Remix Almanya (eBook)
400 Seiten
Hannibal (Verlag)
978-3-85445-778-7 (ISBN)
Murat Güngör (* 1969) ist Mitbegründer des antirassistischen Netzwerks 'Kanak Attak' und hat u. a. eine internationale Konferenz zu Gangsta- und Queerrap kuratiert. Anfang der 1990er Jahre war er an der Entstehung von Rap in türkischer Sprache beteiligt. Mit Hannes Loh verfasste er das Sachbuch Fear of a Kanak Planet - HipHop zwischen Weltkultur und Nazirap. Er ist Lehrer und pädagogischer Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt.
Murat Güngör (* 1969) ist Mitbegründer des antirassistischen Netzwerks "Kanak Attak" und hat u. a. eine internationale Konferenz zu Gangsta- und Queerrap kuratiert. Anfang der 1990er Jahre war er an der Entstehung von Rap in türkischer Sprache beteiligt. Mit Hannes Loh verfasste er das Sachbuch Fear of a Kanak Planet – HipHop zwischen Weltkultur und Nazirap. Er ist Lehrer und pädagogischer Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt.Hannes Loh (* 1971) beschäftigt sich als Autor und Journalist mit der Entwicklung der globalen HipHop-Kultur und legt dabei einen Schwerpunkt auf Migration, Empowerment und Didaktik. Zu diesen Themen hat er mehrere Bücher veröffentlicht. Mit seiner Band Anarchist Academy war er in den 1990er Jahren als Rapper aktiv. Hannes Loh ist Gesamtschullehrer und Systemischer Berater. Er lebt in Köln.
Intro: These Are The Breaks (11)
#01 REMIX PIONIER:INNEN
Vom Gastarbeiter zum Rapstar (16)
Unsichtbare Skills der ersten Generation
#02 REMIX HIPHOP HISTORY
BREAK I: DER DRITTE RAUM 1982-1992 (38)
HipHop als Sternentor in den postmigrantischen Raum
BREAK II: ALMANISIERUNG 1992-2000 (52)
Deutschland einig Deutschrapland
BREAK III: DIE AGGRO-ÄRA 2000-2010 (73)
Ende der Dialogkultur
BREAK IV: STRASSENRAP 2.0 2010-2024 (91)
Rückkehr des postmigrantischen Möglichkeitsraums
#03 REMIX INTERVIEWS
Xatar - Coole Kanaks, Anerkennung und Vielfalt (126)
Naika Foroutan - Postmigrantische Dimensionen (135)
Apsilon - Wut, Message und sein Baba (141)
Miriam Davoudvandi - HipHop, Herkunft und Heilung (148)
Megaloh - Wahrheit und Selbstermächtigung (157)
Ebow - Trauma, Prada und das Neue in der Kunst (167)
Heidi Süß - HipHop als Allround-Tool (173)
Eko Fresh - Der German Dream ist real (185)
Metin Türköz - Rassismus bei Ford und der Sound der Rebellion (188)
Cem Kaya - Brüche, Opfer und Gutmenschen (195)
Afrob - Heimat und Gegenliebe (203)
Melissa Kolukisagil - Kollektive und Korrektive (208)
Engin - Späte Idole und eine neue Bewegung (213)
Dinçer Güçyeter - Lyrisches Ich und Rapper-Ego (217)
Jeannette Petri - Intersektionale HipHop-Stories (221)
Julia Rieger - Straßenrap im Jugendhaus (224)
Tice - Befreiung aus der Fremdbestimmung (227)
#04 REMIX COMMUNITYS
Fear of a Black Germany (234)
Fragmente einer Schwarzen HipHop-Geschichte in Deutschland
Import-Export (264)
Die Geschichte von Rap auf Türkisch
"Immigrant, Herkunft Kurdistan" (274)
Rap aus der kurdischen Diaspora
Der Drache aus Anatolien (295)
Comeback von Anadolu Rock
#05 REMIX KONTROVERSE
Die Shisha Bar in Hanau (302)
Das Kontinuum rassistischer Gewalt in Almanya
Hinterhofjargon (311)
Der Kampf um Sprache im postmigrantischen Raum
Kanak Sprak im Unterricht (327)
Migration und Rassismus im Schulbuch
Der Verrat an Baha Targün (335)
Wie der Türküola-Chef den Kölner Ford-Streikführer hinter Gitter brachte
Schwarze Musik und weiße Schreiber (341)
HipHop-Journalismus in einer postmigrantischen Gesellschaft
Rap-Journalismus vs. Rap-Forschung (351)
Über ein kompliziertes Verhältnis in noch komplizierteren Zeiten
#06 REMIX REVIEWS
Dokus, Filme, Serien und Podcasts (360)
#07 REMIX UTOPIA
Postmigrantische Perspektiven (375)
Outro: Bigger Than HipHop (386)
Shout-Outs (388)
Literatur (389)
Index (393)
BREAK I: DER DRITTE RAUM 1982–1992
HipHop als Sternentor in den postmigrantischen Raum
Der deutsche Regisseur Ilker Çatak, dessen Film „Das Lehrerzimmer“ als bester internationaler Beitrag bei den Oscars nominiert wurde, stellt im Februar 2024 in einem Beitrag für die Zeit ernüchtert fest: „Es geht um ein größeres Problem, ein strukturelles Problem. Es geht darum, wie Menschen mit Migrationsgeschichte vernachlässigt und ignoriert werden.“ Çatak gehört zur dritten Generation so genannter Gastarbeiter:innen. Ihm und vielen anderen, die in Almanya als nicht-weiße oder zugewanderte Menschen gelesen werden, weht der faule Wind einer alten, aber wirkmächtigen Tradition ins Gesicht: „Über die nächsten vier Jahre wird es notwendig sein, die Zahl der Türken um 50% zu reduzieren. (…) Die Türken in ihrer gegenwärtigen Zahl zu assimilieren“, sei unmöglich, da diese eine „sehr andersartige Kultur“ hätten.
Diese sehr konkreten „Re-Migrationspläne“ wurden nicht von Björn Höcke oder Alice Weidel von der AfD erdacht, sondern von Helmut Kohl. Sie stammen aus dem Herbst des Jahres 1982. Kohl war zu diesem Zeitpunkt seit 27 Tagen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und teilte diese Ansichten seiner britischen Amtskollegin Margaret Thatcher mit. Kohl ergänzte gegenüber Thatcher, er könne über dieses Vorhaben zurzeit noch nicht öffentlich sprechen. Reporter des Wochenmagazins Der Spiegel waren 2001 in Besitz des geheimen Protokolls gekommen und veröffentlichten Kohls Aussagen. Als Reaktion auf diese Enthüllung gab das Büro des Altkanzlers zu Protokoll, dass die „im britischen Papier insoweit korrekt wiedergegebene Position (…) Teil einer hinreichend und breit geführten Debatte zur Ausländerpolitik“ in Deutschland gewesen sei.
Vier Monate vor Kohls Amtsantritt rief die 25-jährige Semra Ertan aus Hamburg beim NDR an. Sie las ihr Gedicht „Mein Name ist Ausländer“ vor und kündigte für den nächsten Tag ihren Suizid als Protest gegen den steigenden Rassismus in Almanya an. Am nächsten Tag, dem 24. Mai, setzte sich Semra Ertan an der Kreuzung Simon-von-Utrecht-Straße/Detlev-Bremer-Straße im Hamburger Stadtteil St. Pauli selbst in Brand. Sie verstarb zwei Tage später im Krankenhaus.
Ignoranz und Rassismus waren nicht nur unter Helmut Kohl die beiden wichtigsten Antworten der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf die Frage: Wie lässt sich eine moderne Einwanderungsgesellschaft gestalten? „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ – diese Fehleinschätzung stand dann auch 1983 in der Koalitionsvereinbarung von Union und FDP. Obwohl zu diesem Zeitpunkt schon seit mindestens zehn Jahren klar war: Almanya ist nicht nur ein Einwanderungsland, Almanya ist auf dem Weg in eine postmigrantische Gesellschaft. Ein Blick in die Schulen, die Fußballvereine, die Firmenbelegschaften, die Fußgängerzonen hätte genügt, um diese parteipolitische Propaganda der schwarz-gelben Koalition als Lüge zu entlarven. Die zweite Generation der so genannten Gastarbeiter:innen wuchs in Almanya auf, aber Deutschland tat alles, um diese Menschen unsichtbar zu halten oder zu stigmatisieren.
Old School schafft Räume
Erst die HipHop-Kultur zeigte unmissverständlich: Helmut Kohl hatte gelogen. HipHop machte zu Beginn der 1980er Jahre gesellschaftliche Umbrüche sichtbar, die von der Politik und von den Medien bis dahin ignoriert und geleugnet worden waren. Mit der HipHop-Kultur entstanden neue Sozialräume in der Öffentlichkeit, in denen sich erste Ansätze einer postmigrantischen Gesellschaft abzeichneten. HipHop ab den frühen 1980er Jahren – in der so genannten Old School – war der erste gesellschaftlich relevante postmigrantische Kulturraum nach 1945. Er wurde maßgeblich mitgestaltet und geformt von den Kindern der so genannten Gastarbeiter:innen, aber auch von Schwarzen Jugendlichen. In diesem neuen Möglichkeitsraum trafen sich weiße Jugendliche aus bürgerlichen oder proletarischen Milieus mit Jugendlichen aus Familien, die erst vor vergleichsweise kurzer Zeit nach Almanya eingewandert waren. Sie kamen an öffentlichen Plätzen zusammen, in Jugendzentren oder Clubs und Diskotheken. Sie wurden an manchen Orten stark beeinflusst von amerikanischen G.I.s und traten mit ihnen in Kontakt. Manchmal führten diese Begegnungen zu einem transatlantischen Kulturaustausch und zu lebenslangen Freundschaften.
HipHop in den 1980er Jahren war das postmigrantische Stargate inmitten einer Gesellschaft der verschlossenen Türen. Es öffnete Zugänge zu Kultur- und Sozialräumen, in denen sich Jugendliche mit sehr unterschiedlichen Biografien plötzlich treffen konnten. Jugendliche, die in Kohls Anti-Einwanderungsland eigentlich nicht zusammenkommen sollten und bisher durch ökonomische und rassistische Strukturen weitgehend getrennt voneinander lebten. HipHop bot diesen Jugendlichen einen neuen, völlig überraschenden Identifikationsmoment: Eine transnationale, hybride, Schwarze Jugendkultur, in der es darum geht, durch Übung und Training verschiedene Kunstfertigkeiten zu vervollkommnen und im öffentlichen Raum zu performen. HipHop stand außerhalb einer westlichen, bürgerlichen Kulturtradition und versprach den Aktivist:innen eine aktive Deutungshoheit über ihre neue Leidenschaft. Das führte schon in den frühen 1980er Jahren dazu, dass sich HipHop-affine Jugendliche in Deutschland als Teil einer transnationalen Kultur begriffen, die ihren Ursprung in New York hatte. Die Autorin Issa Franke zitiert in ihrem lesenswerten Buch „HipHop – die vergessene Generation Westberlins“ den Regisseur Charlie Ahearn, der 1983 im Rahmen der Erstaufführung seines legendären HipHop-Films „Wild Style“ in Berlin dem Laut Magazin ein Interview gab:
„Als ich in Berlin war, traf ich durch Zufall eine Gruppe Teenager, Türken. Ich habe sehr lange mit ihnen geredet. Woher zum Teufel wissen diese Typen eigentlich so gut Bescheid? Wo haben sie diese Sophistication her? Die wissen mehr darüber, was in den letzten zwei Monaten in New York los war, als ich. Und ich habe gesagt: Verdammt noch mal, ihr Typen seid junge Türken, 13 oder 14 seid ihr, wo habt ihr die Informationen her (…)? Und ich frage mich auch, warum sie mit dieser Bewegung, die sich in der Bronx abspielt, so mächtig viel zu tun haben wollen. Wo liegt der Zusammenhang?“
Was Ahearn schon 1983 auffällt, wird in späteren Schilderungen bestätigt: HipHop in Almanya ist besonders attraktiv für Jugendliche, für die in der BRD der 1980er Jahre kulturell kein Platz vorgesehen ist, und die sich regelmäßig mit strukturellem Rassismus und sozialer Ausgrenzung auseinandersetzen müssen. Die früheste Beschreibung einer typischen Old-School-Jam stammt von dem Hamburger Intellektuellen Günther Jacob und geht in eine ähnliche Richtung. 1989 besuchte Jacob eine Jam in Hamburg-Barmbek und fasste seine Beobachtung für sein Buch „Agit-Pop. Schwarze Musik und weiße Hörer“ 1992 zusammen. Jacob beschreibt die Veranstaltung als eine selbstgenügsame Talent-Show mit einem hohen Grad an Partizipation und einem starken Bewusstsein dafür, Teil einer globalen Jugendkultur zu sein:
„Der Anteil junger Immigranten und von Leuten mit wenigstens einem Elternteil aus Afrika, Asien oder Südeuropa ist auffallend hoch. Das und auch die internationalen Kontakte zu anderen europäischen Rapszenen und zu US-Rappern lässt diese Posses angenehm weltoffen wirken. Man macht einfach, was man liebt, und betrachtet es eher als Zufall, in Germany zu leben. An einen ‚deutschen HipHop‘ denkt dabei niemand.“
Nicht nur Außenstehende beschreiben die frühen Jahre der HipHop-Kultur in Almanya als postmigrantischen Raum. Für unsere vergangenen Bücher haben wir viele Protagonist:innen der Old School interviewt und immer wieder gehört: HipHop wurde häufig aufgegriffen von Jugendlichen, die am Rand der Gesellschaft standen, und für die eine Partizipation im herkömmlichen Kulturbetrieb nicht vorgesehen war. Auch deshalb schilderten uns viele Rapper:innen oder B-Boys und B-Girls den ersten Kontakt mit HipHop als ein für sie einschneidendes Erlebnis. Als Murat und ich mit dem Frankfurter Rapper D-Flame für unser erstes Buch sprachen, erzählte er uns in Hinblick auf Ahearns Kultfilm „Wild Style“: „Da war es sofort klar, dass sich die Türken mit den Puertoricanern und die Afrodeutschen mit den Schwarzen identifizieren.“
Nachdem 1985 der große mediale Hype um Breakdance vorbei war, schrumpfte der Kreis der HipHop-Begeisterten auf eine überschaubare Zahl. Es gibt hierzu keine Daten, aber es ist wahrscheinlich, dass die Epoche der so genannten Old School mit nur wenigen Tausend Aktivist:innen startete. Diese Jugendlichen saßen alleine irgendwo zuhause, sie organisierten sich in Graffiti-Crews oder trafen sich an zentralen öffentlichen Plätzen, in Jugendzentren oder in Clubs, die Black Music spielten. Die anfangs noch verstreuten HipHop-Crews vernetzten sich in den Jahren 1987/88 immer mehr, so dass man bald von einer gemeinsamen Szene sprechen konnte, die innerhalb von Almanya vernetzt war, aber auch mit vielen Aktivist:innen in Europa und in den USA in Kontakt stand.
Perfekt wie ein Kreis
Die zentrale Gestalt der Old School ist der Kreis. Sein Rand symbolisiert die Gemeinschaft der Aktivist:innen, seine Mitte das Battle, den unermüdlichen Motor der Kultur. Darin ist alles enthalten, was die Old School in Almanya in...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2024 |
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Zusatzinfo | mit zahlreichen s/w-Abbildungen und Fotos |
Verlagsort | Innsbruck |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | almanya • Apsilon • Ausgrenzungen • Breaks • Cem Karaca • Cem Kaya • Deutschrap • Ebow • gangsta-rapper • Gastarbeiter • Hannes Loh • Hiphop • Machtverhältnisse • Megaloh • Metin Türköz • Migration • Murat Güngör • Musik • Musiker • Musikgeschichte • Musikstil • Popkultur • punchlines • Rap • Rapper • Rassismus • Uh-Young Kim |
ISBN-10 | 3-85445-778-2 / 3854457782 |
ISBN-13 | 978-3-85445-778-7 / 9783854457787 |
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