Die Bibliothek des Attentäters (eBook)

Roman
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2024 | 2. Auflage
240 Seiten
Edition Nautilus (Verlag)
978-3-96054-359-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Bibliothek des Attentäters -  Franz-Maria Sonner
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Warum Jakob Amon so zurückgezogen lebt, wissen auch die Menschen nicht, die mit ihm zu tun haben. Bei Konrad Bärloch, dem ehemaligen Leiter einer Antiterrorismuskommission hat die Isolation einen Grund. Er lebt nach seiner Entlassung aus Sicherheitsgründen in einer Bundeswehrkaserne. Doch immer noch sammelt er manisch weiter alle Informationen über die RAF. Wie Amon auch. Als 1998 die RAF ihre Auflösung erklärt, haben Amon und Bärloch ähnliche Gefühle. Eine Epoche ist zu Ende, und für beide ist das vielleicht die Möglichkeit, ihrem Leben noch einmal eine andere Wendung zu geben. Gäbe es nicht einen ungeklärten Fall, der inzwischen über 20 Jahre zurückliegt...

Franz-Maria Sonner, geboren 1953 in Tutzing, lebt in Mu?nchen und Hannover. Er schreibt Hörspiele und Romane und ist Träger des Glauser-Preises. Unter seinem Pseudonym Max Bronski schreibt er Kriminalromane. 2023 wurde er mit dem Radio-Bremen-Krimipreis ausgezeichnet.

Franz-Maria Sonner, geboren 1953 in Tutzing, lebt in München und Hannover. Er schreibt Hörspiele und Romane und ist Träger des Glauser-Preises. Unter seinem Pseudonym Max Bronski schreibt er Kriminalromane. 2023 wurde er mit dem Radio-Bremen-Krimipreis ausgezeichnet.

1. Fliegende Babyputen


Jakobs Wohnung war ausgekühlt. Zwei Tage Durchheizen genügten nicht, um die Kälte zu vertreiben. Jakob machte sich einen Kaffee, setzte sich nah an den Ofen heran, der langsam warm wurde, und legte die Beine hoch. Am Silvestertag war er von einer Recherchereise zurückgekommen. Heiner Doerenbach, Redakteur beim Hessischen Rundfunk, hatte ihn losgeschickt. Es gebe Gerüchte, daß Konrad Bärloch, der alte Terroristenjäger, Leiter der Sonderkommission Terroraufklärung, seinen Abschied nehmen würde.

Jakob Amon war Filmemacher. Sein Anspruch richtete sich auf Dokumentarisches: die Wirklichkeit abbilden, wie sie ist. Im Augenscheinlichen mußte eine ebenso augenscheinliche Wahrheit liegen, dort mußten sich die Widersprüche, Aufwerfungen und Verdrehungen auch einfangen lassen. Die Kamera auf die Wirklichkeit draufhalten, hieß es. Der Kommentar, das Interview waren Hilfskonstruktionen, notwendige Raffungen, weil einem niemals die Zeit und das Geld zugestanden wurden, um den anderen, wirklich materialistischen Weg zu gehen. Aber Jakob war ein kleines Licht, die großen Sachen machten andere. Einige Redakteure, wie Heiner Doerenbach vom Hessischen Rundfunk, versorgten Jakob mit Aufträgen.

Jakob war dankbar, auf Recherchereise gehen zu können. Weihnachten war eine Katastrophe gewesen, von der er Abstand gewinnen wollte. Er hatte sich von Maja, einer alten Bekannten, dazu überreden lassen, bei ihr zu feiern. Es werde ein bißchen familiär, hatte sie ihn gewarnt. Ihr zwölfjähriger Sohn sei da, abends zum Essen, für etwa zwei Stunden würden sie ihre Mutter aus dem Altersheim holen. Ob er das überhaupt wolle? Jakob hatte keine Pläne gemacht, allein zu bleiben würde fürchterlich werden, also sagte er zu und war fest entschlossen, mit Maja und ihrer Familie einen angenehmen Tag zu verbringen. Er sei, so dachte er, inzwischen souverän genug, die Festtagssituation, die ihn früher so stranguliert hatte und gegen die er sich stets zur Wehr gesetzt hatte, gelassen zu ertragen. Am vierundzwanzigsten war er mittags pünktlich angetreten. Geschniegelt und gebügelt, wie Maja lachend anmerkte, und mit Geschenken in der Hand. Der Nachmittag verlief harmonisch, sie tranken Kaffee, aßen Plätzchen und machten Spiele. Später kam noch Birnenschnaps auf den Tisch. Im Hintergrund dudelte das Radio Weihnachtsweisen. Maja hatte ein paar Tannenzweige drapiert, Kerzen daran gemacht. Später, gegen Abend, hatte Jakob dann schon einige Birnenschnäpse intus, und seine Stimmung kippte. Plötzlich spürte er einen Überdruß an den Gefühlen, die so falsch und pappig wie Türkischer Honig waren. Er setzte sich an das Radio und ging auf Sendersuche. Irgendwo würden sicher die Geschichten von Heinrich Waggerl gelesen. Die putzige Erzählung, wo das Christkind diesem baumlangen Mohren weiße Handflächen schenkte. Wenn sonst schon alles tintenschwarz und verkaffert bleiben mußte. Der Junge lachte, Maja blickte besorgt auf ihn. In der Tat hatte Jakob zum Sturzflug angesetzt und wollte sich auch noch den Rest geben. Maja sagte, sie fahre nun mit ihrem Sohn in die Stadt, um ihre Mutter zu holen. In der Zwischenzeit werde er sich schon wieder einkriegen, hoffte sie. Sie bat ihn, in ihrer Abwesenheit die beiden Babyputen im Rohr zu begießen. Dann gingen sie, und Jakob widmete sich ganz der Flasche Williamine. Ab und zu ging er in die Küche, guckte zuerst durch die gläserne Herdklappe ins Rohr, zog dann den Bräter mit einer Hand heraus, hielt in der anderen die Flasche Schnaps, Daumen obendrauf, und machte so die zwei Babys mit Schnaps naß. Anschließend kickte er die Ofenklappe mit dem Fuß zu. Aber es wurde ihm nicht wirklich leichter, im Gegenteil kam in ihm eine unbändige Wut gegen dieses scheißverlogene Weihnachten hoch. Er setzte sich wieder ans Radio, um Heinrich Waggerl und die Mohrengeschichte zu suchen. Fand sie wieder nicht und stöberte daher das Regal durch, sicher hatten die das irgendwo stehen und wollten es vor ihm nur nicht zugeben. Aber auch dort war nichts. Also trat er auf den Balkon hinaus. Gegenüber im Hinterhaus hatte eine Familie die Kerzen auf dem Weihnachtsbaum angezündet. „Volle Dröhnung“, murmelte Jakob vor sich hin. Plötzlich nahm eine verwegene, ihm unheimlich witzig erscheinende Idee zwingende Gestalt an. Was würde das für eine Überraschung für diese Semmelings dort drüben und ihre Kinderlein-kommet sein, wenn das Christkind in Gestalt nackiger, halbgebratener Babyputen an das Fenster klopfte. Gesagt, getan. Jakob zerrte die Puten aus dem Ofen, zog seine Handschuhe an, weil die Tiere zu heiß waren, und warf die erste nach gegenüber. Sie klatschte gegen die Fensterscheibe, fiel auf das Sims und dann in den Hof hinunter. Da sich nichts rührte, schickte Jakob gleich die zweite hinterher. Nun wurde das Fenster geöffnet, und eine ältere Frau rief „Hallo! Hallo! Ist hier jemand?“ in den Hof hinunter, als habe es an der Tür geklopft. Dabei konnte man zusehen, wie das Fett an der Fensterscheibe milchig gerann. Eigentlich wollte Jakob antworten: „Herzliche Grüße vom Christkind!“, aber durch den Anblick der alten Frau schlug seine Hochstimmung jäh in Depression um. In heulendes Elend sogar. Was hatte er nur getan? Zittrig braute er sich einen Nescafé, der Pferde wachgemacht hätte. Da ging die Tür auf, „huhu!“, rief Maja, und führte ihre Mutter herein. Die alte Dame ging gebeugt, ihr weißes Haar war sorgfältig für diesen Abend gelegt. Ein Frostschauer fuhr Jakob wie ein Stromschlag durch den Leib. Er krümmte sich fast. Krank, aus, am Ende, sofort einliefern! dachte er. „Zu Tisch“, rief Maja und ging in die Küche. Jakob folgte ihr. Es gab nichts zu erklären, auch nichts zu sagen. Was abgelaufen war, war ein Mechanismus, dem zufolge immer erst das maximale Unglück stattfinden mußte, bevor Jakob wieder zu sich kam, wenn er einmal die Kontrolle über sich verloren hatte. Maja sah die offene Ofenklappe, am Boden die fettverschmierten Handschuhe, dann schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie fragte nichts, trat vor ihn hin, schlug ihn links und rechts ins Gesicht, stieß ihn zur Tür hinaus und warf seinen Mantel hinterher. Jakob hätte noch viel mehr angenommen. Er zog sich an, ging los, warf zuerst im Hof die Puten in die Tonne und klapperte dann mit dem Taxi einige Lokale ab, bis er endlich eine große Schale Pute süßsauer aufgetrieben hatte, die dem ursprünglichen Gericht noch am nächsten kam. Er stellte sie vor die Türe und klingelte von unten, so daß er Maja nicht noch einmal unter die Augen treten mußte.

Später unternahm er keine bemühten Erklärungsversuche, sondern schrieb einen Brief. Jakob wollte ohne Ausflüchte und Umschweife die Verantwortung für das Geschehene auf sich nehmen. Er solle sich verpissen, antwortete Maja, er habe sich wie ein Kampfstier mit nicht umkehrbaren Reflexen verhalten.

Trotz des bullernden Ölofens blieben die Füße kalt. Jakob streifte sich dicke Socken über und goß sich noch einen Kaffee ein. Für einen Montagmorgen war es sehr ruhig. An Silvester war Endzeitstimmung ausgebrochen, alle feierten wie toll. Dann begann ein ganz normales Jahr, aber niemand wollte in den Alltag zurück. Jakob war am Jahreswechsel zu Hause geblieben, hatte gelesen und Wein getrunken. Bloß keine Feiern mehr! Draußen waren Straßenkehrer am Werk. Auf den Gehsteigen und Straßen lagen die abgebrannten Feuerwerkskörper. Dazu Sekt- und Schnapsflaschen, manche auf dem Pflaster zerschellt, Scherbenhaufen, aus denen grüne Flaschenhälse mit zugeschraubtem Verschluß ragten. Die Kantstraße, die geradewegs auf Jakobs Wohnung zulief, war mit Blutspritzern markiert. Ein Besoffener hatte in der Nacht versucht, in die Wohnung seiner Freundin einzudringen. Er hatte, um an die Klinke zu kommen, die Glasscheibe der Haustüre mit einem Ellbogencheck eingeschlagen und sich den Arm aufgeschnitten.

„Verpiß dich, du geile Ratte!“, schrie sie aus dem Fenster und schlug es zu.

„Ich hol dich raus, du Nutte!“, brüllte er zurück.

Jakob fuhr hoch. Alle guckten wahrscheinlich nur zu, aber niemand unternahm etwas. Allenfalls wurde die Polizei verständigt. Wenn sie dann eintraf, zeigten sich die empörten Bürger.

Jetzt rief die Frau um Hilfe. Jakob holte aus dem Hof einen Spaten und trat auf den Balkon hinaus. Der Betrunkene versuchte das Fenstersims zu erklimmen.

„Hau ab! Oder ich schlag dir den Schädel ein.“

Daraufhin trollte er sich krakeelend und fluchend, wankte die Kantstraße hinunter. Das Blut troff ihm vom Arm, wegwerfend schlug er es immer wieder ab, so daß es aufs Pflaster klitschte.

Ungeniert schauten die Straßenkehrer durchs Fenster. Jakob wohnte im Parterre und hatte noch nie Gardinen besessen. Statt dessen hatte er das Plakat Zappa auf dem Klo an die Wand gehängt, unübersehbar für jeden, der hineinstierte. Für die armen Schweine da draußen begann das Jahr sowieso beschissen, dachte Jakob. Neujahr fiel auf einen Sonntag, und am Montag gleich verschärfter Dienst mit Aufräumarbeiten.

Von hinten aus der Kantstraße kam Fritz. Eigentlich wollte er schon gestern vorbeischauen. Aber Fritz nahm solche Versprechungen immer nur als vagen Hinweis. Die Lederjacke lag so eng an seinem ausladenden Leib wie eine Wurstpelle. Um den Hals hatte er mehrfach einen roten Wollschal geschlungen. Er hatte eine Zeitung unter den Arm geklemmt.

„Entschuldige“, sagte Fritz, als er sich aus seiner Jacke schälte, „aber gestern war ich noch platt. Konnte mich nicht rühren. So eine Birne!“

Fritz deutete einen ballonartig aufgeblähten Kopf an.

„Hast du einen Kaffee für mich?“

Jakob brachte ihm eine Tasse.

„Seit wann liest du die FAZ?“

Fritz hatte sie neben seine...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte BRD • Cold Case • RAF • Terrorismus
ISBN-10 3-96054-359-X / 396054359X
ISBN-13 978-3-96054-359-6 / 9783960543596
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