Das gute Leben (eBook)
220 Seiten
Edition Nautilus (Verlag)
978-3-96054-360-2 (ISBN)
Franz-Maria Sonner, geboren 1953 in Tutzing, lebt in Mu?nchen und Hannover. Er schreibt Hörspiele und Romane und ist Träger des Glauser-Preises. Unter seinem Pseudonym Max Bronski schreibt er Kriminalromane. 2023 wurde er mit dem Radio-Bremen-Krimipreis ausgezeichnet.
Franz-Maria Sonner, geboren 1953 in Tutzing, lebt in München und Hannover. Er schreibt Hörspiele und Romane und ist Träger des Glauser-Preises. Unter seinem Pseudonym Max Bronski schreibt er Kriminalromane. 2023 wurde er mit dem Radio-Bremen-Krimipreis ausgezeichnet.
1.
Direkt vor dem Hochhaus fand ich einen Parkplatz. Ich stellte den Motor ab. Fünfzehn Minuten musste man bei Linda normalerweise dazugeben. Nach den üblichen zehn Stunden Arbeit würde sie sich noch frisch machen. Ihren Lippenstift nachziehen, etwas Parfüm hinters Ohr tupfen. Linda arbeitete als Marketingreferentin beim Primavera-Verlag und betreute das Ressort Gesundheit und Familie. Aber pünktlich um neunzehn Uhr trat sie durch die gläserne Drehtür ins Freie. Der Wind blies in ihre Mantelschöße. Sie wickelte sich fester ein und stellte den Kragen hoch. Ich hupte. Linda winkte und stöckelte ein wenig schwankend auf mich zu. Ich stieg aus. Wir umarmten uns. An ihrem Hals roch ich einen warmen karamellartigen Duft. Als sie sich neben mich gesetzt hatte, klappte sie die Sonnenblende des Beifahrersitzes herunter und überprüfte ihr Make-up im Spiegel.
„Was machen wir“, fragte sie.
„Ich habe im Mulino einen Tisch bestellt.“
Linda blieb die ganze Fahrt über wortkarg. Wahrscheinlich hatte sie Ärger gehabt. Ihre Chefin war eine machtbewusste Person, die ihre Mitarbeiterinnen unten hielt. Ihr Stab wurde ständig durch aufrückende Praktikantinnen verjüngt. Linda war nun schon fast acht Jahre lang auf ihrem Posten. Eine Alternative war nicht in Sicht.
Wir bekamen im Lokal den kleinen Tisch am Terrassenfenster. Draußen schwebten dicke Flocken herunter. Endlich. Zu Weihnachten hatten österliche Temperaturen geherrscht. Der Flügelhelm des Hermes draußen auf der Balustrade war weiß überwölbt, die nackte Brust der Venus ihm gegenüber war in ein flauschiges Oberteil gepackt.
„Es gäbe eine gegrillte Dorade für zwei Personen. Möchtest du?“
Linda nickte und nippte an ihrem Prosecco. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.
„Warum treffen wir uns schon heute? Hast du am Wochenende was anderes vor?“
„Ja. Ausnahmsweise. Ich fahre für ein paar Tage in den Schwarzwald.“
Linda nahm wieder einen Schluck. Sie stellte ihre Handtasche auf die Oberschenkel und kramte darin herum, ohne mich anzusehen.
„Alleine?“
„Ja.“
Linda hatte ein Papiertaschentuch gefunden. Sie knüllte es zusammen und betupfte ihre Nase. Nun lächelte sie mich an.
„Ich dachte, ihr müsstet bis Ende Januar euer Weihnachtsgeschäft abarbeiten.“
„Geht aber nicht anders. Ich besuche meinen Patenonkel. Er ist dort zur Kur. Im Schwarzwaldhof.“
„Wo ist das Hotel?“
„Am Titisee. Ein paar Kilometer weiter bin ich geboren und aufgewachsen.“
„Ist er ein Erbonkel?“
„Schön wär’s. Aber unser Verhältnis ist nicht zum Besten.“
Renato hatte einen Servierwagen an unseren Tisch gefahren und begann darauf die Dorade zu filetieren. Er beträufelte die Hälften mit Olivenöl und Zitrone und drapierte Spinat und Kartoffeln daneben.
„Bon appetito!“
„Musst du denn zu ihm?“
„Schon. Onkel Dietrich ist der Bruder meiner Mutter. Der Letzte aus meiner Verwandtschaft.“
„Und warum vertragt ihr euch nicht?“
„Er ist, gelinde gesagt: sehr eigenwillig.“
Linda runzelte die Stirn.
„Vor Jahren habe ich ihm ein Stövchen zum Geburtstag geschenkt. Weil er sich darüber beklagt hatte, dass sein Tee immer kalt wird. Ein Stövchen aus Edelstahl, sehr ansehnlich, dabei stabil und keineswegs billig. Ein gutes Stück. Dietrich packt aus und sagt nichts. Kein Danke, weder Muh noch Mäh. Stattdessen zieht er seine Lesebrille aus dem Etui und setzt sie bedächtig auf. Aus der Brusttasche holt er ein Metermaß - das hat er immer bei sich - und prüft den Abstand von Teelicht zu Abstellrost. Dann inspiziert er die Verarbeitung der Füße und der Teelichthalterung. Schließlich stellt er probehalber einen großen, wassergefüllten Krug darauf. Verstehst du: Geburtstag, du bist rundum auf Gutartigkeit geeicht, aber dabei gefriert dir das Glückwunschgesicht zum Sozialgrinsen.“
Renato brachte die bestellte Flasche Lugana und goss ein.
„So, dann seine Analyse: Das Teelicht ist zu nah an der Kanne. Die wird unten rußig und zu heiß. Außerdem ist das Ding lausig verarbeitet. Mit so einem Krug obendrauf wird das Stövchen hin und her gebeutelt wie ein Schiff in schwerem Wellengang. Dietrich gibt dem Krug einen Schubs, das ganze Ensemble fängt derart zu schaukeln an, dass er den Krug festhalten muss. Schließlich das Urteil: Ist gut gemeint, Heinrich, aber das Ding taugt nichts. Mit diesen Worten schiebt er das Stövchen in die Schachtel und gibt sie mir zurück.“
Linda guckte amüsiert.
„Muss er eben weiterhin kalten Tee trinken.“
„Und die Welt beklagen, die kein brauchbares Stövchen zustande bringt. Oder es selber machen. Hin und wieder drängt es ihn ja zu beweisen, dass vieles besser würde, wenn sich Leute seines Schlages darum kümmerten.“
„Was kommt dabei heraus?“
„Beispielsweise ein neuer Schrifttyp. Er findet keinen passenden für seine Korrespondenz und die gedruckten Unterlagen. Also entwirft er sich einen. Und der kursiert heute noch als Brodersen Optima.“
„Was macht er denn beruflich?“
„Designer. Inneneinrichtung und Möbel vor allem.“
„Erfolgreich?“
„Durchaus. Wenn du dich nach ihm erkundigst: Er genießt hohes Ansehen in der Branche. Lampen und Stühle von ihm werden als Klassiker gehandelt. Sie sind im Museum of Modern Art ausgestellt.“
„Muss meine Kollegin mal nach ihm fragen. Ist er noch aktiv?“
„Allerdings. Sogar als Fünfundsiebzigjähriger. Ruhestand ist ihm zuwider. Er möchte seine Kreativität nicht in einem öden Pensionistendasein vergeuden.“
„Kann man auch bei uns was von ihm angucken?“
„Die Zentralbibliothek und die Philharmonie beispielsweise. Diese Projekte waren ihm besonders wichtig. Ein gelungenes Einzelstück ist noch kein Stil, sagt er. Stil erweist sich erst, wenn man Räume durchkomponiert. Deshalb hat er gern solche großen Veranstaltungsorte geplant.“
„Den ganzen Komplex?“
„Nein, nur den Innenbereich. Aber das reicht von der Wandfarbe über die Sitzpolsterung bis zu den Hinweisschildern. Zu Beginn eines solchen Auftrags malt Dietrich Bilder. Farbverläufe, sehr abstrakt. Sein Prinzip ist, zunächst den Raumeindruck wiederzugeben, den er erzielen will. Diese Form- und Farbstudien sind wie Landschaftsgemälde, harmonische Impressionen, die du dir ins Wohnzimmer hängen könntest. Von diesen Gemälden geht er aus und überführt seine Ideen nach und nach in technische Konstruktionszeichnungen. Jedes hingepinselte Element muss sich irgendwann durch DIN-Schrauben mit anderen verbinden lassen.“
„Ehrlich gesagt: Ich glaube, dein Onkel ist ein interessanter Mensch. Vielleicht musst du ihm seine Unhöflichkeiten nachsehen. Vielleicht meint er das gar nicht so.“
Einige Ecken und Kanten ließen sich ja verschmerzen. Aber Dietrich meint genau das, was er sagt. Ich erinnere mich gut an folgende Begebenheit: Er unternahm gern ausgedehnte Spaziergänge. Früher mal führte einer seiner Lieblingswege zum Stadtrand und von dort in den Wald hinein. Damals stand am Ende der Straße noch ein bäuerliches Anwesen. Im Lauf der Jahre war es von luxuriösen Einfamilienhäusern mit geschwungenem Dach und Doppelgarage umbaut worden. Den Besitzern, einem alten Ehepaar, stattete Dietrich bisweilen einen Besuch ab. Durchhalten, sagte er, sie seien eine Insel inmitten dieser neureichen Scheußlichkeiten. Als die Frau starb und ihr Mann nicht mehr in der Lage war, für sich selbst zu sorgen, brachte ihn sein Sohn ins Altersheim. Das Haus übernahm er selbst und begann, es umzubauen. Er ließ das Dach anheben, um ein Obergeschoss zu gewinnen, und gestaltete die Fassade neu. An der Seite wurden große Durchbrüche herausgeschlagen, um Fenster und einen weitläufigen Glaserker anbringen zu können.
Ich sehe Dietrich noch vor mir, wie er den Umbau mitverfolgte und ihm die Galle hochkam. Sublimation ist seine Sache nicht. Also klingelte er. Der neue Besitzer empfing den Bekannten seiner Eltern freundlich. Dietrich redete nicht lange um den heißen Brei herum. Mit seinem Spazierstock klopfte er auf die Fensterrahmen aus Kunststoff und die Fertigteile des neuen Balkons, die einbaubereit im Garten standen. Ein Haus wie aus dem Quelle-Katalog werde das, es sei eine Sünde wider die altehrwürdige Bausubstanz. Natürlich wurde der Ton frostig. Der Sohn sagte, das gehe ihn gar nichts an, er maße sich ein Urteil an, das ihm nicht zustehe. Dietrich war das egal, schließlich fühlte er sich im Recht. Er fasste seinen Spazierstock beidhändig, als wollte er den anderen abstechen. Form und Proportion des Umbaus passten genau so wenig wie das Material zum bäuerlichen Charakter dieses Anwesens. Der Anbau sei eine Beleidigung für das Auge. Es sei, als würde man einer Kuh einen Taucherhelm aufsetzen.
Dietrich wurde aus dem Haus gewiesen. Noch im Gehen forderte er den Sohn auf, diesen Anbau umgehend rückgängig zu machen. Seinethalben mit Sprengstoff oder sonst wie. Hauptsache, er verschwinde.
Später stand in einem Polizeiprotokoll, Dietrich habe gedroht, den Erker abzusprengen. Der eingeschüchterte Besitzer war zum nächsten Revier gegangen, um sich und sein Haus zu schützen. Typischerweise nimmt Dietrich so etwas nie zurück. Um die Sache auszuräumen, teilte er über seinen Anwalt mit, er werde nie wieder einen Spaziergang in diese Gegend unternehmen.
In Geschmacksfragen lässt er nicht mit sich reden, schließlich wähnt er die Wahrheit auf seiner Seite. Er hält sich für befugt, pädagogisch zu wirken. Deshalb bekomme ich eine fixe Idee nie ganz aus dem Kopf:...
Erscheint lt. Verlag | 23.9.2024 |
---|---|
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Glück • Glückssuche • Hotel • Schwarzwald • Selbstfindung • Wellness |
ISBN-10 | 3-96054-360-3 / 3960543603 |
ISBN-13 | 978-3-96054-360-2 / 9783960543602 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 648 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich