Krummstab (eBook)
398 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-9873-9 (ISBN)
Martin Faatz, Jahrgang 1964, ist Theologe, Historiker und Journalist. Seit 1995 arbeitet er in verschiedenen Funktionen für eine süddeutsche Diözese.
Martin Faatz, Jahrgang 1964, ist Theologe, Historiker und Journalist. Seit 1995 arbeitet er in verschiedenen Funktionen für eine süddeutsche Diözese.
Montag, 3. Juni 2002
Acht Uhr morgens war eigentlich Bischof Johanns Zeit. Erst recht nach ein paar Tagen am Meer. Gestern Abend war er zurückgekommen vom Kurzurlaub in dem Dörfchen an der Nordsee, wo seit Jahren eine Ferienwohnung jederzeit für ihn zur Verfügung stand. Ein paar Tage spazieren gehen, lesen, meditieren, Predigten konzipieren in aller Ruhe, umsorgt von der schweigsamen Bauersfrau nebenan und freundlich gegrüßt von Einheimischen, für die ein Katholik kaum weniger außergewöhnlich war als ein Marsmännchen. Einmal mehr war er froh gewesen, ein paar Tage weg zu sein - fern von allem „Herr Bischof, wir sollten“ und „Herr Bischof, wenn sie kurz Zeit hätten“ und „Herr Bischof, wir müssen los“, von allen Tagesordnungspunkten, Briefen und Unterschriftenmappen. Er hatte extra den Zug genommen, Ruhezone, um die Strecke in der untergehenden Sonne zu genießen und um Göbel, seinem treuen Fahrer, die freien Tage nicht zu verkürzen. Nur dass er weder die untergehende Sonne genossen hatte noch zur Ruhe gekommen war.
Er hatte schlecht geschlafen und war trotzdem schon wach gewesen, als der Wecker zur gewohnten Stunde um 5:30 Uhr schrillte. Wie immer hatte sein erster Weg nach Duschen und Ankleiden ihn aus der Wohnung im zweiten Stock des Bischöflichen Palais in die Hauskapelle im Erdgeschoss geführt. „Erst den Herrn anschauen und dann in den Spiegel“, war sein Motto, „nur dann fängt der Tag richtig herum an.“
Dabei hätte Johann vor einem Blick in den Spiegel wahrlich keine Angst haben müssen. Die Schultermuskeln und die Haltung eines Gardeoffiziers ließen immer noch den Leistungsschwimmer der Jugendtage erahnen. Einen Bauch hätte er sich nie verziehen. Der Bart aus Silberfäden und die zurückgekämmten Haare umrahmten ein schmales Gesicht mit braunen Augen. Die dreiundsechzig Lebensjahre sah ihm kaum einer an. Natürlich wusste er, dass sie ihn gelegentlich den schönen Johann nannten oder mit Sean Connery verglichen. Und in irgendeinem Herzenswinkel freute sich eine nicht restlos aberzogene Eitelkeit sogar darüber.
Nach Stundengebet und Anbetung hatte Johann mit den zwei Schwestern, die ihm den Haushalt führten und die Pforte betreuten, die Messe gefeiert, war wieder in die Wohnung zurückgekehrt, hatte allein im Esszimmer gefrühstückt und die Zeitung gelesen. Bei all dem hatte er weder gehetzt noch getrödelt, um schließlich fast auf die Minute genau um acht Uhr das Arbeitszimmer im 1. Stock zu betreten.
Nachdenklich musterte er nun die Papierstapel auf seinem Schreibtisch, die er vor der Abfahrt noch einigermaßen geordnet hatte. Nicht, dass irgend etwas Schlimmes dabei gewesen wäre. Einfach nur das Übliche. Terminanfragen, Bitten um Grußworte und Schirmherrschaften und Interviews, ein paar Aufträge aus bischöflichen Kommissionen. Johann hätte nur einfach mit irgendetwas davon anfangen müssen, den Tag nutzen, die Stapel verkleinern. Aber er fühlte sich wie gelähmt.
Der Bischof stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Schräg gegenüber dem Bischofshaus ragte auf der anderen Seite des Platzes das gotische Westwerk des Domes mit den Türmen empor, und einmal mehr bewunderte er die Kraft der Architektur und den Mut der Erbauer. Visionäre, die genau wussten, dass sie die Vollendung ihrer Entwürfe nie erleben würden. Und trotzdem hatten sie angefangen. Und ich? Welche Vision habe ich? Was habe ich angefangen, egal, ob ich die Vollendun erlebe?
Johann blieb noch einen Moment am Fenster stehen. Er rechnete mit dem flotten Schritt seines Sekretärs auf dem Flur und dem energischen Klopfen. Natürlich würde Domvikar Steinmann ihm Arbeit im Übermaß bringen, wie immer. Und doch hoffte er irgendwie, sein Adlatus werde ihn aufmuntern. Steinmann war ihm einfach ans Herz gewachsen. „Hält mich jung, der Knabe“, hatte er damals gegenüber dem zaudernden Generalvikar seine Wahl begründet. „Er erinnert mich daran, dass wir für die Zukunft verantwortlich sind.“ Und vielleicht wusste jemand, der sein Sohn hätte sein können, ja auch weit mehr von der Zukunft als er selbst?
Aber statt flotter Schritte hörte er ein Schlurfen, und das Klopfen geriet viel zu laut. Johanns Hoffnung auf Besserung seiner Laune verflog. „Wie soll ein Tag gut beginnen, wenn Schwester Agatha die Post bringt?“, brummte er. Im gleichen Moment schämte er sich dafür. „Herein!“, rief er in der Hoffnung, dass seine Bassstimme nicht allzu unhöflich klang.
Eine müde Hand drückte die Klinke nieder und schob die Tür auf. Schwester Agatha quälte sich rückwärts hindurch, den Stapel Post im linken Arm balancierend. Mit dem rechten zog sie die Tür knallend zu. Dann wendete sie ächzend ihre geschätzten zwei Zentner Lebendgewicht und hinkte durch den viel zu großen Raum auf Johann hinter seinem Schreibtisch zu. Erst als sie ihre Last auf das freie, linke Ende der Tischplatte hatte fallen lassen, konnte sie sich einigermaßen aufrichten. Johann wartete ergeben, bis sie zu Atem kam. „Guten Morgen, Ihro Ehrwürdigkeit!“, grüßte er, und gab sich Mühe mit einem Lächeln.
„Guten Morgen, Herr Bischof“, schnaufte Schwester Agatha. Irgendwann musste sie einmal eine helle Sopranstimme gehabt haben, aber Johann kannte sie nur heiser. Unter dem Schleier lugten gerötete Augen über die üppig gepolsterten Wangen. Irgendwo waren noch eine Stupsnase und ein Mündlein über einem Doppelkinn untergekommen. Das alles thronte auf einem Körper, dessen Fülle vom Ordenskleid nur mit Mühe zusammengehalten wurde. Beide Beine waren mit Bandagen umwunden, und Johann hatte Schwester Agatha irgendwann das Geständnis abgepresst, dass die Haut ständig wund war. Mehr über ihren Gesundheitszustand verriet sie um keinen Preis, aber Johann kannte die Symptome genau genug, um Diabetes zu erraten. Einmal mehr fragte er sich, wie lange die Ordensfrau ihren Dienst im Bischofshaus wohl noch durchhalten würde – und ob es nicht längst an ihm wäre, sie fortzuschicken. Aber als er vor neun Jahren sein Amt antrat, hatte er den Moment verpasst.
Natürlich hatte es die allerbesten Gründe gegeben, die altgediente Pförtnerin zu übernehmen. Im Gegensatz zu ihm kannte Schwester Agatha nicht nur Land und Leute und das Bistum, sondern auch die Verwaltung, die Führungsetage und die Quälgeister, die Bischöfe üblicherweise belagern. Mehr als zwei Jahrzehnte hatte sie bereits seinem Vorgänger gedient. Genau wie heute hatte sie an der Pforte des Bischofshauses die Barriere für all jene aufgebaut, die vermeintlich nur vom Bischof höchstpersönlich die Lösung ihrer Probleme erwarten durften. Genau wie heute war jedes Schriftstück über ihren abgewetzten Schreibtisch hinein und hinausgegangen, von Hand mit Schulmädchenschrift in der Kladde erfasst. Ihr Elefantengedächtnis ordnete jeden Brief dem entsprechenden Vorgang zu, und so hätten die Handakten als Muster für Lehrbücher dienen können. Sie fand alles in den Papieren, obwohl ein Computer ihr nur ein verächtliches Lächeln entlockte.
Zwar hatte Johann auch das Raunen vernommen, sie habe seinen Vorgänger durch ihre Briefentwürfe gelenkt und geleitet, als er bereits häufiger im Bett lag, als am Schreibtisch sitzen konnte. Er hatte gehört, dass sie wie ein Wachhund vor seinem Krankenzimmer Stellung bezogen hatte und jeden weg biss, der ihr nicht gefiel. Einige Eingeweihte flüsterten, sie ganz allein habe die Anliegen mit hineingenommen und die Antworten wieder herausgebracht, ohne dass jemand ermessen konnte, wie sie zustande gekommen waren. Weder Sekretär noch Generalvikar hatten die Bastion zu nehmen vermocht. Aber diese Warnungen waren typisch kirchlich nebulös geblieben, und wenn Johann nachfragte, wollte sich niemand festlegen. Also hatte er die getreue Ordensfrau erst einmal behalten. Und dabei war es geblieben, weil das natürlich auch bequemer war, wie Johann ehrlich zugab.
Entwürfe allerdings ließ er sich keine schreiben. Er konnte nur ahnen, wie sehr dies Schwester Agatha gekränkt hatte. Die eiserne Disziplin der Schwestern von Jesu Herzwunde hatte sie jede Kritik für sich behalten lassen. Aber wenn sie so wie jetzt wieder vor ihm stand, schien sie Kälte auszustrahlen wie eine offene Gefriertruhe und gab sich keinerlei Mühe, das Eis jemals zum Schmelzen zu bringen.
„Was wird der Tag mir bringen?“, versuchte Johann das Gespräch in Gang zu bringen.
Schwester Agatha antwortete langsam, als verursache es ihr Schmerzen, was gut möglich war. „Für elf ist Pfarrer Gummersbach bestellt zur Vereidigung auf seine neue Stelle. Mehr wie üblich am Montag nicht.“
Johann wartete einen Moment, aber die Ordensfrau machte keine Anstalten zu erklären, warum Steinmann nicht da war. Mit erzwungener Geduld fragte er schließlich: „Und was hindert meinen secretarius, uns mit seiner Anwesenheit zu erfreuen?“
„Er lässt ausrichten, dass er zu seinen Eltern gefahren ist, die Mutter liegt im Krankenhaus.“ Agathas Stimme verriet weder Anteilnahme noch ob sie Steinmanns Begründung für eine Ausrede hielt. Aber der Bischof hatte keine Lust, sie nach ihrer Meinung zu fragen.
„Na gut, dann stürze ich mich mal in die Freuden des Alltags.“ Für jeden anderen wäre das ein klares Signal gewesen, dass Johann nun allein sein wollte. Aber Schwester Agatha rührte sich erst, als der Bischof ihr wenigstens noch eine Erinnerung an ihre Unersetzlichkeit gewährt hatte: „Ich rufe sie dann, wenn es etwas zu tun gibt.“ Und Johann rang sich dazu durch, ihr noch ein „Danke!“, nachzurufen,...
Erscheint lt. Verlag | 19.10.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction |
Literatur ► Historische Romane | |
Schlagworte | Kirche • Machtkampf • Missbrauch |
ISBN-10 | 3-7598-9873-4 / 3759898734 |
ISBN-13 | 978-3-7598-9873-9 / 9783759898739 |
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