Der verschwundene Buchladen (eBook)
464 Seiten
Adrian & Wimmelbuchverlag
978-3-98585-261-1 (ISBN)
1. Kapitel
OPALINE
London, 1921
Ich strich mit der Fingerspitze über den Buchrücken, ließ sie von den Einkerbungen des geprägten Umschlags zu etwas Greifbarem leiten; zu etwas, an das ich mehr glaubte als an die Fiktion, die sich vor mir abspielte. Einundzwanzig Jahre alt – und meine Mutter hatte beschlossen, dass es für mich an der Zeit wäre, zu heiraten. Mein Bruder Lyndon hatte – wenig hilfreich – eine geistlose Kreatur gefunden, die gerade das Familienunternehmen geerbt hatte; irgendetwas, das mit dem Import von diesen oder jenen Gütern aus fernen Ländern zu tun hatte. Ich hatte kaum zugehört.
„Für Frauen deines Alters gibt es nur zwei Optionen“, hatte Mutter verkündet und ihre Tasse samt Untertasse auf das Tischchen neben ihrem Sessel gestellt. „Die eine ist, zu heiraten, und die andere, eine ihrer Herkunft entsprechende Anstellung zu finden.“
„Herkunft?“, wiederholte ich leicht ungläubig. Ich schaute mich in dem Salon mit der abgeblätterten Farbe und den verblichenen Vorhängen um und musste Mutters Eitelkeit bewundern. Sie hatte unter ihrem Stand geheiratet und meinen Vater ständig daran erinnert, damit er es ja nie vergaß.
„Muss das jetzt sein?“, fragte mein Bruder, als Mrs. Barrett, unsere Haushälterin, die Asche aus dem Kamin fegte.
„Madam hat nach einem Feuer verlangt“, antwortete sie in einem Ton, der keinerlei Anzeichen von Respekt enthielt. Sie war bei uns, solange ich zurückdenken konnte, und nahm nur Befehle von meiner Mutter entgegen. Den Rest von uns behandelte sie wie billige Hochstapler.
„Tatsache ist, dass du heiraten musst“, betete Lyndon die Worte meiner Mutter nach, während er durch das Zimmer humpelte und sich dabei schwer auf seinen Gehstock stützte. Er war achtzehn Jahre älter als ich, und die gesamte rechte Seite seines Körpers war verzerrt, nachdem er während des Krieges in Flandern von einem Schrapnell getroffen worden war. Der Bruder, den ich einst gekannt hatte, war irgendwo auf diesem Schlachtfeld begraben zurückgeblieben. Das Grauen, das er in seinen Augen hielt, machte mir Angst, und auch wenn ich es nicht gerne zugab, fürchtete ich mich inzwischen vor ihm. „Er ist eine gute Partie. Vaters Pension reicht kaum, damit Mutter das Haus führen kann. Es ist an der Zeit, dass du deinen Kopf aus den Büchern hebst und dich der Realität stellst.“
Ich klammerte mich fester an mein Buch. Es war eine seltene amerikanische Erstausgabe von Sturmhöhe, ein Geschenk von meinem Vater, genau wie meine tiefe Liebe zum Lesen. Ich trug das leinengebundene Buch, dessen Rücken in Gold die scheinheilige Inschrift: „von der Autorin von Jane Eyre“ trug, wie einen Talisman bei mir. Wir waren durch einen reinen Zufall auf einem Flohmarkt in Camden darauf gestoßen (ein Geheimnis, das wir Mutter nicht erzählen konnten). Später würde ich erfahren, dass der englische Verleger von Emily diese Falschzuschreibung erlaubt hatte, um von Jane Eyres kommerziellem Erfolg zu profitieren. Das Buch befand sich nicht in einem perfekten Zustand; der Leineneinband war an den Ecken abgenutzt, und der hintere Buchdeckel hatte eine v-förmige, tiefe Einkerbung. Die Blätter lösten sich langsam, weil der Faden, mit dem sie genäht waren, durch Alter und Benutzung zu zerfasern begann. Aber für mich waren alle diese Dinge, einschließlich des nach Zigarrenrauch duftenden Papiers, wie eine Zeitmaschine. Vielleicht wurden die Samen damals gesät. Ein Buch ist nie das, wonach es aussieht. Ich glaube, mein Vater hoffte, dass meine Liebe zu Büchern ein Interesse am Lernen in mir wecken würde, aber wenn überhaupt verstärkte sie nur meine Abscheu gegen das Klassenzimmer. Ich neigte dazu, in meiner Fantasie zu leben, und so rannte ich jeden Nachmittag nach der Schule nach Hause und bat ihn, mir vorzulesen. Er war ein Beamter, ein ehrlicher Mann mit einer Leidenschaft fürs Lernen. Er sagte immer, dass Bücher mehr waren als nur Worte auf Papier; sie waren Portale zu anderen Orten, in andere Leben. Ich hatte mich in Bücher verliebt und in die weite Welt, die sie beherbergten, und das hatte ich allein meinem Vater zu verdanken.
„Wenn du den Kopf neigst“, hatte er mir einst gesagt, „kannst du die alten Bücher ihre Geheimnisse flüstern hören.“
Ich fand damals ein antikes Buch auf dem Regal, mit kalbsledernem Einband und von der Zeit vergilbten Seiten. Ich hielt es an mein Ohr und schloss fest die Augen; ich stellte mir vor, dass ich die wichtigen Geheimnisse hören konnte, die der Autor versuchte, mit mir zu teilen. Doch ich konnte es nicht; zumindest nicht in Worten.
„Was hörst du?“, fragte mein Vater.
Ich wartete, ließ meine Ohren von dem Geräusch füllen.
„Ich höre das Meer!“
Es war, wie mir eine Muschel ans Ohr zu drücken, so wirbelte die Luft durch die Seiten. Er lächelte und legte eine Hand an meine Wange.
„Atmen sie, Papa?“, fragte ich.
„Ja“, sagte er. „Die Geschichten atmen.“
Als er schließlich 1918 der Spanischen Grippe erlag, blieb ich die ganze Nacht an seiner Seite, hielt seine kalte Hand und las ihm seine Lieblingsgeschichte vor. David Copperfield. Irgendwie glaubte ich albernerweise, dass diese Worte ihn zurückbringen würden.
„Ich weigere mich, einen Mann zu heiraten, den ich noch nie getroffen habe, nur um zu den familiären Finanzen beizutragen. Die ganze Idee ist grotesk.“
Bei meinen Worten ließ Mrs. Barrett den Handfeger fallen, und das Geräusch von Metall auf Marmor sorgte dafür, dass die Miene meines Bruders sich verzerrte. Er verabscheute laute Geräusche.
„Raus hier. Sofort!“
Die arme Frau hatte sehr unzuverlässige Knie, und es brauchte drei fehlgeschlagene Versuche, bevor sie aufstehen konnte, um das Zimmer zu verlassen. Wie sie es schaffte, die Tür nicht hinter sich zuzuwerfen, wird mir für immer ein Rätsel bleiben.
Ich fuhr mit meiner Verteidigung fort.
„Wenn ich für euch beide eine solche Last bin, werde ich einfach ausziehen.“
„Und wo um alles in der Welt willst du hin? Du hast kein Geld“, wies meine Mutter mich auf meine Lage hin. Sie war inzwischen Mitte sechzig und hatte meine Ankunft in der Familie immer als „ihre kleine Überraschung“ bezeichnet, was idyllisch geklungen hätte, wäre ich mir nicht bewusst, wie sehr ihr Überraschungen zuwider waren. In dem Haushalt einer älteren Generation aufzuwachsen hatte meinen Drang, mich zu befreien und die moderne Welt zu erleben, nur verstärkt.
„Ich habe Freunde“, beharrte ich. „Ich könnte mir eine Anstellung suchen.“
Meine Mutter kreischte auf.
„Verdammt noch eins, du undankbares Balg!“, knurrte Lyndon und packte mich am Handgelenk, als ich Anstalten machte, aufzustehen.
„Du tust mir weh.“
„Ich werde dir noch sehr viel mehr wehtun, wenn du nicht gehorchst.“
Ich versuchte, mich zu befreien, doch er ließ nicht los. Ich schaute zu meiner Mutter, die angelegentlich das Muster im Teppich studierte.
„Ich verstehe“, sagte ich, denn ich verstand tatsächlich endlich, dass Lyndon jetzt der Mann im Haus war und die Entscheidungen treffen würde.
„Sehr gut.“ Er hielt mein Handgelenk weiter fest und hauchte mir seinen sauren Atem ins Gesicht, als er sagte: „Ich sagte: sehr gut.“
Ich sah ihm in die Augen und versuchte erneut, mich von ihm loszureißen. „Ich werde mich mit diesem Verehrer treffen.“
„Du wirst ihn heiraten“, versicherte er mir und löste seinen Griff langsam.
Ich strich meine Röcke glatt und klemmte mir das Buch unter den Arm.
„Gut. Das wäre dann also geklärt“, sagte Lyndon und schaute mit seinen kalten Augen an mir vorbei. „Ich werde Austin heute zum Abendessen einladen, damit wir alles arrangieren können.“
„Ja, Bruder“, sagte ich, bevor ich mich nach oben auf mein Zimmer zurückzog.
Ich wühlte in der obersten Schublade meiner Frisierkommode und fand die Zigarette, die ich von Mrs. Barretts Vorrat in der Küche geklaut hatte. Dann öffnete ich das Fenster und zündete die Zigarette an, um einen langen Zug zu nehmen, wie eine Femme fatale aus den Filmen. Ich setzte mich auf meine Frisierkommode und ließ die Zigarette auf einer alten Austernschale ruhen, die ich im letzten Sommer am Strand aufgesammelt hatte. Es waren sorglose Ferien mit meiner besten Freundin Jane gewesen, bevor sie geheiratet hatte. Obwohl Frauen inzwischen das Wahlrecht hatten, wurde eine gute Ehe immer noch als die einzige Option angesehen.
Müßig betrachtete ich mich im Spiegel und berührte meinen Nacken, wo mein Haar endete. Mutter war beinahe in Ohnmacht gefallen, als sie sah, was ich mit meinen langen Locken angestellt hatte. „Ich bin kein kleines Mädchen mehr“, hatte ich ihr gesagt. Aber glaubte ich das wirklich? Ich musste eine moderne Frau sein. Ich musste ein Risiko eingehen. Aber ohne irgendwelches Geld, wie sollte ich da etwas anderes tun, als meinen Älteren zu gehorchen? In diesem Moment kehrten die Worte meines Vaters zu mir zurück. … Bücher sind wie Portale. Ich schaute zu meinem Bücherregal und nahm einen weiteren langen Zug von der Zigarette.
„Was würde Nelly Bly tun?“, fragte ich mich, wie ich es so oft tat. Für mich war sie der Inbegriff von Furchtlosigkeit: eine wegbereitende amerikanische Journalistin, die, inspiriert von Jules Vernes Büchern, in nur zweiundsiebzig Tagen, sechs Stunden und elf Minuten einmal um die Welt gereist war. Sie sagte immer, dass richtig angewandte und gelenkte Energie alles...
Erscheint lt. Verlag | 2.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-98585-261-8 / 3985852618 |
ISBN-13 | 978-3-98585-261-1 / 9783985852611 |
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