gesamten Vorderseite stand gestickt: »Symmetrie ist die Kunst der Armen«. Lagerfeld hat mich, vielleicht trotz oder gerade wegen meiner Knietätowierung, die ich in meiner Bewerbung natürlich nicht unerwähnt ließ, nicht genommen. Ach, und ich besitze Schuhe von Gucci, die mit der Biene auf den zwei Streifen. Ich sage aber immer Guzzi, um mich absichtlich noch dümmer zu stellen, als ich es ohnedies schon bin, denn wenn man sich dümmer macht, hat man immer einen Vorsprung vor den Wissenden. »Sich dumm stellen ist die Linguistik der Klugen«, das sagten schon die alten Etrusker.

Dass ich überhaupt Mailkontakt mit ihr hatte, kam nicht von mir, sondern ging von ihr aus. Am Tag, als bekannt wurde, dass Jelinek den Literaturnobelpreis bekommen sollte – zurecht, wie ich finde, auch wenn ich kein einziges ihrer Bücher gelesen habe –, malte ich sie, in einer Art mitternächtlichem Happening, als Hommage, in Öl auf ein zerschnittenes John-Galliano-Hemd, nachdem der betrunkene Modedesigner kurz zuvor in einer Bar in Paris den Gästen erklärt hatte, er liebe Adolf Hitler. Mit Galliano war ich fertig, obwohl ich ihn mal mochte, vor allem seinen Schnurrbart. Den Hemdfetzen nagelte ich roh wie Günther Uecker auf einen Holzrahmen. Ich hatte am nächsten Tag eine Ausstellung in einer Galerie, ich dachte, das mache ich jetzt auch noch schnell, ihr zu Ehren und weil ich eine populistische Natter bin. Ich malte sie nackt, sich in einem Martiniglas räkelnd, ein misogynes Motiv wie eines von Mel Ramos. »Die« Jelinek würde die Metaebene verstehen, und das tat sie auch, denn einen Tag nach der Ausstellung bekam ich eine erste Mail von ihr, sie schrieb höflich, dass sie gehört habe, dass ich »in Öl mache« und dass ich sie nackt gemalt hätte, das hätten ihr ihre Informanten zugetragen, ob sie dieses Bild kaufen und ob sie sich das denn überhaupt leisten könne? Ich schrieb zurück, ich wisse nichts über ihre finanziellen Verhältnisse und könne auf die Schnelle nicht ihren Nobelpreis von Schwedischen Kronen in Österreichische Schilling umrechnen – ich bin wirklich sehr dumm –, aber leider könne sie das Bild nicht bekommen, das ginge nicht, einzig, weil es am Tag der Eröffnung bereits verkauft worden sei, und zwar an die Stadt Wien, die damit eine Amtsstube auszustatten gedenke, um das Büropersonal zu quälen oder den Parteienverkehr zu irritieren und auf diese Art kafkaeske Bürokratie-Komplexitäten zu zertrümmern. Zurück schrieb sie, dass sie zerrissen sei zwischen Bedauern über die verhinderte Transaktion und diebischer Freude, wo sie jetzt hängen würde, aber ob es mir nicht möglich wäre, ein neues Bild anzufertigen, speziell für sie, sozusagen als Auftragswerk, ohne Umweg über eine Galerie oder Amtsstube. Und ich sagte, ja, gerne, das würde mir gefallen, und ich tat das dann auch, allerdings ließ ich mir Zeit. Ich wusste nicht, ob ich exakt dieses Motiv wiederholen sollte, mich selbst kopieren, oder ein anderes Sujet von Mel Ramos, etwa sie nackt eine Zigarre reitend oder sich aus einer Snickers-Verpackung schälend, als sei das ihre Kleidung.

Bis ich das Bild fertig hatte, fragte ich sie, ob sie mir vielleicht mit Rat helfen könne, bei einem Theaterstück, an dem ich gerade säße. Ich hatte gerade eine Ibsen-Phase und las alles, was ich von dem Mann mit den dreieckigen Backenbärten in die Finger bekam, ließ mir sogar aus Überassimilation selbst so einen Bart wachsen. Ich wollte eines seiner Dramen in die Jetztzeit transponieren, den Titel hatte ich bereits: »Was geschah, nachdem Hedda Gablers Pistole Ladehemmungen hatte?« Das Stück sollte nicht in Kristiania, wie Oslo zur Zeit Ibsens hieß, spielen, sondern im bulgarischen Plovdiv, auch das Personal hatte ich schon grob skizziert. Die Hauptfigur, also Hedda, wollte ich nach ihr schaffen, Jørgen Tesman nach Art von Elvis Presley und Ejlert Løvborg als Franz Kafka, den Assessor Brack sollte Blixa Bargeld geben, allerdings nur als sprechender Fliegenpilz. Und immer ging es auch um dieses Überschätzt/Unterschätzt-Antagonistenpaar, Rollen, in die Presley/Kafka immer wieder schlüpfen sollte, um mithilfe von Teleportation mal mit dem einen, mal dem anderen zu verschmelzen. Dazwischen eine kleine Songskizze, wie »You Ain’t Nothing But a Mistkäfer«, interpretiert vom Fliegenpilz, bis sie am Ende, nach etwas zu viel Teleportation, hängengeblieben zwischen zwei Phasenübergängen, ein bisschen aussehen wie zwei matschige Insekten, wie in David Cronenbergs »Die Fliege«. Hedda Gabler, die sich im Original am Ende ja am Klavier erschießt, greift in meiner Adaption gegen die zwei Fliegen zur Waffe, die aber, wie der Titel nahelegt, Ladehemmungen hat, dann zu einem Stein, den Satz »To kill two birds with one stone« paraphrasierend. Am Ende kommen die Jungs von Metallica als eine Art griechischer Chor, sie fechten ihre internen Bandquerelen aus, basierend auf Protokollen und Schnipseln aus Interviews, Dokumentationen, Backstagestreitereien. Die Musiker werden von Kakadus gespielt.

Jelinek gab mir einige brauchbare Tipps, sie fand die Grundidee gut, damit könne man arbeiten, sehr viel hineinprojizieren, das sei eine »elastische Menagerie«, die man auf alles umlegen könne, Trump und Václav Havel, Ilie Năstase und Liberace, grobes Tennis und groteskes Klavierspiel, Ping Pong mit Marek &...

Erscheint lt. Verlag 8.11.2024
Verlagsort Mainz
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga Humor / Satire
Schlagworte Ingeborg-Bachmann-Preis • Kurzgeschichten • Titanic • Wir waren niemals hier
ISBN-10 3-95575-641-6 / 3955756416
ISBN-13 978-3-95575-641-3 / 9783955756413
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