Patrice Lumumba (eBook)
135 Seiten
Papyrossa Verlag
978-3-89438-905-5 (ISBN)
Gerd Schumann, *1951, lebt und arbeitet als Autor in Berlin und in Mecklenburg. Reportagen und Hintergründe vom afrikanischen Kontinent, aus der Karibik, vom Balkan. Zahlreiche Buchpublikationen.
Gerd Schumann, *1951, lebt und arbeitet als Autor in Berlin und in Mecklenburg. Reportagen und Hintergründe vom afrikanischen Kontinent, aus der Karibik, vom Balkan. Zahlreiche Buchpublikationen.
Vorwort
Lumumba – presente!
Das Geschichtsbild eines Landes spiegelt sich immer auch in dessen Kultur. Als Kinder in der norddeutschen Tiefebene sangen wir Anfang der 1960er Jahre den beliebten, als ziemlich verrucht geltenden Schlager »Kriminaltango«, zu dem die Unterwelt nachts in der Taverne zu tanzen pflegte, in einer verballhornten Version. Aus der Musikbox der Kneipe um die Ecke schallte das Original des Hazy Osterwald Quintetts, einer Kapelle aus der Schweiz, wir übertönten unbedarft den Originaltext im Zeitgeistjargon: »Und sie tanzen eine Rumba / Kasavubu und Lumumba / Und die UNO kann nichts finden / Was daran verdächtig wär’.« Ob wir ahnten, was an Ideologie in unseren Worten steckte? Ich glaube nicht.
Auch nicht, warum ein lange Jahre gerne verzehrtes Modegetränk tatsächlich »Lumumba« heißt, ein Cocktail gemixt aus Kakao und Rum mit einer Haube aus Schlagsahne und Schokoraspeln. Im Netz fragen Spirituosen-Spezialisten auch in den 2020er Jahren noch verwundert, wie das sonderbar süße, klebrige, aber wirkungsstarke Gesöff zu diesem Namen gekommen war: »Warum nun ausgerechnet ein Rum-Kakao-Drink nach dem Politiker benannt wurde, liegt bis heute im Dunkeln.« Wie der ganze Kontinent hundert Jahre hindurch im Dunkeln lag, galt Lumumbas Kongo vielen als »Herz der Finsternis«, bewohnt von »Negern« aus »dem Busch«.
Das Afrikabild hierzulande war immer noch durch die Völkerschauen Hagenbecks, die Kolonialausstellung in Berlin-Treptow 1896 nebst weltanschaulicher Folgenutzung in Erziehung und Wissenschaft geprägt: 106 nichteuropäische Menschen werden fünfeinhalb Monate öffentlich vorgeführt, und die Bevölkerung glotzt wie im Zoo. Wieder zu Haus, in den eigenen vier Wänden, tummeln sich in den Köpfen dann »Wilde« und wilde Tiere, und der gütige weiße Mann bringt hoch zu Ross mit Tropenhelm und in weißer Uniform die europäische »Zivilisation« in Strohhüttendörfer.
Meine fröhlichen, unbeschwerten Kindertage, gebildet aus Naivität und Vorurteilen, gingen dann irgendwann zu Ende. Die Völker da unten im Süden wollten nicht mehr so wie ihre weiße Herrschaft es für sie vorgesehen hatte, das Imperium schlug in Vietnam zu, wir folgten den Märchen von der Zivilisierung nicht mehr so richtig und erfuhren die Wahrheit über vergangenes Verdrängtes. Da war der von uns so ahnungslos besungene Patrice Lumumba längst tot, der erste frei gewählte Premier Kongos ermordet, sein Körper zerstückelt und in einem Säurefass aufgelöst, und die verspotteten Kasavubu nebst der UNO waren nicht ganz unbeteiligt gewesen an der Tat, wie wir dann nach und nach bis zur Jahrtausendwende erfuhren. Der verantwortliche belgische Kolonialoffizier hatte sich Goldzähne aus dem Mund des Toten als Souvenir gebrochen und Finger abgeschnitten, die Lumumbas Nachfahren bei einer feierlichen Zeremonie in Belgien erst 2022 »zurückgegeben wurden«, wie 60 Jahre danach verlautete, als sei die Horrortat ein, vielleicht durchaus schändliches, aber doch ein Kavaliersdelikt gewesen.
Auch ein Teil der nach Deutschland verbrachten kolonialen Raubkunst und der einst in Deutsch-Ostafrika oder Deutsch-Südwest abgeschlagenen Köpfe werden heutzutage gnädig den Ururenkeln der Ermordeten zurückgegeben, streng wissenschaftlich begutachtet nach biologisch-ethnischer Art. Hier und da verschwindet sogar ein kolonialer Straßenname oder ein Sklavenhalterdenkmal. Doch der latente Rassismus im globalen Norden bleibt unangetastet und wird weiterhin als Staatsdoktrin gepflegt. Wer die Mittelmeerpassage aus Nordafrika überlebt, kann davon berichten, wenn er im Abschiebeknast hinter Gittern sitzt, um danach wieder auf seinem von den Erben des Kolonialismus ökologisch und ökonomisch dauermisshandelten Kontinent den alltäglichen Kampf um die Existenz zu überstehen. Black lives matter?
Ein immer noch geschichtsvergessener, gedankenloser Zeitgeist aus Oberflächlichkeit und Ignoranz hat die alten Klischees ersetzt, über historische Schuld oder gar heutige Fluchtursachen wird selten geredet. Und die Ausplünderung hält unverändert an, nur dass die Gier nach begehrten Bodenschätzen nicht mehr »Kolonialismus« genannt wird und die Folgen der alten und neuen Kolonialpolitik vollständig ignoriert werden. Die Sklaven von heute sind in der neuen Zeit überflüssig und dürfen ertrinken.
Der an Ressourcen reiche Kongo steht auf dem Weltarmutsindex im letzten Zwanzigstel, 70 Prozent der Bevölkerung verfügen heute über weniger als 2,15 Dollar täglich, verelenden wie einst ihre Vorfahren im »Freistaat Kongo« des belgischen Königs Léopold II., dessen Taten in den Geschichtsbüchern des Nordens so wenig eine Rolle spielen wie die deutschen Völkermorde auf dem schwarzen Kontinent.
Als 1960 Premier Lumumba antrat, befanden sich nicht nur der Kongo (ab 30. Juni 1960: Demokratische Republik Kongo; 1971-1997: Republik Zaire), sondern weite Teile Afrikas im Aufbruch zu einem alternativen Leben, standen an der Schwelle zu einer Art tatsächlicher »Stunde null« nach dem Kolonialismus, und die entscheidende Frage lautete, wie diese gestaltet werden würde. Das koloniale System glich einer »veralteten Maschine«, so Jean-Paul Sartre, »die so starr ist, dass sie zermalmen oder zerbrechen muss«. Es gehörte abgeschafft. Auf Lumumba bezogen konkretisierte der französische Philosoph seine Beschreibung der historischen Situation: »Wäre er länger an der Macht geblieben, so hätten ihn die Menschen und die Umstände vor die Entscheidung gestellt: Neokolonialismus oder afrikanischer Sozialismus.« Für Sartre stand fest: »Kein Zweifel, wofür er sich entschieden hätte.«1
1960 gilt bis heute als »Afrikanisches Jahr«. 17 Kolonien seien zwischen dem 1. Januar (Kamerun) und dem 28. November (Mauretanien) »unabhängig« geworden, heißt es, darunter das in jeder Beziehung gewichtige Land am Kongo-Strom, die ehemaligen französischen Besitzungen südlich der Sahara und mit Nigeria auch die bevölkerungsreichste britische Kolonie. Angetreten, es nach 80 Jahren Ausplünderung durch Belgien in ein neues Zeitalter einer tatsächlichen Unabhängigkeit zu führen, also einer, die dem Anspruch des Begriffs auch genügt, scheint Patrice Lumumba heute weitgehend vergessen zu sein. Eine der großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte – wie verdrängt aus dem Geschichtsgedächtnis im Norden.
Literatur zum Thema ist wenig erschienen, deutschsprachig erst recht nicht – außer in der DDR beispielsweise mit Kurt Rückmanns »Schlagzeile Mord« oder Heinrich Loths »Propheten – Partisanen – Präsidenten«. Aber das war früher. Wie auch die herausragende Analyse »Das politische Denken Patrice Lumumbas« von Jean-Paul Sartre, die immer noch Maßstäbe für eine Einordnung und Bewertung des Freiheitskämpfers auf nationaler Ebene und im internationalen Kräftespiel Maßstäbe setzt und sich zudem kritisch auch mit Lumumbas Politik der Gewaltlosigkeit beschäftigt. Für Sartre repräsentieren der Kongolese und Frantz Fanon »das ganze Afrika«.
Erhellend in jeder Beziehung auch die beiden Filmprojekte des Haitianers Raoul Peck (»Lumumba – Tod eines Propheten«, Dokumentarfilm von 1991, »Lumumba«, Spielfilm von 2000) sowie Éric Vuillards historischer Essay »Kongo« zur Berliner Konferenz. Aufschlussreich zudem David van Reybroucks Augenzeugenrecherche »Kongo« und die Reportagen von Peter Scholl-Latour, der Lumumba mehrfach interviewte. Schließlich ist da noch alles, was aus Lumumbas Feder selbst stammt – neben Reden und Briefen sein Werk »Congo. My Country« von 1956, in dem eine erste kritische Bestandsaufnahme der kolonialen Strukturen geleistet wird.
Als Grund für den unterbelichteten Umgang mit Lumumba wird häufig genannt, er habe ja nur einige Monate lang regiert und nicht prägend gewirkt. Konsequent ausgeblendet bleibt bei dieser arg kurz greifenden Argumentation Lumumbas zentrales Anliegen: Wie wohl kein anderer verkörpert seine Person die Übergangsphase aus der alten Kolonialzeit heraus in eine neue Epoche einer angestrebten Selbstbestimmung der Völker. Dass der imperialistische Norden zu deren Verhinderung seine ganze Repressionsklaviatur spielte und dabei nicht vor offenem Separatismus, Mord und Totschlag zurückschreckte, liegt in seinem Wesen. Die in diesem Buch skizzierte Biografie Lumumbas verdeutlicht das. Dass sie Rückschlüsse für heute herausfordert, macht sie wertvoll.
Erzählt wird sie hier als Rekonstruktion eines gescheiterten Epochenwechsels auch deswegen, weil Lumumbas Biografie Teil einer nicht beendeten Geschichte ist. Die Wahrheit über ihn zu verbreiten, stellt sich die hier vorgelegte...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2024 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Afrika • Antikolonialismus • Aufstand • Ausbeutung • Basiswissen • Befreiung • Belgien • Biografie • CIA • Geheimdienst • Kalter Krieg • Kolonialismus • Kongo • Nationale Befreiung • Neokolonialismus • Panafrikanismus • Revolution • Rohstoffe • Zentralafrika |
ISBN-10 | 3-89438-905-2 / 3894389052 |
ISBN-13 | 978-3-89438-905-5 / 9783894389055 |
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Größe: 742 KB
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