Der Weg nach Heilisoe (eBook)

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2024 | 1. Auflage
286 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-8187-0930-3 (ISBN)

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Der Weg nach Heilisoe -  Paul Steinmüller
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Vom St.-Niklas-Turm fielen drei helle Glockenschläge. Gleich darauf antworteten aus der Ferne Maria zum Rosenhag und der Heilige Geist. Dann war es wieder still. Das Abendgeläut, das um diese Zeit über Märkte und krumme Gassen wogte, setzte nicht mehr ein. Der Lobgesang, in den St. Jakob, St. Jürgen am Strande, die Katharin und der Evangelist Johannes einzustimmen pflegten, schwieg, seit der Krieg den Türmen die erzenen Zungen ausgerissen hatte. Jörg stieß den Fensterflügel weit auf und lehnte sich hinaus. Der Abendhimmel war von hellstem Grün und wie von Silber durchflossen; hinter den Giebeln im Osten stand wohl schon der wachsende Mond. Vom Meer herüber drang ein Geruch, wie er dem März eigentümlich ist, wenn das angeschwemmte Seegras zu sprießen beginnt. Der ganze Treßhof, den fast zu einem Viertel die alte Kastanie mit dunklem kahlem Geäst überbreitete, war von diesem herben Ruch erfüllt.

Paul Steinmüller wurde 1870 geboren und starb 1940. Er war ein deutscher Schriftsteller.

Paul Steinmüller wurde 1870 geboren und starb 1940. Er war ein deutscher Schriftsteller.

Das neue Geschlecht


Vom St.-Niklas-Turm fielen drei helle Glockenschläge. Gleich darauf antworteten aus der Ferne Maria zum Rosenhag und der Heilige Geist. Dann war es wieder still. Das Abendgeläut, das um diese Zeit über Märkte und krumme Gassen wogte, setzte nicht mehr ein. Der Lobgesang, in den St. Jakob, St. Jürgen am Strande, die Katharin und der Evangelist Johannes einzustimmen pflegten, schwieg, seit der Krieg den Türmen die erzenen Zungen ausgerissen hatte.

Jörg stieß den Fensterflügel weit auf und lehnte sich hinaus. Der Abendhimmel war von hellstem Grün und wie von Silber durchflossen; hinter den Giebeln im Osten stand wohl schon der wachsende Mond. Vom Meer herüber drang ein Geruch, wie er dem März eigentümlich ist, wenn das angeschwemmte Seegras zu sprießen beginnt. Der ganze Treßhof, den fast zu einem Viertel die alte Kastanie mit dunklem kahlem Geäst überbreitete, war von diesem herben Ruch erfüllt.

Der alte Treßhof! Ein zärtlicher Blick des jungen Mannes umfing dies alte backsteinerne Vätererbe. Von den abgewetzten Prellsteinen war die kleine Güldenfey in seine geöffneten Arme gesprungen. Rechts der Kellervorbau, der zu Mellins Wohnung führte und der einer kleinen Kapelle glich; links die überdachte Treppe. In der Tiefe aber, aus der er ausschaute, das alte Wohnhaus, das die stolze Inschrift trug: Treßhof. 1525. Balzer Treß hatte es zwar erst etwa hundert Jahre später gebaut, aber der Handelshof selbst war damals gegründet, als die Hanse schon von ihrem guten Ruf und nicht mehr von Taten zehrte. Was tat das! Er hatte vier Jahrhunderte und eine Wallensteinsche Belagerung überdauert und würde auch durch diese Elendszeit kommen.

Die Sperlinge lärmten noch in dem dürren Rankelgewächs, das bis in die vermoosten Dachpfannen hinaufwuchs. Aus dem verblassenden Grün der Himmelswiese wuchsen die ersten Sterne. Jörg schloß das Fenster.

Gleichzeitig wurde die Tür geöffnet, und die alte Schaffnerin trat mit Harro ein. Der Raum war plötzlich in grelles Licht getaucht, der lange Beratungtisch, die tiefen braunen Stühle an seinen Seiten, der Schreibtisch, auf dem seit des Vaters Tod nichts verändert war, alles schimmerte blank und gepflegt.

»Sieh, du bist hier, Jörg!« Und Harro begann in seiner etwas lauten Art sofort auf ihn einzureden. Ob Malte und Frauke noch nicht hier seien. Und Onkel Rolf. Es sei gleich sechs Uhr. Onkel Rolf lasse sich immer Zeit, wenn er gerade einen Klienten bei sich habe.

Man spürte ihm die Unruhe an. Warum nur? dachte Jörg. Eine Testamentsverlesung ist doch ein feierlicher Vorgang. Aber Harro redete immer, als ob er seine Mannschaft zum Sturmangriff riefe und das Knattern des Feuers überschreien müsse. Vielleicht war ihm dies in seiner Tätigkeit als Rufer im Parteienstreit von Nutzen.

Er wartete eine Antwort Jörgs nicht erst ab, sondern ließ sich gleich von etwas anderm fesseln. Die Alte war um den Tisch gegangen und hatte Papier und Bleifedern ausgelegt. Jetzt trat sie an die Fenster, um die Vorhänge zu schließen, und spähte eine Weile angestrengt hinaus.

»Was ist, Ose? Kommen sie?« fragte Harro.

Sie schüttelte den Kopf, schwieg und blickte wieder aus.

Da trat er neben sie. »Was geschieht denn dort?«

»Sie ist wieder da«, sagte sie und wies auf die Torfahrt, wo Harro am Prellstein etwas Schattenhaftes zu erkennen glaubte.

»Wen meinst du nur?«

»Nun, sie, die Frau! Sie ist wieder in der Stadt, Kind.«

 

Harro starrte hinaus. »Wirklich, Ose? War sie schon hier? Wie denkst du ...?«

Aber Ose antwortete ihm nicht, legte den Finger an den Mund, trat zurück und griff die Schnur der Gardine.

Güldenfey kam die Treppe herab, die von den Wohnräumen in das untere Stockwerk führte. »Guten Abend, Jörg, guten Abend!« sagte ihre helle, klingende Stimme. Dann erblickte sie erst die andern. Sie blieb stehen und lehnte sich grüßend über die Brüstung. Das schwarze Kleid der Trauer hob ihre blonde überschlanke Schönheit, die strahlenden Blauaugen hatten durch die Tränen der letzten schmerzreichen Wochen nichts von ihrem Glanz verloren. Wie sie da stand auf der alten Wendelstiege aus nachgedunkeltem Holz, deren Wandung eine kunstfertige Schnitzerhand vor zweihundert Jahren mit Bildern aus Christi Leiden geziert, erschien sie Jörg wie das Licht jungen Tages, das spät in verschattete Gründe steigt.

Er sagte nichts, er hob nur die Hand und ging ihr einige Schritte entgegen. Sein linker Fuß schleifte nach. Er empfand die Behinderung, die ihm die Verwundung hinterlassen, jetzt angesichts des lieblichen Bildes als einen Mangel.

»Ach, Güldenfey,« sagte er, »ich wartete auf dich hier am Fenster. Es war so schön draußen, und ich mußte, als ich die Prellsteine sah, an unsre Jugend denken.«

Sie errötete wie eine Braut. »Du erwartetest mich? Doch das wußte ich nicht.« Sie legte ihre Hand in seine und sah ihn zaghaft an. Jörg war der Gespiele ihrer ersten Jahre, aber er war ihr soviel ferner gerückt als die andern Brüder. Sie sann nach, wie es doch kam, daß sie in diesen Tagen, da er zum Begräbnis des Vaters gekommen, immer etwas wie Scheu in seiner Nähe empfand. Er war ernster als selbst Malte und stiller als Harro. Hatte er viel erlebt, was er verborgen trug? Von der Schule auf die Universität und nach dem ersten Semester in den Krieg. Während der leidvollen Jahre war er selten daheim gewesen, und danach hatte er wieder sein Studium aufgenommen.

»Liebe Schwester, liebe Güldenfey!« sagte Jörg.

 

Seine Zärtlichkeit verwirrte sie noch mehr, und sie blickte ihn befangen an.

»Wir werden uns schon verstehen, denn du und ich, wir gehören zusammen«, sagte er. »Hilf mir, wenn es not tut, Güldenfey.«

Sie wollte etwas entgegnen, um eine Erklärung bitten, aber da kamen die andern, und nun war es plötzlich ein andres Zimmer. Onkel Rolf trug unter dem Arm die schwere Aktentasche, ohne die man den Justizrat und Ratsherrn Glöden nie sah; sein Gesicht drückte den Kummer aus, unter dem er seit dem Kriegsausgang litt. Seine trübselige Stimmung umgab ihn wie ein Gewölk und verfinsterte jeden Raum, den er betrat.

Malte, vollendet gekleidet, schien ernst und bleich. Keine Linie seines Gesichts veränderte sich, als Harro ihn mit einem derben Wort begrüßte. Er wußte genau, was er dem Ernst der Stunde schuldig war. Und Frauke! Während sie ein paar Worte mit Güldenfey wechselte, musterten ihre Augen, die grau wie Seewasser im Wind waren und immer ein wenig spöttisch blickten, die andern. Nun, sie war eine Poppelmann, Tochter des Josias Poppelmann, der Aus- und Einfuhr des amerikanischen Warenverkehrs regelte. In Harvestehude war sie daheim und fühlte sich in dieser kleinen Stadt, die wie eine ärmliche Stiftsdame vom Glanz der Vergangenheit lebte, in der Fremde.

Gewiß, gewiß, die Treß waren ein ehrwürdiges Geschlecht, aber was bedeutete das für eine Zeit, die sausende Räder an den Schuhen trug. Das leise Rauschen ihrer seidenen Kleider, das feine Klirren der goldenen Ringe an ihrem Handgelenk war ihr wie eine ferne Musik aus dem verlassenen Königreich ihrer frühen Jugend.

Sie reihten sich um den langen Tisch, Onkel Rolf saß an der Stirnseite, ihm zur Rechten Malte. Sie hatten die Schriftstücke vor sich ausgebreitet. Auf was warten sie noch? dachte Jörg und blickte fragend auf Frauke. Aber die saß königlich in einem hochlehnigen Sessel, hatte den Kopf gegen die Hand gelehnt und sah abwartend vor sich hin.

Die Tür tat sich auf, und Ose trat mit zwei Mädchen ein, die auf silbernen Platten Weinflaschen und Gläser trugen und sie vor den Versammelten aufstellten. Malte erhob sich und füllte die Kelche mit dem alten duftenden Traubenblut. »Liebe Geschwister,« sagte er, »unser teurer seliger Vater hat mir aufgegeben, Sorge zu tragen, daß wir in dieser Stunde seiner freundlich und liebevoll bei den letzten Flaschen seines Hochzeitweins gedenken. Ich erfülle seinen Willen. Dem Gedächtnis unsers Vaters und unsrer lieben Mutter!«

Sie hoben die Kelche und tranken andächtig. In Güldenfeys Glas fiel eine Träne. O du Gute, Ungekannte, die sterben mußte, damit ich lebe! dachte sie. Das Heimwehgefühl überkam sie. Sie beschloß, mit Ose einmal wieder von der Seligen zu sprechen.

Sie hatte die Hände in ihrem Schoß gefaltet und bemühte sich, achtzugeben auf das, was Onkel Rolf vorlas. Ihres Vaters Stimme! Ja, war denn das seine freundliche, tiefe Stimme, die so zärtlich klang, wenn er ihr Gesicht zu sich niederbog: Liebe, kleine Güldenfey! Das waren trockene Formeln, Zahlen, die Onkel Rolf sehr ausdrucksvoll betonte, und wenn er etwas Besonderes hervorhob, strich er mit dem Zeigefinger über sein Kinn. Sie verlor, während sie auf die Wiederholung dieser Eigentümlichkeit wartete, den Faden. Ach, warum auf langweilige Dinge achten, die sie nichts angingen!

Harro gingen sie an und Malte, der jetzt an Vaters Stelle stand. Sie blickte auf ihn. Er saß kerzengerade da, mit festgeschlossenen Lippen und sehr bleich. Erregte ihn das Lesen dieses väterlichen Vermächtnisses? Zuweilen glitten seine Blicke zu Frauke, suchend, fragend. Aber die saß kühl und abgekehrt da, und in ihren Augen war das Lächeln, dies seltsame fremde Lächeln.

Es fiel Güldenfey auf, wie edel das strenge, marmorweiße Gesicht ihres ältesten Bruders war. Irgend etwas war in ihm, das sie früher und an anderm Ort gesehen. Wo nur und wann? Sie sann nach und fand es nicht.

Aber plötzlich blieben ihre Augen an dem Bilde haften, das gerade über Malte an der Wand hing, dem Bild des Ahnen, jenes rätselhaften Balzer Treß, durch den der Reichtum einmal in das Geschlecht gekommen war und der auf seltsame Weise verschollen...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte Deutsch • Drama • Fiktion • historische Fiktion • Literatur • Roman
ISBN-10 3-8187-0930-0 / 3818709300
ISBN-13 978-3-8187-0930-3 / 9783818709303
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