Als die Beatles Rudi Dutschke erschossen (eBook)

Erzählung
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2024 | 3. Auflage
136 Seiten
Edition Nautilus (Verlag)
978-3-96054-357-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Als die Beatles Rudi Dutschke erschossen -  Franz-Maria Sonner
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Adrian Berlenberg ist fünfzehn. »Anklagen. Rächen. Zuschlagen« - das ist es, was sich der Ich-Erzähler vom Studentenaufstand der sechziger Jahre erhofft. Es gärt in ihm. Aber ins Zentrum der Ereignisse gerät Adrian nie, er bleibt eine Randfigur, die beobachtet. Die Probleme sind naheliegender, praktischer Art: Wie kommt man an Mädchen ran, wie zeigt man Lehrern die Grenze? Und dann muss ja jeder Zentimeter Haarlänge nach allen Seiten verteidigt werden. Bloß keine faulen Kompromisse mit den Spießern, den Kleinbürgern, mit denen, die für den Faschismus verantwortlich waren und überhaupt für den ganzen Zwang, aus dem er raus will, egal wohin. Aber: Wer hat recht? Was ist wahr? Wo ist die richtige Stelle?

Franz-Maria Sonner, geboren 1953 in Tutzing, lebt in Mu?nchen und Hannover. Er schreibt Hörspiele und Romane und ist Träger des Glauser-Preises. Unter seinem Pseudonym Max Bronski schreibt er Kriminalromane. 2023 wurde er mit dem Radio-Bremen-Krimipreis ausgezeichnet.

Franz-Maria Sonner, geboren 1953 in Tutzing, lebt in München und Hannover. Er schreibt Hörspiele und Romane und ist Träger des Glauser-Preises. Unter seinem Pseudonym Max Bronski schreibt er Kriminalromane. 2023 wurde er mit dem Radio-Bremen-Krimipreis ausgezeichnet.

1. Irgendwo dazwischen


Karsamstage waren langweilig. Ich lag auf dem Sofa und döste. Hatte keine Hoffnung mehr auf die versprochene Erlösung. Oben knarzten die Bohlen. Brunnhölzl, der einbeinige Wehrmachtsveteran, bewegte sich hüftehebend vorwärts. Exakt der Rhythmus. Nur das metallische Klicken beim Aufsetzen der Prothese fehlte. Der Plattenspieler war tabu, Rauchen sowieso verboten. Stattdessen aus dem Radio Besinnliches in Wort und Musik. Jetzt ließ er sich Wasser ein. An jedem anderen Samstag wäre ich schon längst gebadet gewesen, hätte Haare gewaschen und geföhnt, Pickel mit getöntem Schwefel­puder abgedeckt, hätte die Samthose und das Hemd mit hohem, doppelt ge­knöpftem Kragen angezogen. Heute wäre es verschenkt, nichts los. Im Schlafzimmer schnallte er die Prothese ab und ging mit dem Stock zur Wanne. Wahrscheinlich nackt. Frau Hösl von gegenüber unter der Dusche wäre mir lieber. Womöglich in Urlaub. Jedenfalls hatte sie sich den ganzen Tag noch nicht in ihrem Badezimmer gezeigt.

Es wurde Spätnachmittag, bis es endlich klingelte. Mein Vater öffnete. Frank stand vor der Türe. Vater schaute misstrauisch und griesgrämig wegen des Besuchs, schließlich war heute Karsamstag. Den ganzen Tag wurde Grabwache in der Krypta unserer Pfarrkirche abgehalten. Abends fand dann eine Andacht mit Predigt von Prälat Gumppel statt. Vor Gumppel musste ich mich in Acht nehmen. Er merkte, dass ich keine Lust mehr auf die Kirche hatte. Der witterte das. Er gönne Satan keine einzige Seele, sagte er. Unangemeldet war er abends gekommen, hatte sich einen Nusslikör hinstellen lassen und hatte begonnen, mich auszufragen. Ich war ihm ausgewichen. Natürlich wussten meine Eltern, dass ich nicht mehr wollte, aber das sollte unter der Decke gehalten werden. Und wenn es schon soweit mit mir gekommen war, könnte ich doch in dem einen oder anderen Fall nachgeben. Wenigstens an den Kartagen mal in die Kirche, hieß es dann.

Aber die Predigten von Gumppel waren eine Qual. Bevor es losging, gurgelte er mit Salzwasser, damit er bei Stimme blieb. Er ging immer auf die Kanzel, eine Predigt musste von oben herabkommen. Pürstl, der Mesner, schaltete das Mikrophon aus, denn Gumppel wollte sich in der Predigt so richtig verausgaben. Dazu gehörte der donnernde Ruf ebenso wie das leise, nach innen gekehrte Wort. Die Kontraste waren es, der leiern­de, einlullende Singsang, die ansatz­los laut herausgerufene Mahnung, das Schweigen der Besinnung hinterher, die ruhig vorgebrachte Überlegung, der brüllend kenntlich gemachte Abscheu vor der Sünde. Und das Mikrophon verfälschte die Kontraste, außerdem lauter als laut konnte es ohne­hin nicht werden, und Gumppel hatte das Organ dazu. Gumppels Lieblingsthema war die Verkommenheit der modernen Welt, die er jedoch nur zitierte. Je lauter er schrie, desto schlimmer das Übel. Gumppel hatte bei seiner Predigt die Schlagzeilen einer Zeitung vor Augen, die diese Verfallenheit schon in der Überschrift rausarbeitete. Er selbst las gerne das Kampfblatt Bild­post mit diesen Geschichten von verfolgten Christen hinter dem Eisernen Vorhang und in Rotchina. Das zog er der Illustrierten Feuerreiter vor. Beides lag in der Kirche aus.

„Handtasche gestohlen“, stellte Gumppel fest und steigerte: „Fußgänger überfah­ren!“ Machte erst mal eine Pause, als würde er überlegen. „Flugzeug abgestürzt!“, rief er dann, und wenn man jetzt meinte, dass das mit immer mehr Toten einfach so weitergehe, hatte man sich getäuscht. „Ehemann betrogen“, brüllte Gumppel. Und dann kam das Allerschlimmste: „Mutter erschlagen!“ Die Stirnader war ihm angeschwol­len, er schwieg und schaute auf seine Hände hinun­ter. Dann begann er leise von vorne. Nach einer halben Stunde verließ er mit nassen Nackenhaaren die Kanzel. In der Sakristei lag ein Handtuch für ihn bereit, mit dem er sich grob den Kopf abrubbelte.

*

Frank wusste Bescheid und gab sein Bestes, um mich loszueisen. Er war ein höflicher Junge aus gutem Hause, zudem sechzehn, ein Jahr älter als ich. So gab es dann doch wenig einzu­wenden, als er darum bat, mit mir spazieren gehen zu dürfen.

Außer ein paar zu rauchen, konnte Spazierengehen vieles heißen. Zum Bahn­hof laufen zum Beispiel und sich am internationalen Zeitschriftenkiosk die neue Melody Maker oder Music Express kaufen, die Fotos der Gruppen studieren, sich ih­re Namen und Gesichter mer­ken, um nicht Keith Moon mit Pete Townshend zu verwechseln, oder zu wissen, dass John Entwistle Bass spielte. Das Original war englisch, so englisch wie die Musik, und damit den deutschen Magazinen überlegen, selbst wenn Frank und ich dort alles verstan­den. Auch die Songtexte waren ja kaum verstehbar, ein paar Fetzen ausgenommen. People try to put us down, talking ‘bout my generation. My generation. Der Rest war egal.

Spazierengehen konnte auch heißen, über die Lazarettwiese schlendern und reden. Über die Haare, deren Länge Zentimeter für Zentimeter gegen die Eltern verteidigt werden musste. Frank sah gut aus mit seinen blonden, leicht gewellten Haaren. Die lie­ßen sich hinten hochtoupieren, er sah dann aus wie Steve Marriott von den Small Faces, Dave Dee oder Roger Daltrey. Wenn wir zusammen ausgingen, frisierte sich Frank in irgendeiner Toilette noch um. Heute sagte ich ihm, dass ich seine Haare gut fände, weil ich ihm dankbar war, dass er mich rausgeholt hatte. Frank schaute mich erstaunt an.

„Ehrlich. Ich mein’ natürlich, oh­ne schwul zu sein“, druckste ich.

Frank war unglücklich über seine Wellen, die ihn mindestens drei, vier Zentimeter Länge kosteten.

„Weil sich das Scheißhaar so aufwellt und sich nicht mal über den Kamm run­terfönen lässt. Bei dir isses einfacher: grade runter. Bis ich soweit bin wie du, muss ich schon wieder zum Friseur.“

Am einfachsten hatte es noch Günther mit seinem starken Bartwuchs. Die Haare trug er kurz, da zwang er seinen Eltern keinen Kompromiss ab, aber die Koteletten liefen so breit bis zum Kiefer runter, dass sie die Backen fast halb bedeckten. Das war auch was. Frank und ich hatten Pech, mit Bart ging bei uns überhaupt nichts.

Ich hatte angefangen, mir einen Mittelscheitel zu kämmen. Der hielt aber nur mit viel Haarspray. Wenn ich das irgendwie schaffte, würden in etwa zwei Monaten die Ohren zugewachsen sein. Das wäre dann schon eine echte Beatfrisur. Frank trug am liebsten Rollkragen, denn entscheidend war, ob das Haar aufsaß oder nicht, und wenn ja, wie viel darüber, und da ließ sich mit einem hohen Kragen einiges machen. Zum Friseur gehen zu müssen, war eine Katastrophe. Die küm­merten sich einen Dreck darum, ob man das Haar länger haben wollte, machten, was sie wollten, und so, wie sie es seit jeher gewohnt waren. Friseure wie der alte Kniebel mit seinem Klumpfuß hatten in ihrem Laden die elektrischen Schneidemaschinen an elastischen Kabeln aufge­hängt. Der Bubenschnitt für drei Mark fünfzig wurde ausschließlich mit der Ma­schine ausgeführt. Hinten hoch- und rundherum ausrasiert, und das mit einem morali­schen Auftrag im Rücken, denn lange Haare waren für Kniebel eine Sauerei.

Here are the Boots, und die hatten die längsten Haare. Schulterlang, so richtige Matten hinten und Pony vorne. Standen für das Coverfoto ihrer ersten LP auf der Bühne des Starclub, dunkle Anzüge, aber ganz konfirmantenmäßig, weißes Hemd, Krawatte, Beat­stiefel und die Gitarren bis unter den Hals geschnallt. Und natürlich Antoine! Nimm end­lich die hässliche Frau von der Wand, hatte Franks Mutter zu ihrem Sohn gesagt.

In der Schule war es Goldner. Hatte langes ge­welltes Haar bis fast auf die Schultern. Einmal, in der Pause, fielen sie über ihn her, schnitten ihm eine seiner Locken ab. Das gesamte Lehrerkollegium grinste auf den Stockzähnen. Jaja, unsere Abiturienten, hieß es. Ein typischer Streich un­se­rer Oberprima! Und Streiche waren lustig. So lustig wie der wenzige Schlock in der Feuerzangenbowle. Untertanenhu­mor eben.

Diese Öffnung hier sei immer offen, sagte der Biologielehrer Loidl und wies in seiner Schemazeichnung auf den Zellmund eines Pantoffeltierchens. Und zwanzig von siebenzwanzig Schülern machten in die Hosen vor Lachen. Zwei Wochen später stand es dann in der Schülerzeitung unter Stilblüten. Und Hunderte von Schülern machten dann in die Hosen vor Lachen. Wahnsinnig lustig!

Natürlich hatten solche Arschlöcher keine Ahnung: Jeder Zentimeter von Goldners Haar war gegen Anfeindung und Gepöbel durchgesetzt. In der abgeschnittenen Locke steckte der Kampf eines ganzen Jahres. Das sei ja gar nichts, sagte Herr Bartl, sie hätten als Schüler damals noch ganz andere Sachen geliefert. Zum Beispiel Kalk­brocken auf fahrende Züge zu werfen. Von oben, von der Brücke. Man stelle sich das vor. Heute sei so was ja undenkbar. Bartl fühlte sich unter seinen Schülern erst dann so richtig wohl, wenn die Türklinke mit schwarzer Schuhwichse bestrichen und der Tafelschwamm mit Knoblauchöl getränkt war. Schüleruntertanen, wie Bartl sie schätzte, tranken auch mal gern mal einen über den Durst. Oder steckten den griechischen Gipsköpfen Sokrates, Platon, Aristoteles im Foyer des Schulhauses eine brennende Zigarette zwischen die Lippen. Das waren feine Streiche, die alle ziemlich lustig und in Ordnung fanden, auch die Lehrer, weil die Täter am nächsten Tag wieder nüchtern waren und alles zugaben. Ehrensache, Herr Direktor! Als Herr Ränz­ler die Meinung des Kollegiums zum Überfall auf Goldner kundtat, hieß es: Das sei nun wirklich eine Sache, die die Schüler unter sich auszumachen hätten. Eine liberalere Pädagogik, wie sie hier gewünscht werde, könne und wolle ja nicht wegen jedem Dreck eingreifen.

*

Hinter dem Gebüsch war ein...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1960er Jahre • 1968 • 1970er Jahre • achtundsechzig • Jugend • Politisierung • Radikalisierung • Studentenbewegung
ISBN-10 3-96054-357-3 / 3960543573
ISBN-13 978-3-96054-357-2 / 9783960543572
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